Jahr: 2015

Alma Mahler-Werfel von Susanne Rode-Breymann

Das Interesse an Alma Mahler-Werfel ist ungebrochen und ihre vielfältige, fraglos schillernde Persönlichkeit noch nicht bis ins Letzte ausgeleuchtet. An der Ergründung ihres Lebens versucht sich nun auch Susanne Rode-Breymann, die Leiterin des Forschungszentrums für Musik und Gender.

9783406669620_largeBereits in der Einleitung gibt die Autorin zu bedenken, dass das vorherschende Bild von Alma Mahler-Werfel von deren eigener Selbstdarstellung gesprägt ist und bisherige Biographik arg an diesem orientiert. (Dabei verkennt sie aber bereits die kritische Distanz, die beispielsweise Oliver Hilmes in seinem Buch zu den Notaten Almas einnimmt.) Sie stützt sich vornehmlich auf „neue Forschungsergebnisse“ und die Auswertung der Briefwechsel Alma mit Alban und Helene Berg, sowie den mit Arnold Schönberg. Im Vordergrund soll nun erstmalig auch das eigene künstlerische, besonders musikalische, Potenzial und Schaffen der als Alma Schindler geborenen Frau stehen und dies könnte tatsächlich einen neuen Blick auf deren Leben bieten.

Zweifellos war Alma Mahler-Werfel eine vielfältig begabte junge Frau. Ihre frühe eigene musikalisch-schöpferische Arbeit, die alsbald von ihrem ersten Mann Gustav Mahler unterdrückt wurde, oder auch das große Interesse für Literatur, Theater und Oper weit über den Zweck der Unterhaltung hinaus. Dies alles behandelt und analysiert Rode-Breymann eingehend und fundiert. Die Listen der Lektüre Almas und ihrer Opernbesuche regen dann aber gleich dreimal auf den ersten hundert Seiten zum Überblättern an, hätten dagegen gut in einen Appendix gepasst, der leider auch eine Übersicht zu Almas eigenen Arbeiten vermissen lässt. Die Auseinandersetzung mit dem frühen Schaffen der Muse gelingt gut und zeigt deutlich welches Potenzial Gustav Mahler erstickte. Warum dann aber z.B. die Frage, ob Alma hysterische Anfälle hatte, mit einem kratzbürstigem Furor und nicht sachlich abgehandelt wird, muss Geheimnis der Autorin bleiben.

Eine kreative Ekstase bei Frauen? Nein. Bei ihnen gibt es, so sind immer noch viele (Männer) überzeugt, nur das hysterisch Übersteigerte. Das Bild der wahnhaften, hysterischen Frau, deren in solcher Verfassung komponierte Lieder nicht der Rede wert sind, ganz im Gegensatz zu dem Bild des genialen Romantikers, dessen Lieder uns höchsten Respekt abnötigen …

Solche Ausbrüche, und sie kommen mehrmals vor, deuten in meinen Augen auf mangelnden wissenschaftlichen Ernst und fehlendes gutes Benehmen den Kollegen gegenüber hin, die Botschaft dieser Zeilen sind sicherlich auch sachlich vorzubringen. Schon früh entsteht dazu eine Unwucht in der Biographie: Neben ausufernden Kollegenschelten, die eine Fehlgeburt für die schlechte Stimmung Almas während eines New York Aufenthalts übersehen haben (was als Hinweis richtig ist), wird diese selbst gleichsam in einem Nebensatz abgetan. Der Tod der Tochter wird auf einer halben Seite durchgehechelt die diversen Ausstattungen und Bühnenbilder von Opern im Anschluss dagegen auf zwei. Zuweilen scheint es als tauchten Kinder auf, deren Erscheinen doch zumindest eine Zeugung und 9-monatige Schwangerschaft vorausgehen müsste. Die tatsächlich, vor allem von Seiten Kokoschkas, wahnhafte Liebe mit dem jungen Maler, insbesondere dessen daraus resultierendes Werk ist zu knapp behandelt. Die „Windbraut“ wird genannt, der Bezug zu Alma dagegen nicht wirklich klar. Die besonders enge Beziehung zur Familie Berg wird ausufernd beschrieben, die Geste Bergs sein Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“, nämlich der verstorbenen Tochter Almas Manon Gropius zu widmen, taucht nur am Rande und viel später auf. Der Verkauf von Handschriften Bruckners wird angesprochen, hier gab es sogar Verhandlungen mit höchsten Vertreten des Dritten Reichs, dass Bruckner aber Mahlers Lehrer war, wird nie erwähnt, ein Bezug fehlt so völlig. Der starke Antisemitismus Almas trotz des Judentums von Mahler und Werfel wird ebenfalls eher verschwiegen als ernsthaft besprochen, die dramatische Flucht in die USA über die Pyrenäen zusammen mit Heinrich und Golo Mann, mit Franz Werfel in desolatem Gesundheitszustand und einer stets betrunkenen Nelly Mann, die wohl nur aufgrund der Tapferkeit und des Willen Almas gelingen konnte, eine Randnotiz.

Sollte also tatsächlich nur das eigene Werk Alma Mahler-Werfels erörtert werden, hätte aus musikalischer Sicht bei Beginn der ersten Ehe das Buch beendet sein müssen. Die eigene schriftstellerische Arbeit folgte erst sehr viel später, auf diese eigene, nicht nur verwalterische, Arbeit wird aber nur sehr knapp eingegangen. Die Schwerpunktsetzung der gesamten Biographie ist misslungen.

Damit scheitert auch das Vorhaben Rode-Breymanns Alma aus der Ecke der zwar als Femme fatale bekannten Inspiration großer Künstler herauszurücken. Sie selbst untertitelt ihre Buch ja dann doch wieder mit Muse – Gattin – Witwe und stellt so den singulären Bezug auf die großen Männer her. Die mangelnde Schwerpunktsetzung wird auch in der Chronologie deutlich: auf Seite 180 von 300 ist Mahler immer noch nicht tot, Alma gerade erstmal Anfang dreizig, auf den letzten 50 Seiten hat Alma noch Jahrzehnte zu leben. Der Leser hängt in der Luft, was wollte Rode-Breymann? Eine Studie über die junge Alma und ihre Leistungen? Das Leben Almas bis zu ihrer Ehe mit Franz Werfel? Denn danach rauscht das gesamte Buch wie ein Sturzbach in sein kurzes Ende.

Eine weitere solide Biographie ist nicht zwingend unbrauchbar, aber Neues kann die Autorin dem Alma Bild nur bedingt hinzufügen. Die Bearbeitung von Rode-Breymann ist außerdem für Einsteiger ohne Vorwissen nicht geeignet. Hier eignet sich die Biographie Witwe im Wahn von Oliver Hilmes besser, die ein umfassendes Bild von Personen und Zeit liefert.

Punktum Verlag und Fuckfisch von Juliette Favre

Deutschland hat eigentlich genug Verlage, so dass es nicht auch noch der kürzlichen Gründung des Hamburger Punktum Verlags bedurft hätte. Warum dies aber doch ein lohnenswertes Unterfangen für die Kulturlandschaft darstellen kann, zeigt Fuckfisch von Juliette Favre eine der ersten Veröffentlichungen von Punktum.

