Es ist mir eine Freude eine erste “Fremdrezension” veröffentlichen zu können. Im Gespräch mit einem Freund haben wir über John Irving gesprochen, den ich ihm nur wärmstens ans Herz legen konnte, was im Erwerb seines neusten Werkes gipfelte. Das Irving-Universum ist ein spezielles. Das sagt Manuel dazu:
Die Laienbühne des – stets Frauenrollen spielenden- Großvaters und die Bücherei der für sein sexuelles Erwachen verantwortlichen Bibliothekarin Mrs. Frost – diese beiden Fixpunkte sind prägend für den 13jährigen William, der vaterlos und mit Sprachfehler im ländlichen Vermont der 50er Jahre aufwächst.
Mit dem smarten Stiefvater Richard, seiner besten Freundin Elaine, sein Schwarm und zugleich seine Nemesis Jacques Kittredge und dem „armen Tom“ erweitert der Erzähler, der sich alsbald als 70 jährige Version der Hauptfigur „outet“ (ein sehr wichtiges Wort in diesem Buch) sein Tableau an Story-tragenden Figuren.
„So spiele ich in einer Person viele Menschen, und keiner ist zufrieden“, ein Satz aus Richard II., ist prägend für den intellektuell und sexuell verwirrten Jungen, der mal zu älteren Frauen im Haushaltswarenkatalog der Nachbarin onaniert, mal an nichts anderes als an eine Verführung durch den dominanten Mitschüler Kittredge zu denken vermag.
Eins wird bald klar – kaum einer ist das, was er wirklich zu seien scheint, und so wird sich Billy, v.a. durch die Hilfe der enigmatischen Mrs. Frost, bald bewusst, was er liebt: Männer, Frauen, Bücher und das Schreiben.
Er wird Schriftsteller, berichtet über seine Reisen nach Europa, Affären, die ihn geprägt haben, Affären, die ihn belastet haben. Die Jahre vergehen, William lebt mal in New York, mal mit Elaine in LA, die nunmehr Literaturprofessorin geworden ist.
In der Endstrecke des Buches verarbeitet er die Katastrophe der AIDS-Epidemie in den 80er Jahren, der mehr als ein Bett und Lebensgefährte zum Opfer fallen wird. Noch in den letzten Kapiteln lassen praktisch alle die Masken ihres Lebens fallen.
Zwei Sätze vorweg: Mein erstes Irving-Buch (gut, wer hat nicht Hotel New Hampshire mit Natassja Kinski als Bär gesehen) und mein erster coming –of-age-and-out Roman.
Sicherlich, da steckt alles von Irving drin, was nötig ist: Neuengland, Wien, Ringen, Bären and so on. Ein Buch, geschrieben für den offen schwul lebenden Sohn, und ein Leuchtfeuer für tolerante Lebensführung – das hat mir gut gefallen. Einzelne Szenen und Kapitel sprühen vor Esprit und einem herrlich pointiertem Sarkasmus.
Momente des „Stream of Consciousness“ , in denen der Erzähler teils Dinge vorwegnimmt, nur um den Cut-off anzusetzen, „man würde später darüber reden, jetzt fiele es ihm noch zu schwer“, steigern die Erwartungen des gespannten Lesers.
Und da liegt auch mein erstes Problem mit dem Buch – der Spannungsbogen. Eine anfangs originell und dankbar ausführlich geschilderte Probe der Laienspielgruppe begeisterte mich – leider kommt fast identische Szene wieder und wieder und wieder vor. Jede Ibsen-Inszenierung des nordisch-depressiven Regisseurs wird episch breit geschildert, was aber mit „dem armen Tom“ in Europa war, kommt nie richtig zum Ausdruck. Sex – soviel ist klar.
Insgesamt wurde mir nie so deutlich und explizit der Vorgang von schwulem oder transsexuellem Sex nahe gebracht – was zunächst jedoch latente Mini-Schocker waren, nutzte sich später auch zu einem „ach, schon wieder“ Gefühl ab.
So zieht sich 2/3 des Buches langsam dahin, während die letzten hundert Seiten geradezu im Turbogang durch die 80er rasen, im Gepäck Tod, Leid, Scham und Verzweiflung – enorm intensiv!
Und mein zweiter, schwerwiegender Kritikpunkt ist sicherlich einer am Konzept.
Irving entscheidet sich, reaktionäre Borniertheit und Intoleranz dadurch anzuprangern und zu entlarven, dass selbst der größte homophobe Mannschaftskamerad im Ringerteam zum Schluss als AIDS-kranker, bisexueller Transvestit endet.
Der rätselhafte GI-Vater entpuppt sich als ebenso schwul und langjährig liierter Star einer Travstie-Show. Kurz – fast jede Figur in diesem Buch hat eine nicht der „Norm“ entsprechende sexuelle Identität oder Orientierung – meiner Meinung wird hier zu dick aufgetragen, mir wäre der Punkt schon bei Mrs. Frost deutlich gewesen.
Fazit: Ein Buch über das Aufwachsen, ein Buch über die Irrungen und Wirrungen des Jugendalters und das Finden der eigenen Identität, gegen alle inneren und äußeren Widerstände – und sicher ein gutes Buch, in meiner Sichtweise eingeschränkt durch zu häufige Wiederholungen und zu abgefahren-einseitigen Charakterentwicklungen.
Wer jedoch darüber hinweg sieht, bekommt ein intensives Gemälde des bewegten Lebens von William Abbot.