Die Leute flippen ja förmlich aus. Ein Roman, dessen Qualität so außerordentlich ist, dass er alles überragt; einer der großartigstens Romane, die in den letzten fünfzig Jahren veröffentlicht wurden (The Dallas Morning News), ein vollkommener Roman (New York Times Book Review)- fehlt nur noch, dass jemand dieses Buch, das doch schon eben besagte fünfzig Jahre auf dem Buckel hat, zum größten allerzeiten ausruft. So viel vorweg: ich werde das bestimmt nicht sein!
William Stoner ist der einzige Sohn eines Bauern irgendwo in den Weiten der Farmen im Mittleren Westen der USA. Sein Vater schickt ihn auf die Universität, damit der Junge Agrarwirtschaft studieren kann. Als Einzelgänger schlägt er sich durch die ersten Semester, bis er durch Zufall seine Liebe zur Literatur entdeckt, besser eine Liebe zur Literatur entwickelt. Zurückhaltend und in allen Lebensbereichen passiv, kommt Stoner nur langsam voran und mausert sich doch über die Jahre zum Professor, findet eine Frau, kauft ein Haus, hat ein Kind und eine Affäre. Unglücklich verheiratet, Zank an der Universität mit seinem Vorgesetzen und immer wieder Versagensängste, das Verharren im Mittelmaß macht William Stoner sein Leben bis zum Ende nicht leicht.
Auf den ersten 100 Seiten ist mir der Protagonist in seiner Einfalt und seiner Behäbigkeit so unsympathisch, seine Entwicklung so stockend, dass ich mit dem Gedanken gespielt habe das Buch abzubrechen, auch wenn auf manchen Seiten Potenzial durchschien. Auf Seite 115 dann aber:
Sloane besaß keine Familie, sodass sich nur Kollegen und einige Stadtleute an der schmalen Grube versammelten, um dem Priester ehrfürchtig, verlegen oder respektvoll zu lauschen. Und da keine Familie und niemand, der ihn liebte, um sein Dahinscheiden trauerte, war es Stoner allein, der weinte, als der Sarg in die Erde gelassen wurde, als könnten seine Tränen die Einsamkeit dieses letzten Augenblicks lindern. Nur wusste er nicht, ob er um sich selbst weinte, um den Teil seiner Geschichte und Jugend, der mit dem Sarg in die Erde versank, oder um die arme, dürre Gestalt, die einmal jener Mann gewesen war, den er verehrt hatte.
“So wie Du das vorliest, klingt es kitschig“, sagt meine Madame am Telefon und sie hat Recht, das ist nah am Kitsch. Bricht dies aber aus einer Person heraus, die auf den letzten 114 Seiten recht tumb durch die Welt stolperte, rührt es auf angenehme Weise an; auch mich, dessen kann ich mich nicht erwehren. Später aber:
Die Liebe zur Literatur, zur Sprache, zum Mysterium des Verstandes und des Herzens, wie sie sich in den kleinen, seltsamen und unerwarteten Kombinationen von Buchstaben und Wörtern zeigte, in der schwärzesten, kältesten Druckertinte – die Liebe, die er verborgen gehalten hatte, als wäre sie gefährlich und verboten, diese Liebe begann er nun offen zu zeigen, zögerlich zuerst, dann mutiger und schließlich voller Stolz.
Klar eine Liebeserklärung an die Literatur, von einem bildungsfernen Bauernjungen, genau das was unser Bildungssystem (vom amerikanischen wollen wir gar nicht sprechen) nicht zu schaffen vermag, schafft er aus eigenen Stücken. Aber nun ist es klar, es ist Kitsch! Trotzdem vermag Stoner mich eine zeitlang zu packen. In der Mitte machte mir dieses Buch wirklich Spaß, lief am Ende aber wieder recht unspektakulär aus.
Mein Problem liegt gar nicht unbedingt dabei, dass Stoner schlecht wäre, denn das ist es nicht. Vielmehr liegen mir die überbordenden Lobpreisungen schwer im Magen. Die Geschichte eines, so scheint es, genügsamen Lebens, in dem dennoch die großen Dinge ihren Widerhall fanden: Leidenschaft, Freundschaft, Ehe, Familie, Krieg, Liebe. Wenn man mit Widerhall meint, dass diese Dinge irgendwie vorkommen, mag das sein. Widerhall finden nach diesen Maßstäben auch Hunde, Kinder, Schule, Bücher, Shakespeare, Felder, Bauern, Schuhe und Kartoffeln. Verkauft mir jemand ein Buch unter der Prämisse, es sei der größte Verlust der letzten halben Dekade gewesen, dass es vergessen wurde, muss mehr kommen. Das hier ist gehobenes Mittelmaß mit Ausflügen in aphoristische Esoterik.