Das Genre des Jugendbuchs ist grundsätzlich für mich eher uninteressant. Meine Neugier an von älteren Menschen ausgedachten Geschichten über die zahllosen vermeintlichen Abziehbildprobleme der Heranwachsenden hält sich in Grenzen. Es gibt die Schnulzen (Liebe auf der Klassenfahrt) und die Zeigefinger-Bücher (Drogen, Magersucht, der neue heiße Shit: Cybermobbing) nur kein Spektrum dazwischen, Interpretationen sind nicht nötig, hat man sich bis zum Ende durch berieseln lassen. Eine Ausnahme mache ich ausnahmsweise bei Fuckfisch, denn Juliette Favre war beim Schreiben erst 14 Jahre alt und vielleicht habe ich es also mit einer Primärquelle mit Spektrum zu tun.

Rabiat beginnt die junge Dame und bereits vorweg darf angemerkt werden, dass sie dieses Provokationslevel nicht zu halten vermag.

Die Zeit der Babymuschis und Stringtangas ist angebrochen. Ich bin vierzehneinhalb Jahre alt, ich hatte schon viele Male Sex, und ich bin nicht bereit, meinen Freund aufzugeben. Meine Mumu ist so glatt rasiert wie der Schädel meines Onkels, und in meiner Arschritze ist pinke Spitze, die ich für sieben Euro bei H&M gekauft habe (natürlich von Kindern aus China fabriziert).

Beliebigkeiten aus dem Sexleben eines frühreifen Teenies könnten nun folgen, doch Juliette Favre bekommt schnell die Kurve und verarbeitet in einem zwischen arrogant und einsichtig, aggressiv-aufmüpfig und resignierend changierenden Ton das vermeintliche Elend ihres Daseins: Streit in der Klasse, Alkoholexzesse und der neue Freund der Mutter, der Verlust des Exfreunds und die Gier der Jungs nach Sex und allem was damit zu tun hat. Der Vortrag als Ich-Erzählerin Victoria gibt der Geschichte den authentischen Zug den man erwartet, der aber trotzdem nicht vorhersehbar wird.

Letztens habe ich wieder mal so ein Mädchenbuch gelesen, das von einem durchschnittlichen fünfzehnjährigen Mädchen handelte. Und es hat mich total aufgeregt, weil alles, was da drin stand, totale Lügenscheiße war.

Fuckfisch ist kein Standardbuch für Teenies, sondern eines das, mit den zwar vorhersehbaren Schwächen einer derart jungen Autorin, eine sehr eigene Stimme hat. Ich würde nicht scheuen Fuckfisch an Heranwachsende ab 12 zu verschenken, zum Verderben reicht das nicht. Die überspitzte Darstellung dürfte so im Kopf eines Jeden in dem Alter bereits gespukt haben.

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Hätte einer der großen Verlage dieses Buch „gemacht“, wäre sicher versucht worden es zu einem Skandalroman der Jugend aufzublasen, was es weder ist noch sein möchte. Die verhältnismäßige Stille um Fuckfisch bei einem kleinen, dazu sehr jungen Verlag bietet Juliette Favre hoffentlich den Raum für weitere Entwicklung, denn dass hier eine junge starke Stimme mit Talent heranwächst wird an vielen Stellen deutlich.

Lob für die Fadenheftung und die Idee alle Bände in diese zurückhaltende optische Reihe zu fassen, doch auch leichter Tadel für das etwas zu weiße Papier, das aufgrund der Haptik keine Begeisterungsstürme bei mir hervorruft. Das Format der Bände dagegen sehr gelungen und angenehm zu lesen, würde das Buch nicht zum Zuschnappen neigen, ungewohnt bei einem Hardcover.

Man kann den beiden Köpfen des Punktum Verlags, Gabi Schnauder und Patricia Paweletz, nur viel Erfolg wünschen, wir brauchen doch die Kleinen – und immer schön indie bleiben.

Mit einer Idee und einem Arbeitstitel

Es heißt immer Debatte – Wolfram Schütte hat auf Perlentaucher eine Idee vorgestellt, die nicht diskutiert, sondern umgesetzt werden sollte: eine digitale „Zeitung für Literatur & literarisches Leben„; Arbeitstitel Fahrenheit 451.

Probleme des Print

Es gibt bereits sehr viele und vielfältige Informationen über Literatur im Netz. Neben den Online-Auftritten der großen Tages- und Wochenzeitungen, die alle eine Rubrik Kultur, Literatur, Feuilleton führen, haben sich in den letzten Jahren Einzelkämpfer und kleine Gruppen mit eigenen Magazinen und Blogs hervorgetan, die inzwischen eine nicht nur selbst hochgeschriebene, sondern tatsächliche Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, bei Lesern und Verlagen erfahren. Während die Bandbreite des Feuilletons stetig sinkt, nur noch die Spitzentitel der großen Verlage besprochen werden, findet hier eine Gesamtschau des literarischen Lebens statt. Kleine Verlage, vergessene Klassiker, Lyrik, Graphic Novels, solche Themen, die für den gemeinen FAZ-Leser angeblich zu uninteressant sind oder nur in geringsten Dosen vermittelbar, finden hier ein Forum und werden freudig angenommen.

Dem Journalisten an sich kann man dabei keinen Vorwurf machen, er muss massentauglich sein, das ZEIT-Feuilleton kann nicht jede Woche einen Artikel über Arno Schmidt bringen, weil eben zu speziell, insgesamt zu wenige Leser, nur die paar Enthusiasten. Das Problem ist aber, dass insgesamt die Zahl der Beiträge zu und um Literatur leider immer weiter abnimmt, nicht nur die über Außenseiterthemen. Neben den angesprochenen Spitzentiteln wird eine etwas breitere Bandbreite nur noch zweimal im Jahr, nämlich zu den großen Messen, geliefert, auch hier Tendenz fallend. Dass die Zahl der Leser oder verkauften Bücher dagegen eklatant sänke, liest man nirgendwo, im Gegenteil. In den Chor des Sterbens des Print möchte ich nicht einstimmen, aber der Erfolg von Unternehmen wie Blendle zeigt, dass ein Umdenken nötig ist.

Probleme der Blogs

Besetzt man eine Redaktion, egal ob Blog, Magazin oder Zeitung, allerdings nur mit einem oder wenigen Spezialisten führt dies zwangsläufig in eine Einbahnstraße, die der des klassischen Feuilletons gleicht, nur noch viel enger zuläuft. Dazu kommt das Problem des Hobby- und/oder Gelegenheitsschreibers einen Kanal als Einzelner regelmäßig zu bespielen. So hatte ich in diesem Jahr häufig nur die Möglichkeit Monatsüberblicke statt langer Rezensionen zu schreiben, andere schaffen immerhin zwei, drei Artikel die Woche. Doch selbst diese Ausdauer führt nicht zwangsläufig dazu, dass, selbst bei geneigten Lesern, die Seite in den Lesezeichen abgelegt und jeden Morgen auf der Suche nach Aktualisierungen aufrufen wird. Warum auch, die Informationen kommen ja unregelmäßig. Die Follower müssen vielmehr über Feedabonnements, Twitter oder Facebook immer wieder auf die Seite gelockt werden. Die wenigstens Blogs dürften daher als einzige Informationsquelle für Interessierte dienen, denn wer liefert den Überblick, eine Plattform reichte hier (bisher) nicht.

