Peter Richter hat ein grandioses Buch über die Zeit der Wende geschrieben, dass ich trotzdem nicht zu Ende lesen kann.
Eine kindlich unbeschwerte, pubertäre Stimmung herrscht in Dresden 1989. Man rebelliert ein bisschen und versucht doch angepasst genug zu sein, um die gewünschte Schulform besuchen zu dürfen. Jungsfreundschaften und zarte Mädchenbande sind der Rahmen, in dem sich das Leben des Protagonisten bewegt, doch der Zeitpunkt des Umsturzes rückt näher und wird Biographien verändern. Richter tritt aufs Gas und lässt wieder bedächtige Ruhe einkehren, er mischt kurze Viertelseiten-Episoden mit längeren Passagen. Der Autor ist ungeheuer klug, was man, wenn nicht aus Deutsches Haus oder Über das Trinken, dann zumindest aus seinen Texten für diverse Zeitungen, inzwischen der Süddeutschen Zeitung, weiß.
Und weil im Westen die ganzen alten Nazis schon wieder beziehungsweise immer noch in den Behörden, den Gerichten, den Schulen und den Universitäten saßen, während im Osten mal was Neues angefangen wurde. Und weil es ganz so aussah, als ob das auch das Bessere sei, wenigstens moralisch. Und weil Leute wie Anna Seghers oder Bertolt Brecht das auch so sahen. Weil damals die Deutsche Reichsbahn dafür sorgte, dass man nach einer Aufführung in Brechts Berliner Ensemble mit dem Spätzug noch nach Hause kam. Und natürlich, weil dieses Zuhause der absolut schönste Ort der ganzen Welt sein konnte…
Der Grund dafür, dass ich das Buch trotz solcher Passagen der Hellsichtigkeit und solcher des besten Humors nicht zu Ende lesen kann ist trivial. Mir fehlt, zu spät geboren, das Hintergrundwissen der kleinen DDR-Schnurren und großen -Sünden, die zwar allesamt in unterhaltsamen Fußnoten erläutert werden, aber meinen Lesefluss zu sehr bremsen. Gleiches gilt für die Marotte R.s seine Personen nicht mit vollen Namen zu benennen sondern grundsätzlich abzukürzen. Die Ungeduld hält mich von 89/90 ab.
Ich habe nun aber das Buch meiner Mutter gegeben, sie wird es lieben, wie sicher viel andere, denen ich den Lesespaß von Herzen gönne.
[…] der Abschied von der Ideologie des Zweittaktmotors war damit eingeleitet. Der Zweitaktmotor war in jenem Land so sakrosankt gewesen wie der Führungsanspruch der SED. Dass jetzt hier Viertakter verbaut wurden, hätte einem im Prinzip schon Symbol genug sein müssen für das nahende Ende. Aber wir sahen das trotzdem nicht. Wir freuten uns auf Porschemotoren für den Trabant.
Lieber Tilman,
ich kann deine Einwände durchaus nachvollziehen, 89/90 ist wirklich kein einfaches Buch. Ich habe es beim Lesen geliebt und jetzt – mit einigem Abstand – hat sich das nicht geändert. Diese komischen Vögel, von denen der Autor berichtet, sind immer noch unglaublich faszinierend, genau so wie der fast ethnologische Blick, mit dem R. sie betrachtet. Die Art und Weise, wie er den Zerfall beschreibt, diese Zuspitzung zum Undenkbaren, während der Alltag einfach weiter laufen muss,das ist einfach unglaublich. Ich kann nur sagen: Abgesehen von einem Kapitel entgeht dir da etwas.
Aber wahrscheinlich hast du noch genügend Lesestoff in der Pipeline, der deine Aufmerksamkeit genauso verdient!