Best of both worlds

Würde man aber die Stärken der beiden Medien, des klassischen (Zeitungs-)Journalismus und dieses diffusen Internetphänomens, bündeln, könnte daraus etwas mit sehr viel Mehrwert werden. Das Zusammenführen von einer festen Redaktion, mit Leitungs- und Sortierfunktion, mit dem Überblick wer, wann, was veröffentlicht, die dafür sorgt, dass regelmäßig hochwertige Inhalte angeboten werden und solchen Leuten, die hochgradig auf einzelne Themenfelder spezialisiert sind, weil sie eben (noch) nicht in den Mühlen des Mainstreamjournalismus zermahlen wurden, vielleicht auch nur weil sie nicht davon leben müssen. Dazu könnten noch Beiträge aus Verlagen kommen, die nicht zwangsläufig werbend sein müssen, wie bereits Plattformen wie das Logbuch von Suhrkamp oder 114 von S. Fischer zeigen, eine Perspektive, die in der Presse bisher viel zu wenig beachtet wird. Beiträge aus dem Maschinenraum der Literatur mischen sich mit denen von Berufskritikern, Autoren und Bloggern, alles überwacht von einem Gremium fähiger Redakteure. Dazu könnten Features zu Themenschwerpunkten kommen, wofür in Zeitungen kein Platz ist, Interviews nicht nur gedruckt, sondern zum Sehen und Hören, Buchtrailer, die Rezensionen begleiten, Interaktion mit den Nutzern und Lesern – alles ist möglich!

Literarische Krautreporter?

Es gibt bereits ein ambitioniertes Webmagazin-Projekt, das mit einem überaus soliden finanziellen Fundament eine gefühlte Bauchlandung hingelegt hat. Mangelnde journalistische Eigenleistung wird bemängelt, schlichte Linksammlungen und das Recycling von alten Beiträgen, dazu die Überpräsenz Tilo Jungs, vor allem aber der fehlende rote Faden. Stefan Niggemeier schrieb zu seinem Ausstieg bei Krautreporter:

Uns trieb die Lust an, ein neues Geschäftsmodell auszuprobieren, aber nicht unbedingt eine gemeinsame redaktionelle Idee. […] Es fehlte etwas, das diese Geschichten verbindet — für uns Autoren und für die Leser vermutlich auch. […]

In den vergangenen Wochen hat sich dann stärker herausgestellt, was ein anderer „Krautreporter“-Ansatz sein könnte: Weniger getragen von den unterschiedlichen (Spezial-)Interessen der einzelnen Autoren, mehr bestimmt durch Themenschwerpunkte, die aus einer festen Redaktion entwickelt und produziert werden.

Die anfängliche Größe von KR anzustreben ist utopisch und braucht gar nicht das Ziel von zu sein. Doch spricht nichts dagegen aus deren Fehlern zu lernen und erfolgreiche Grundlagen des Projekts zu übernehmen. So dürfte Fahrenheit 451, wie Schütte im Ausgangsbeitrag selbst anklingen lässt, keine Veranstaltung von vielen Individualisten sein, sondern muss einer unabhängigen (!) Redaktion untergeordnet sein, die lenkt und sortiert, die Vorschläge für Neues macht und delegiert. Anders als die Krautreporter braucht man ein Profil und das bietet allein schon der eingegrenzte Themenkreis.

Vieles ist noch unsicher, die Debatte, die hoffentlich nicht allzu schnell zu einer leidigen wird, erst am Anfang: wo soll das Geld herkommen, wer soll mitmachen, Verlage integrieren, den Buchhandel, ja oder nein? Doch mit der Idee und einem Arbeitstitel lässt sich starten und wie schön wäre es, wenn ein großes unabhängiges Magazin für Literatur am Ende entstünde, zu wünschen wäre es der Medienlandschaft und – vor allem – den Lesern!

Dieser Artikel ist zuerst bei Perlentaucher erschienen.

Schleichwerbung in Blogs oder die Notwendigkeit Rezensionsexemplare zu kennzeichnen

Bitte beachten, dass ein aktualisierter Beitrag online ist.

Stand: 23.10.2017

Es ist nicht neu und war eine absehbare Entwicklung, dass nach den Tech-, Beauty- und Reisebloggern nun auch Literatur- und Buchblogger für Unternehmen als Werbeplattform und Influencer in den Fokus rücken. Neben der persönlichen Frage nach der Käuflichkeit, die ja nach Gusto entschieden werden darf, gibt es für Werbung im Internet rechtliche Regeln, an die sich jeder halten muss.

Schon mehrmals schwappte die Frage, ob denn angegeben werden müsse, dass das rezensierte Buch vom Verlag gestellt wurde, durch meinen Newsfeed. Die Verfechter der Angabe loben die (eigene) Transparenz, die dadurch gesteigerte Glaubwürdigkeit und das gute Gefühl ein rechtschaffender Mensch zu sein. Die Gegner beharren meist auf dem einfachen Argument, solange in der handelsüblichen Presse so etwas anscheinend nicht notwendig sei, brauche auch ein Blogger sich nicht daran zu halten. Was ist aber rechtlich richtig?

Die Rechtslage

Der Leser eines Blogs erwartet eine objektiv-kritische Berichterstattung, die nicht durch eigene monetäre Interessen des Autors beeinflusst wird. Daher führt Werbung im Gewand eines redaktionellen Beitrags zur Irreführung des Lesers, weil der werbende Charakter hierdurch verschleiert wird. Die kurze Lektüre des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb macht schlauer: Unlauter handelt nach [Update] § 5a Abs. 6 UWG § 4 Nr. 3 UWG, wer den Werbecharakter von geschäftlichen Handlungen verschleiert.

(6) […] wer den kommerziellen Zweck einer geschäftlichen Handlung nicht kenntlich macht, sofern sich dieser nicht unmittelbar aus den Umständen ergibt, und das Nichtkenntlichmachen geeignet ist, den Verbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.

Der Leser soll, so will es der Gesetzgeber, in die Lage versetzt werden Werbung als solche zu erkennen. Er soll durch einen Hinweis darauf aufmerksam gemacht werden, dass der Blogger/die Bloggerin eben nicht objektiv anhand der eigenen Bewertungsmaßstäbe rezensiert hat, sondern vielmehr diese Maßstäbe durch eine Geld- oder Sachleistung beeinflusst wurden. Dies kann sowohl den Anlass der Rezension als auch deren Ergebnis betreffen. Der Jurist nennt dies das „Ob“ und „Wie“, also ob überhaupt rezensiert wird und wie (wohlwollend) rezensiert wird. Hieraus folgt das Trennungsgebot: der redaktionelle Inhalt des Blogs und Werbung müssen voneinander getrennt werden.

Die Rechtslage in Bezug auf Werbung sowohl im Print- als auch im Online-Bereich ist insoweit eindeutig. Werbung ist als solche kenntlich zu machen und wer dies nicht tut, handelt rechtswidrig.

Dies gebieten auch die Landespressegesetze: Hat der Verleger eines periodischen Druckwerks für eine Veröffentlichung ein Entgelt erhalten, gefordert oder sich versprechen lassen, so hat er diese Veröffentlichung deutlich mit dem Wort „Anzeige“ zu bezeichnen, soweit sie nicht schon durch Anordnung und Gestaltung allgemein als Anzeige zu erkennen ist, so z.B. § 10 LPressGHam. Gleichlautende Regeln stellen auch der §§ 7 III, 58 I RStV (Rundfunkstaatsvertrag) oder § 6 I Nr. 1 TMG (Telemediengesetz) auf.

Kurz: habe ich für einen Beitrag ein Entgelt erhalten, gefordert oder mir versprechen lassen, muss ich „Anzeige“ über diesen schreiben!

Was ist eine Gegenleistung?

Dieser Grundsatz dürfte den meisten bereits so oder so ähnlich gewahr gewesen sein. Die große Frage bleibt aber was genau in diesem Fall ein Entgelt ist? Die Kommentare zum UWG helfen hier nur bedingt weiter, indem sie davon sprechen, dass ein Entgelt nicht nur die Zahlung eines Geldbetrags als Gegenleistung für den Beitrag ist, sondern im Gegenzug für die Werbung auch Anzeigenaufträge oder Produktüberlassungen.

Aber man möchte doch Grenzen genannt bekommen, also z.B. ein Taschenbuch ist erlaubt, ein Hardcover über 20 Euro nicht. So einfach macht einem das Leben aber kein Jurist. So werden zum Teil zwar Obergrenzen genannt, diese bewegen sich aber in einer Sphäre, in die kein Literaturblogger bisher vorgedrungen ist, hier geht es um Reisen, Autotestfahrten und ähnliches im Wert ab 1.000 €. Den Verlag möchte ich sehen, der einen bibliophilen Prachtband dieses Werts zur Besprechung verschickt oder tatsächlich Geldbeträge für eine positive Besprechung auslobt. Der andere Rechtsgelehrte bleibt beim branchentypischen „kommt darauf an“.

Die Regel dürfte aber sein, dass die kostenlose Überlassung eines Rezensionsexemplars regelmäßig nicht ausreicht, um eine unlautere Beeinflussung des Artikels anzunehmen. Solange das Zusenden des Buchs allein zur Ermöglichung einer, wie auch immer gearteten, Besprechung erfolgt, ist die Unabhängigkeit des Bloggers in der Regel nicht über die Maßen strapaziert. Hierfür spricht allein der tatsächlich recht geringe Gegenwert eines Buches, so lange keine (sehr teuren) Prachtausgaben besprochen werden, ist selbst das Zusenden eines aufwändigeren Kunstbandes erlaubt. Etwas anderes gilt, wenn der Blogger meint positiv besprechen zu müssen, da er sonst keine kostenlosen Bücher mehr erhält. Dies verstieße gleichwohl gegen das Verbot verschleierter Werbung, dürfte sich stets aber in einer rechtlich kaum greifbaren Bereich bewegen und eher auf Bedürftigkeit, denn auf eklatante Rechtswidrigkeit hinweisen.

Rechtliches Fazit

Ob ein redaktioneller Beitrag eine getarnte Werbung enthält, lässt sich nur von Fall zu Fall feststellen (BGH GRUR 1997, 541 (543) – Produkt-Interview). Die Grenzen sind fließend (ebenso LG Berlin AfP 2007, 263 (264)). Maßgebend ist eine Gesamtwürdigung aller Umstände des konkreten Falls (§ 5a II) unter Berücksichtigung des Inhalts des Berichts, dessen Anlass und Aufmachung sowie der Gestaltung und Zielsetzung des Presseorgans (BGH GRUR 1993, 565 (566) – Faltenglätter; Fuchs GRUR 1988, 736 (742); Ahrens GRUR 1995, 307 (311)).
(Köhler/Bornkamm/Köhler UWG § 5a Rn. 7.55, beck-online)

Habt ihr euch für eine Rezension, gleich welchen Ergebnisses, tatsächlich bezahlen lassen, so müsst ihr dies entsprechend kenntlich machen. Wurde euch nur zum „Testen“ ein Exemplar des besprochenen Buches zugesandt, so muss das nicht aus der Kritik hervorgehen. Alle anderen Formen der Beeinflussung dürften in unserem Bereich der knappen Kassen kaum, selten oder nie zum Problem werden. Selbst ein unabhäniger Bericht über das Treffen bei Hanser, zu dem ich auf Kosten des Verlages eingeladen wurde (Zugfahrt, eine Hotelübernachtung, zweimal im Verlag essen; großzügig geschätzter Gegenwert 250 €), ist nach meiner Ansicht nicht als Werbung oder Anzeige zu kennzeichnen.

Schleichwerbung in Blogs ist im Ergebnis die Täuschung über den wahren Autor bzw. dessen Beweggründe für den Beitrag und eine Ausnutzung des besonderen Vertrauens, das man sich vorher bei seiner Leserschaft erarbeitet hat. Wettbewerbswidrige Schleichwerbung dürfte im Bereich von Buch- und Literaturblogs sehr selten sein. Die Kennzeichnung von Rezensionsexemplaren ist rechtlich gesehen nicht notwendig, wie ihr es moralisch oder ethisch handhabt bleibt euch überlassen.

Postet gerne in den Kommentaren wie ihr mit der Frage umgeht.

[Update] Werbung ist auch?

Auf dem Blog leselauch.de tauchte nun innerhalb eines sehr ausführlichen und größtenteils richten Beitrags die Aussage auf:

Du hast das Buch selbst gekauft und keinerlei Abmachungen mit dem Verlag getroffen, vielleicht sogar auch noch gar keinen Kontakt zum Verlag oder dem Autor gehabt. Trotzdem verlinkst du auf sie – auch ohne Affiliate Link.

Auch in diesem Fall musst du deinen Beitrag als Werbung kennzeichnen.

Das stimmt so nicht. Der Verweis auf § 2 Abs. 5 TMG in dem Beitrag ist insofern auch eindeutig, es muss nicht gekennzeichnet werden müssen:

Angaben in Bezug auf Waren und Dienstleistungen oder das Erscheinungsbild eines Unternehmens, einer Organisation oder Person, die unabhängig und insbesondere ohne finanzielle Gegenleistung gemacht werden,

 

Kurt Drawert – Was gewesen sein wird

Inzwischen mehr als 10 Blatt umfassender Fax-Wechsel mit Kurt Drawert, der tiefbeleidigt seine Teilnahme an einer Veranstaltungsreihe der HAMBURGER AKADEMIE absagt: Das gedruckte Programm […] spricht von „jüngeren und unbekannteren Autoren“ […]. Wie von der Tarantel gestochen reagierte mein lieber Kurt, welch Tort ihm angetan werde mit dem Etikett „unbekannt“. Was sogar stimmt. Er ist ja […] mit vielen Preisen dekoriert. Dennoch ist er einem größeren Publikum eben „unbekannt“: Als ich neulich mit einem ZEIT-Redakteur über evlt. Interviews/Porträts sprach und, treuer Vasall, wieder den Namen Drawert nannte, kam prompt: „Das wäre evlt. ganz interessant – mal einen ganz Unbekannten.“ Dürfte ich ihm nie erzählen.
Aus: Tagebücher 2002-2012 – Fritz J. Raddatz, 26. Juni 2002

Vor dreizehn Jahren war der angesprochene Drawert 46 Jahre alt und damit gewiss kein junger Autor mehr, ein relativ unbekannter ist er bis heute leider geblieben. Dafür kann es nur eine Erklärung geben, denn er gehört sicher zur Creme derer, die wir haben: er schreibt zu viel in zu wenig beliebten Genres und er ist zu klug!

Eisenmann-DrawertIn erster Linie ist Kurt Drawert Lyriker und als solcher tatsächlich mit vielen Preisen dekoriert, doch auch für seine Prosaarbeiten wurde er bereits prämiert und hier mit so wohlklingenden Auszeichnungen wie dem Uwe-Johnson- oder dem Ingeborg-Bachmann-Preis. In seinem umfangreichen Werk finden sich allerdings, habe ich mich nicht verzählt, nur zwei Romane (von 1992 und 2008) und dies ist eben die Gattung, die wahrgenommen wird und auf Bestsellerlisten steht. Wie viel man allerdings verpasst, habe ich mir am Band Was gewesen sein wird vor Augen geführt.

In dem Sammelband sind Essays von 2004 bis 2014 enthalten, darunter auch der über 100 Seiten lange über Madame Bovary. In diesem beschreibt er die Reise, die er auf den Spuren des Romans und seiner Figuren durch Frankreich unternimmt.