Viele Grüße, Maike
Hallo Maike,
wahrscheinlich ist es eines von den Büchern, für die man in einer gewissen Stimmung sein muss. Ich habe ja angedeutet: den Zauber der Welt Richters sind verlockend und seine Sprache sowieso grandios, aber irgendwie scheint es im Moment nicht zu passen. Warte ich mal ab was Mama nach der Lektüre sagt und versuche es vielleicht erneut. An Lesestoff mangelt es bis dahin nicht.
Beste Grüße
Unbedingt zu Ende lesen, es lohnt sich. Du musst geduldiger werden. Viele Grüße, Gérard
Ob ich das Buch unbedingt lesen muss, weiß ich nicht. Aber allein das Zitat zeigt mir, dass ich es nicht lesen werde. Langsam reicht es! Die Diktatur der DDR immer wieder als die zwar unvollkommene, aber heile Welt zu beschreiben, geht mir inzwischen gegen den Strich. So naiv zu glauben, wir seien 1989 / 1990 von Nazis umzingelt gewesen, ist einfach infam. Bei aller kritischen Distanz zu den Herrschenden im Westen wird mit der Beschreibung der DDR als dem besseren Teil immer wieder die Diktatur, das Morden im Gefängnis und an der Grenze vernebelt. Ganz zu schweigen von der alltäglichen Unterdrückung, Unterversorgung und Bevormundung. Und wenn es um frühere Nazis geht, war die DDR keinen Deut besser. Es gab genügend, die sich im Staatsapparat hocharbeiten und verstecken konnten.
Lieber Herr Schneider,
das Zitat soll eher dahingehend verstanden werden, was die Intention bei Gründung und in den frühen Jahren des Staates war. Unterdrückung, Bespitzelung, die doch untergeschlüpften Nazis sind dann später alles Puzzleteile, die zum Scheitern führten. Dies muss ich insoweit richtigstellen, als dass Richter kein, soweit ich gelesen habe, schöngefärbtes Bild der DDR zeichnet.
Beste Grüße
Mhm, sehr schade, dass du abgebrochen hast! Habe das Buch selbst noch nicht gelesen, aber es klingt echt interessant! Ich weiß leider viel zu wenig über die DDR (nicht nur, was die Alltagssituationen und Begriffe angeht, die du beschreibst, sondern auch historisch und politisch gesehen. Man sollte das System an sich bestimmt nicht verherrlichen oder durch sehr romantische Beschreibungen vernebeln, aber interessant zu lesen wäre es bestimmt doch…
Liebe Grüße,
Laura
Hallo Herr Winterling,
auch von meiner Seite die klare Empfehlung: Unbedingt zu Ende lesen. Es lohnt sich 🙂
Grüße aus Dresden!
Ich bin gerade dabei das Buch zu lesen. Selbst Kreuzschülerin des letzten Abijahrgangs in der DDR, finde ich es ein schnell zu lesendes und sehr humorvoll geschriebenes Buch – mehr Kompendium als Roman. Der Kommentar von Ulrich Schneider hier im Forum hat mich allerdings sehr ergriffen gemacht und ich stimme ihm zu. Irgendetwas stört mich schon die ganze Zeit an dem Buch: ist es eine Art Selbstgefälligkeit des Autors, die mich abstößt oder nur die enge (unangreifbare) Sichtweise des sog. Protagonisten, der mit dem Autor und seinen lexikalischen Erklärungen verschmilzt und dadurch kein Protagonist bleibt, den man seinen Blickwinkel abnehmen mag ? Man hat den Eindruck, der gute Junge hätte sein Abitur im Schlaf gemacht, wo er sich doch jede Nacht irgendwo herumtreibt und das, mit Verlaub nehme ich selbst dem „klugen Herrn Richter“ nicht ab. Wo bleibt der Blick auf die Lehrer und das Schulsystem in der DDR? Findet die DDR nur „draußen“ statt und nicht in der Schule? Was ist mit den Mädchen? Fragen über Fragen und ich bleibe damit zurück – wohl auch, nachdem ich bald noch die letzten 100 Seiten als Unterhaltungsliteratur amüsiert konsumiere…