Warum nun aber ausgerechnet Drawert den achttausendsten Sekundärtext zur Bovary schreiben muss, führt er vielfach sehr kunstvoll vor. Es ist kein bloßer Reisebericht, sondern die Geschichte eines Fans, eines Literaturwissenschaftlers und Mannes vom Fach, die Beleuchtung eines der größten Romans der Weltliteratur aus vielen verschiedenen Positionen. Die Analysen des Textes sind zum Teil so brillant, dass man gar nicht genug Tinte im Füller hat, um alle zu markieren. Gleiches gilt für seine Texte über Kafka oder die abgedruckte Rede zur Verleihung des Rainer-Malkowski-Preises. In letzterer geht er selbst das Problem des Untergehens der Gattung der Lyrik im Meer der Neuerscheinungen eines überfluteten Buchmarkts, aber auch das seiner Meinung nach insgesamt sinkende Niveau des Veröffentlichten, ein. Sieht aber auch die Probleme bei der Unlust des Lesers sich auf Texte einzulassen:

Ein Umgang mit komplexen literarischen Texten, die sich erst in der Rezeptionsbegabung des Lesers entfalten, findet mehrheitlich kaum noch statt. Bei einer Lesung vor wenigen Tagen wurde ich vom Veranstalter mit den sicher gut gemeinten, aber verunglückten Worten begrüßt, dass ich, nun ja, ein wohl doch etwas schwieriger Autor sei und bitte nicht so lange lesen möchte. Aber kann eigentlich etwas schwieriger, komplexer und rätselhafter sein, als das Leben selbst, das zu verstehen wir uns bemühen mit den Mitteln der Sprache und der Literatur?

Abseits der, hier nicht zu vertiefenden, Debatte erkennt man bereits in diesem Absatz die Schärfe der Gedanken und der Position Drawerts, aber auch seine Liebe zur Literatur, die ganz besonders zu knistern beginnt, wenn er mit hundertjähriger Verspätung auf den Brief eines tumben Leser Kafkas reagiert und diesem die Schönheit dessen Literatur erklärt. Nicht in Worte zu fassen, in welche Worte Drawert Kafkas Schaffen fasst/fassen kann – großes Können! Und in diesem Lobgesang ist noch gar nicht angesprochen was der Autor in weiteren Texten über die Sprache Victor Klemperers oder seine Kritik der politischen Rhetorik leistet.

Es kam während der Lektüre – ein Essayband am Stück! – dass mich Drawert in seiner Brillanz erschlagen hat, aber haben Sie keine Angst vor jemandem, der schlauer ist als Sie: lesen und lernen Sie lieber von ihm. Lassen Sie sich mal wieder auf komplexe Texte ein!

Harry Graf Kessler, Xaver Bayer und Daniel Kehlmann im Juni 2015/1

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Harry Graf Kessler, Tagebuch eines Weltmannes – Ulrich Ott (Hrsg.)
Knapp zehn Jahre ist es her, dass man sich Leben und Werk Harry Graf Kesslers kaum fundiert nähern konnte. Die schwer zu transkribierenden Tagebücher, weil wohl in winziger Krakelschrift, nur in einer Auswahl erhältlich, keine seriöse Biographie auf dem Markt, überall waren nur Schnipsel dieses großen, übervollen curriculum vitaes* zu erhaschen. Die beste Einführung gab bis vor einer Dekade der von Ulrich Ott herausgegebene Katalog zur Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum in Marbach von 1988. Am heutigen Tag gibt es zwei ernstzunehmende Biographien, eine bei Klett-Cotta erschienen (inzwischen aber auch wieder vergriffen und nur antiquarisch zu bekommen), eine im Siedler Verlag (im Ergebnis umstritten, aber von FJR gelobt) und die grandiose auf neun Bände angelegte Edition seiner Tagebücher, in denen, wie man sagt, circa 40.000** Zeitgenossen auftauchen. Scheut man aber deren 7000-seitige Lektüre oder die einer umfassenden Biographie, so bleibt der Marbach-Katalog ein wunderbar bebilderter Einstieg.

Die damalige Ausstellung, so der Herausgeber, gehört nur scheinbar zu jenen, deren Thema durch das Leben und Werk einer einzelnen Person umschrieben ist. Wohl bildet dieser Mann den Mittelpunkt, den Schnittpunkt aller Linien, doch in Wirklichkeit wird durch ihn eine europäische Epoche sichtbar, fast Tag für Tag dokumentiert in den Aufzeichnungen seines Lebens, das in einem eigenen Sinne an den Knotenpunkten stand, von denen die Stränge zum Neuen ausgehen. Kessler war weder eigentlich Politiker noch Künstler, aber in seinen unendlichen Beziehungen ein ganz politischer, ganz in der Wirksamkeit für Kunst und Literatur stehender Mensch, homme de lettres in einem in Deutschland sonst kaum vertretenen Typus.

Tagebuch eines Weltmannes ist ebenfalls nur noch antiquarisch zu erhalten, aber mit einem Preis von 10-25 Euro zu einem erschwinglichen Preis, den es auszugeben lohnt.

*Extra nachgesehen: müsste der richtige Genitiv sein.
**Eine kleine, interessante Darstellung Kesslers Netzwerk gibt es dazu  hier.

1Geheimnisvolles Knistern aus dem Zauberreich – Xaver Bayer

Was gäben wir dafür zu wissen, wer wir sind.

Eines der eindrucksvollsten Bücher meines bisherigen Jahres und unmöglich zu beschreiben. Zum einen weil es in Geheimnisvolles Knisten aus dem Zauberreich keinen roten Faden, keine Geschichte im eigentlichen Sinne gibt, zum anderen weil Xaver Bayer in einer leichten Sprache über ernste Themen hinweggleitet, erst beim zweiten Blick die Tragik des Erzählten offengelegt wird. Miniaturen von manchmal gerade einer halben Seite und alle stecken voller Schönheit und Geschichten, die große Erzählkunst in wenigen Sätzen riesige Szenen zu bannen beherrscht Xaver Bayer bis zur Meisterschaft und ganz nebenbei gelingen ihm dabei aphoristische Wunderbarkeiten. Ein grandioses Buch voller tiefgründiger Schönheit! Unbedingt lesen!

daz4edKommt, Geister – Daniel Kehlmann
Die Tradition der Frankfurter Poetik-Vorlesungen ist eine wunderbare. Uwe Johnson, Heinrich Böll, natürlich Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Koeppen, Dürrenmatt, Grass, Jens* referierten über die deutsche Literatur. Nun also auch Daniel Kehlmann dessen Vorlesungen in hübscher Ausgabe bei Rowohlt erschienen sind.

Völlig außer Frage steht bei Kehlmann dessen kluger Kopf, ein Großfeulletionist, der leider momentan zu wenig in Zeitungen veröffentlich. Bereits sein Band Lob mit gesammelten Essays und Rezensionen zeigte deutlich wie treffend und klar der Bestsellerautor analysieren und schreiben kann. Das ewige Loblied auf die unsägliche Vermessung der Welt verklärt einen der Intellektuellen dieses Landes leider zu einem Unterhaltung-mit-Niveau-Schriftsteller.

Peter Alexander dient dabei dem Dozenten als Türöffner, um über große Literatur zu sprechen und im wilden Ritt in fünf Vorlesungen durch die Geschichte zu reiten. Shakespeare und Tolkien, Grass und Grimmelshausen – was der Journalist und Essayist Kehlmann anfasst gelingt, anders als es dem Autor von Romanen manchmal vergönnt ist.

*Die Lewitscharoff Vorlesungen Vom Guten, Wahren und Schönen sind auch sehr zu empfehlen, garantiert ohne Rüpeleien über zwittrige Reagenzglaskinder und hässliche Menschen im Sommer.

Mai 2015/3

9783630874661_CoverTagebücher und Briefe – Michail Bulgakow

Die Aufführung aller meiner Stücke ist in der UdSSR verboten, und von meinen belletristischen Werken wird keine Zeile gedruckt.

Michail Bulgakow ist zuletzt durch die vielgerühmte Neuübersetzung von Der Meister und Margarita wieder in den Sichtbereich des deutschen Lesers gelangt nachdem er erste Bekanntheit bereits Ende der 60er-Jahre durch die Übersetzung von Thomas Reschke erreicht hatte. Dass neben der schriftstellerischen Leistung Bulgakows aber auch dessen Leben für den (geistes-)geschichtlich-interessierten Menschen von Interesse sein muss,  zeigt nun eine Ausgabe seiner Tagebücher und Briefe betreut von eben diesem Reschke und seiner, also Reschkes, Frau bei Luchterhand. Das schwere Leben eines regimekritischen Autors im Russland nach dem ersten Weltkrieg und bis zu seinem Tod 1940, die Existenzängste, aber vor allem das Ringen um die geliebte Arbeit belegen nicht nur verzweifelte Tagebuchnotate und Briefe, sondern auch solche die direkt an das Regime und Stalin selbst gerichtet wurden.

Wir sitzen in Moskau fest, hoffnungslos, endgültig, wie Fliegen in der Marmelade.

Ein zutiefst eindrücklicher und bedrückender Weg sich dem Werk dieses armen Menschen, anders kann man es nicht sagen, zu nähern. Hierfür, ruhig auch von hinten nach vorne lesen, eignet sich hervorragend der Anhang, der sehr angenehm die Waage zwischen dem Zuviel an detaillierter Information und dem Zuwenig für das Verständnis des Unvorbereiteten hält.

8Himmel und Erde – Jürgen Dollase
Noch nie wurde auf dieser Seite ein Kochbuch besprochen, doch dieses ist außergewöhnlich und voller Text, daher muss diese Ausnahme gemacht werden. Jürgen Dollase ist einer der, wenn nicht der,  profilierteste Restaurantkritiker Deutschlands – quasi der Chef von 54restaurants – und reitet auf einem hohen Ross – as I do. Nur fehlt ihm mein Augenzwinkern.

Man muss also mit dem Ton des Jürgen D. umzugehen wissen, wenn er zum einen voraussetzt, dass der Leser jeden Tag kocht, ihm aber gleichzeitig als Hobbykoch fast jegliche Kompetenz abspricht; er betont, dass bitte stets nur die besten Produkte verwendet werden sollen, berichtet aber sogleich, dass die von ihm verwendeten zum Teil für Otto N. nicht zu bekommen sind. Die Frage muss also zwangläufig lauten, darf ein solcher Meister seines Fach überheblich sein oder täte ihm auch etwas Demut gut, zumal eben keine Spur von Ironie zu spüren ist.

Das [von mir gekochte] Essen scheckte gut, was ich auch – ehrlich gesagt – nicht anders erwartet hatte.

Zudem ist nicht immer ganz klar für welchen Leser Dollase schreibt. Ist es denn eine wichtige Information, dass er bei wenig Lust zu Kochen einfach mal ein Kilo Langustinen pro Person in den Topf wirft? Otto N. wird etwas beschämt an seinem Knopfloch nesteln und betreten zu Boden sehen, während ich die Menge verdoppel. Vor lauter Selbstverliebtheit geht ihm da auch mal durch, ob er nun beim 60. oder 65. Geburtstag Witzigmanns im Tantris das halbe Kalb gegessen hat – geschenkt. Die in der Vorrede sehr gelobten Bilder von Thomas Ruhl sind dafür nicht immer ganz gelungen.

Warum ich dieses Buch doch uneingeschränkt empfehlen kann? Nicht weil, das Cover aussieht als würde sich Neil Young ein Mahl kredenzen oder wir sehen können wie der Grinch in seiner Scheune grillt, sondern weil Dollase ausnahmslos weiß wovon er spricht. Die Einleitung zu jedem Kapitel sind neben allem Brimborium mit das Beste was man in der aktuellen Literatur über das Kochen auf höchstem Niveau lesen kann. Seine Überlegungen zu Aufbau und Struktur von einzelnen Gerichten bis hin zu Menüs sind höchstinteressant, die vorgestellten Rezepte voller Raffinesse und neben dem eigenen Anspruch frei von jedem Dogma. Dollase lässt alles, selbst ihm nicht zusagende Richtungen und Auswüchse des Kochens, als Einfluss gelten und vermittelt am Ende doch worauf es ankommt: die Lust am Kochen und die Freude an einem guten Produkt.

(Bei Dollase ist es wie beim in Rückblick 2 genannten Thomas Fischer, ein absoluter Mann vom Fach, der eigentlich der Welt nur etwas Gutes tun möchte und sein Wissen teilen, dass das leider nicht vom Pferd aus funktioniert, müssen aber beide noch lernen. Also absteigen und Hand reichen.)

9Brunos Kochbuch – Martin Walker
Ausnahmen und die Regel. Das völlige Gegenteil zum obigen Buch ist das zur Bruno Krimi-Reihe erscheinende Kochbuch Martin Walkers. Einfache und typische Gerichte des Perigord werden mit tollen Landschafts- und Zutatenfotos dazu mit einleitenden Texten und zwei kleinen Zusatz Bruno Fällen garniert. Hier ist gleich klar welcher Leser angesprochen werden soll, der Fan der Krimis, der hinter die Kulissen schauen möchte und dabei etwas lernen. Das Niveau der Gerichte ist niedrig bis sehr simpel, was aber niemanden verwundern dürfte, doch neue Ideen und Rezepte sind doch auch für den geübteren Koch dabei. Nur zu loben ist auch die Ausstattung: in großformatigem Leinen und sehr vielen Fotos und das für unter 30 €!

cover.htmlCéline – Philippe Muray
Wer ist dieser sagenumwobene Schriftsteller? Der Antisemit und nach dem zweiten Weltkrieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zum Mord angeklagte, dieser Autor von dessen Reise ans Ende der Nacht Charles Bukowski sagte es sei das beste Buch, das in den letzten zweitausend Jahren geschrieben worden sei. Es ist die Geschichte eines Mannes und eine Schriftstellers, der in dieser Form nur im 20. Jahrhundert möglich gewesen sein dürfte.

Philippe Muray geht in einem grandiosen „Langessay“ den Fragen nach, die bis heute Louis-Ferndinand Céline umgeben: Was bedeutet die ungebrochene Begeisterung für seinen revolutionären Stil sowie für das Verbot, mit dem das finstere Hauptkapitel seines Lebens belegt ist? Wie kommt es, dass wir in seinem Antisemitismus nur ein kurzes Intermezzo sehen möchten, das uns freistellt, seine „vorher“ und „nachher“ entstandenen Werke ebenso unbefleckt wie unschuldig zu lesen? Denn eines steht fest, man kann Céline hassen oder lieben, seine beiden Hauptwerke Reise ans Ende der Nacht und Tod auf Kredit sind bahnbrechende Werke der Literatur, denn Céline hat mit literarischen Mitteln beispielhaft vorgeführt, wozu die Entfesselung der befreiten Negativität führte, deren albtraumartige politische Konsequenz wir zu Genüge kennen.

Muray schreibt auf sehr hohem Niveau, jeder Satz zitierenswert, wie man unschwer erkennen kann. Bereits auf den ersten dreizig Seiten steckt soviel Wissen und Weisheit über Leben und Werk Célines, dass man immer wieder Pausen einlegen muss. Am besten parallel die beiden Romane liest. Ohne Vorwissen dürfte dieser Muray nicht lesbar sein. Hat man aber den Atem und die Geduld ist dies so ungefähr die detaillierteste und tiefste Möglichkeit sich diesem Scheusal und Genie zu nähern. Sollte ich demnächst Céline verschenken, dann nur in einem Paket mit Muray – großartig!

Mai 2015/2

7Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens – Max Goldt
Regel Nr. 1: Bist Du in einem Buchladen und in Eile, brauchst schnell Lektüre für eine anstehende Reise, der Buchhändler hat natürlich keines der Bücher Deiner sehr speziellen Wunschliste vor Ort – ach was, selbst wenn – kaufe ein Buch von Max Goldt. Du bist traurig, lies Max Goldt, Du bist fröhlich, lies Max Goldt, Du kannst nicht lesen, lerne es umgehend und lies Max Goldt! Der Schriftsteller und Kolumnist ist wahrscheinlich einer der unterschätztesten Beobachter und Intellektuellen unserer Zeit! Voller Witz und Können, sprachlicher Brillianz und Tiefgang schreibt der medienscheue Goldt über alles was es gibt: Zahnreinigung und die Erinnerung an Orangenbonbons, Bärchenanhänger an Rucksäcken, Fernsehmusik, alte Kabel, neuen Namen für die Ostsee und Günter Grass (s.u.).

6QQ – Max Goldt
Das sicher etwas stärkere Buch der beiden Sammlungen ist QQ und statt eigener Lobpreisung kann ich mich im zweiten Teil nur Daniel Kehlmann anschließen, wenn er sagt „Daß (Max Goldts Werk) aber, liest man genau, zum am feinsten Gearbeiteten gehört, was unsere Literatur zu bieten hat, daß es wahre Wunder an Eleganz und Poesie enthält und daß sich hinter seinen trügerischen Gedankenfluchten die genaueste Komposition und eine blendend helle moralische Intelligenz verbergen, entgeht noch immer vielen, die nur aufs Lachen und Pointen aus sind.“ Amen.

Sehr gut zum Einstieg eigenen sich auch Ä und Ein Buch namens Zimbo. Ach egal was, lest einfach alles von Max Goldt!

urlEintagsfliegen – Günter Grass
„Sollte ich eines Morgens in mein Wohnzimmer treten und feststellen, daß dessen angestammter und vertrauter Wandschmuck über Nacht von unbekannter Hand durch zweihundert Graphiken von Günter Grass ersetzt wurde, würde ich mich trotz des vermutlichen Wertzuwachses außerstandes sehen, von Herzen kommende Symptome von Begeisterung zu zeigen. In Kiel mußte ich einmal aufgrund eines Wolkenbruchs in eine Galerie flüchten, die das zeichnerische Werk des Günter Grass präsentierte, und angesichts all der akademisch abgezeichneten Meerestiere und Gegenstände dankte ich dem Himmel erst für die Kürze des Niederschlages und bat ihn anschließend darum, Sorge zu tragen, daß sich meine Wohnung niemals, weder selbstständig noch fremdverschuldet, in einen Showroom für Günter Grass’sche Graphiken verwandeln möge, was eine Bitte ist, der bislang entsprochen wurde, wofür ich wiederum dankbar bin.“
Aus: Max Goldt „Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens“

Ein Alterswerk voller zumeist ziemlich mittelmäßiger Gedichte, natürlich inklusive berühmter Israelschmähung, gespickt mit immer neuen Variantionen über die Eintagsfliege als Illustration. Über Tote nur Gutes, aber lieber Blechtrommel lesen, als 28€ für dieses handwerklich hervorragende Buch des Steidl Verlages ausgeben. Daher nutze ich auch diesen für Günter Grass reservierten Spot, um Max Goldt zu huldigen.

5Prozesse – Uwe Nettelbeck
Die Berichterstattung aus deutschen Gerichten ist nicht unbedingt die beste. Von obenherab muss es dem Laien erscheinen was BGH, BVerfG und EuGH in ihrem antiquierten Juristendeutsch ex cathedra richten, niemand nimmt den berühmten kleinen Mann bei der Hand. Auch der von mir sehr geschätzt Thomas Fischer bleibt in seiner Kolumne bei ZEIT Online zu weit vom gemeinen Volk entfernt, obwohl er verständlicher spricht als fast alle anderen ranghohen Juristen, merkt man seiner Haltung häufig doch zu sehr den Bundesrichter an (trotzdem unbedingt lesen! sehr kluger Mann). Wie anders war da doch ein Uwe Nettelbeck, der, wenn er einen seiner nun bei Suhrkamp erschienen Gerichtsbericht von 1967-1969 beendet mit dem, „Daß es auf die Tat des Mannes, der ihr die Tochter nahm, nur dieses Urteil geben konnte – diese Einsicht kann niemand von ihr verlangen. Von ihr nicht. Von uns aber, auch von den Bayreuthern, muß man sie verlangen.“, weiß, dass der aufmerksame Leser eben diese Einsicht aufbringen wird, denn er hat ihn hierhin geführt. So genau wie ein guter Jurist, obwohl er keiner war, und so verständlich wie ein guter Journalist, obwohl die ZEIT ihn entließ, weil zu unbequem, schildert Nettelbeck nicht nur, sondern erklärt. Die das Land erschütternden Mordfälle, die „geistesgestörten Triebtäter“ und die ersten RAF-Taten – der Autor analysiert Täter, Opfer, Zeugen, Polizei und Gericht, und damit nicht zuletzt auch die Gesellschaft, ganz sicher waren auch seine Einsichten, die er auch dem Leser vermitteln wollte, einer der Gründe für seinen Rausschmuss bei der ZEIT.

Und wenn man von einem Prozess aus dem Jahr 1967 liest, dass das Hamburger Schwurgerichts Eckart Mellentin zu zweimal lebenslangem Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit verurteilt, liest man auch über die deutsche Geschichte der Strafjustiz der jungen BRD, denn weder das Zuchthaus, noch die doppelte lebenslange Stafe oder die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte gibt es noch. Den Einsichten aber, die Nettelbeck vermittelt, kann eine Kenntnis dieser Geschichte und den Geschichten dahinter nur förderlich sein. Jedem, auch dem Juristen.

24171.books.origjpgEvery Day is for the Thief – Teju Cole
Good news first: your school english is good enough to read this book. It only takes 20 pages and you’re back in the language business.

Bad news: this book is not worth the bad paper which it is printed on. I cannot see why this young man is celebrated as the new hero of literature. This novel is just a story of his journey to Nigera. Corruption, meeting his familiy, seeing old friends – no esprit or special way of storytelling, just the damn story of a journey.

Mai 2015/1

Wenn ich Dir, liebem Leser, die Monatsübersicht mit einem Dutzend Bücher für den Mai hinklatsche, liest die keiner bis zum Ende, auch Du nicht. Daher werden die vergangenen dreizig Tage in zwei Happen aufgeteilt. Wohl bekommts!

daz4edDer Griesgram – André Gide
Solche Veröffentlichungen sind nur toten Autoren erlaubt, nur Klassiker dürfen Heftchen dieses Umfangs post mortem auftauchen lassen. Dieses Recht stehe ich auch André Gide zu. Matthes & Seitz hat diese Kürzestgeschichte, die erst 1993 entdeckt wurde, nicht nur in einer besonders schönen Ausgabe herausgebracht, sondern es sich, statt dem Füllen und Aufblähen durch plumpe Zweisprachigkeit der Ausgabe, den Luxus gegönnt Nanne Meyer die Geschichte illustrieren zu lassen.

In einem wütenden Monolog schimpft le Grincheux über die Welt, seine Freunde und Familie. Völlig ratlos scheint man am Ende vor den Scherben der Existenz dieses armen Mannes zu stehen. Oder gibt es gar keine Scherben, keine Existenz? Das kluge Nachwort des Übersetzers Tim Trzaskalik hilft beim Verstehen, doch auf diesen wenigen Seiten wird bereits klar warum Gide ein Großer war und ich den Segen für dieses Büchlein erteile.

2Wie ich Nonne wurde – César Aira
César Aira, 1949 in Argentinien geboren, hat bereits über 80 Bücher veröffentlicht. Spötter mögen zu bedenken geben, dass dies bei einer Länge jeweils um die hundert Seiten keine Ehrfurcht hervorzurufen vermag. Doch stecken bereits auf jeder Seite Airas Wie ich Nonne wurde mehr Geschichten als in der heute üblichen Nabelschauprosa auf vierhundert. Der Erzähler Aira versteigt sich in immer gewagter-abstruse Konstruktionen seiner kleinen Novelle, ausgehend allein von einem Erdbeereis, das der Protagonistin nicht schmeckte. Doch der impulsive Vater bringt den Eismann daraufhin um und muss ins Gefängnis und dann und dann und dann..

Diese Groteske spielt sich auf immer weiter verschränkenden Ebenen ab, bei denen man den Überblick aber nicht den Spaß verlieren kann.

25652544z Das Salzburg des Stefan Zweig – Oliver Matuschek
Oliver Matuschek hat sich bereits einen Namen als Biograph-Zweigs und Herausgeber der Briefe Zweigs an seine zweite Frau Lottes gemacht. Ein akribischer Fachmann, der für andere Enthusiasten einen kleinen Reiseführer durch die Wahlheimat des großen Österreichs geschrieben hat. Mit historischen Bildern und solchen des heutigen Salzburg wird der Weg durch die Stadt nachgezeichnet, Blicke in das prächtige Anwesen auf dem Kapuzinerberg gewährt und Zweig an alter Wirkungsstätte gezeigt. Ein Muss für Zweig Fans und den Salzburgbesuch.

urlSchreiben heißt, sein Herz waschen – Fritz J. Raddatz
Mein monthly Raddatz war diesmal eine Sammlung von Essays, die anlässlich seines 75. Geburtstages bei zuKlampen erschien. Eine gelunge Auswahl: Diese elf Essays sind ein hervorragender Spiegel Lebens und Werks und eben, hier kaum zu trennen, der deutschen Literatur nach ’45.

Immer wieder liest man vom Pendler zwischen zwei Deutschlanden und seinen Systemen auf den Punkt gebracht über den Aberwitz der Teilung und die Rolle der Schriftsteller in Ost und West. Seine Berichte sind immer aus erster Hand, denn er kannte fast alle Erwähnten persönlich, war mit ihnen befreundet, Verleger, Entdecker, Förderer oder doch eben spinnefeind.

Begeistert schreibt Raddatz über das Echolot Projekt seines Freundes Walter Kempowski, kratzt am Denkmal seines Helden Thomas Mann, stets spürt man die Begeisterung des Autors für Lektüre und seine Freude am andere begeistern. Besonders hervorzuheben sind die Texte über den Hall der Alten, in dem der inzwischen ebenfalls alte Autor beklagt, dass zu wenige junge intellektuelle Stimmen wahrgenommen werden, obwohl diese zu hören seien, sowie Das denunzierte Wort darüber Wie Macht und Ideologie das Schreiben vergiftet.

Neben einigen hervorragenden Betrachtungen findet aber jeder, der die Fehler finden möchte, auch alles was es an Raddatz zu kritisieren geben mag: eine starke Ich-Bezogenheit, eine Überfülle an Bildern und Parenthesen, mehrfach wiederholt er gar Vergleiche kurz hintereinander in einem Artikel („der in KZs zu knochen-klappernden Lemuren Erniedrigten“) und doch strotzt gerade dieser Satz vor einer kaum beherrschbaren Kraft, gegen die Sprache Raddatz‘ gibt es kein Ankommen. Er mag manchmal das Maß verloren haben, manch Essay dürfte fünf oder zehn Seiten kürzer sein und doch ist dieses Buch ein leuchtendes Beispiel für die Größe des Mannes, den ich so bewundere – trotz, mit, wegen aller vorhandenen Schwächen.

3Tod in Turin – Jan Brandt
„Alle deutschsprachigen Schriftsteller von Weltrang haben über ihre italienische Reise geschrieben“, lässt Brandt auf dem Rücken von Tod in Turin verlautbaren. Der Autor mit seinem zweiten Buch – der Bericht über die Lesereise mit dem ersten – will sich also in eine Reihe mit Heine, Mann, Goethe und Fontane stellen, arg vermessen will mir scheinen. Insgesamt machte der Herr schon vor dieser Äußerung den Eindruck ein arroganter Mensch zu sein und das wegen eines einzigen Romans! …

Doch schon bald nach Beginn der Lektüre schwant mir, dass was ich für Arroganz hielt wohl sein Humor ist, vielleicht hat Brandt nur ein Transportproblem und alle (oder nur ich?) verstehen ihn falsch.

Seine italienische Reise unternimmt er jedenfalls aus Anlass der Buchmesse in Turin, auf der er die Übersetzung von „Gegen die Welt“ vorstellt. Die Fiat-Stadt macht in und zwischen den Zeilen einen sehr hässlichen Eindruck, aber Brandt ist ein launiger Erzähler und am besten bevor er nach Italien aufbricht. In wunderbarem Schnodderton berichtet er von den deutschen Stationen seiner Lesereise, schildert später bösartig-grandios das Wiedersehen mit einem alten Bekannten in London. Seine Zeit in Italien verkommt aber doch zu bald zu einem been there, done that und wen er all getroffen hat. Das gesamte Buch ist nicht uninteressant und viele Stellen gefallen mir sogar ausgesprochen gut, im Ergebnis bleibt Tod in Turin aber nur ein persönlich gefärbter Reisebericht.
4 Provokateure – Martin Walker
So und jetzt bitte sehr, möge man mir verraten warum ich auch den siebten Band dieser Reihe gelesen habe und den achten lesen werde! Irgendwas muss es ja haben. Ist es nur der Soap-Opera-Trick, möchte man immer nur wissen wie es mit den überzeichneten Figuren weitergeht? Normalerweise würde ich laut wehklagen und ein Schreibverbot für Martin Walker fordern, aber bitte Kerl schreib weiter (lass Dir vielleicht ein bisschen was bei Stil und Konstruktion helfen, nimm ein bisschen den Fuß vom Gemeinplätze-Gas und wiederhole Dich nicht ständig), ich bleib Dir treu – warum auch immer!

Zur ganzen Rezension.

Der König von Thule

Es war einst ein König in Thule,
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
einen goldnen Becher gab.

Es ging ihm nichts darüber,
Er leert‘ ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
So oft er trank daraus.

Und als er kam zu sterben,
Zählt‘ er seine Städt‘ im Reich,
Gönnt‘ alles seinen Erben,
Den Becher nicht zugleich.

Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale
Dort auf dem Schloß am Meer.

Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heil’gen Becher
Hinunter in die Flut.

Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer.
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr

Dichterfürst (1774)