Einer der bedeutensten Romane aus Amerika (Stadtlichter Lüneburg!, tatsächlich bei dtv als Referenz angegeben) – ganz sicher nicht! Hätte man mir stattdessen das Buch mit den Worten „Ein nette, unterhaltende Lektüre“ ans Herz gelegt, könnte ich ohne den Gram dieser Rezension zustimmen, denn es liest sich durchaus locker, packt mich, wie gesagt, tatsächlich in seiner Mitte und hat starke Stellen, die einen Bildungs- oder Entwicklungsroman ausmachen, aber eben nicht die, die ein Meisterwerk ausmachen. Aber auch wieder Stellen, die in ihrer Nutzlosigkeit inhaltsleere Phrasen wie diese produzieren:
In seinem dreiunvierzigsten Jahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.
Nein, sowas steht nicht in einem Meisterwerk, sowas steht bei Paula Coelho und Konsorten. Etwas mehr Demut beim Anpreisen so manch eines Werkes, bitte.
Danke für diesen Beitrag. – Werde es also nicht lesen … 😉
Ich neugierig, warum dieses Buch so hochgelobt wird und wollte es mir bei Gelegenheit mal näher anschauen. Dank deinem kritischen Beitrag weiß ich jetzt, dass ich das nicht unbedingt machen muss. Vielen Dank dafür!
Tolle Kritik! Den Ärger mit den Lobeshymnen kenne ich selbst nur zu gut. Denn dann steigen einfach die Erwartungen des Lesers ins Unermessliche – und kann dann oft nur noch enttäuscht werden;). Selten halten die Lobeshymnen, was sie versprechen. Sind halt eine Art „Marktschreier“.
STONER hat mir selbst zwar gut gefallen, allerdings passte einfach bei mir die Zeit auf so ein Buch.
Liebe Grüße, Iris
Danke für den Beitrag. Der Mitarbeiter, der von mir hochgeschätzten Autorenbuchhandlung in Berlin war ebenfalls faller Lobpreisungen. Dennoch habe ich es mir nach zehn Minuten quer lesen nicht gekauft. An vielen Stellen ist das Buch einfach zu schwülstig. Herzliche Grüße und weiter so!
Uli
Ich danke euch füre eure Kommentare. Merkwürdigerweise haben die meisten, die das Buch gelesen haben und sich bei mir gemeldet haben ähnlich wie ich gedacht und trotzdem muss ich nochmal betonen, dass ich nicht generell von dem Buch abraten möchte. Iris z.B. hat es ja gefallen und ich habe auch einige Stellen gut gefunden. Es bleibt wie immer dem Geschmack des Einzelnen überlassen, es wunderte mich nur, dass meine Einschätzung so gänzlich neben den sonst veröffentlichten liegt.
Ich fasse mich kurz: Es ist ein großartiger Roman. Der großartigste, den ich nach langer, langer Zeit gelesen habe. Falls es dich interessiert, warum ich so über ihn denke, siehe meine Kritik auf http://ramblingbrother.com/2014/01/05/steinkalt-die-welt-des-william-stoner. Insofern kann ich deiner Kritik und will es auch nicht, folgen.
Bei mir liegt die Lektüre inzwischen etwas zurück, mich störte nur der Hype so sehr, dass ich mich gar nicht richtig auf das Buch einlassen konnte und dann enttäuscht war.
Freue mich aber über Deinen Kommentar und vor allem Deine andere Meinung!
Hallo 54 Bücher,
danke für die Gedanken zu „Stoner“. Ich fand den Roman lesbar, aber auch merkwürdig verstaubt (ist halt ne Wiederentdeckung): Da geht es um Konflikte, die heute einfach nicht mehr so viele Funken im Leser schlagen können (seine Frau…die würde man heute zum Glück anders aufs Eheleben vorbereiten, hoffe ich zumindest)
Und außerdem habe ich mich während der Lektüre in wilden postcolonial-anti-eurozentrischen Furor hineingesteigert: Wieso bitte geht es an einer Universität mitten in den USA, quasi über den Gebeinen getöteter Indianer, um Literatur aus dem europäischen Mittelalter??
Herzliche Grüße,
die Bücherflocke
Bin gerade sehr bewegt, zufälligerweise und so spät auf diese antizyklische Kommentar-Rezension zu „Stoner“ getroffen zu sein. Das Buch war mir seinerzeit geschenkt worden („ganz großartig, unbedingt lesen!“), aber ich habe es nicht fertig gekriegt wegen allmählich steigender Langeweile. Die Geschichte fand ich, ja, „kitschig“, auch in ihrer durchsichtigen Dramaturgie kitschig. Schon der Plot ist, soweit ich gekommen bin, das war wohl knapp die Hälfte, Punkt für Punkt eine Kitschgeschichte. Eine Geschichte vom Typus „ein ganz besonderer Mensch“, die allerdings immer wieder beim Publikum verfangen. Immer wieder einer der leichtverkäuflichsten Kekse für ein bestimmtes Lesemilieu. Da wird einem die eigene ungerichtete Introvertierheit gebauchpinselt. Dabei fand ich das Thema gar nicht uninteressant – die Rolle der Bücherintellektuellen („liberal arts“) in einer Gesellschaft, die so sehr auf Pragmatismus und „getting things done“ angelegt ist wie die Amerikanische. Vielleicht kommt das Kitschige auch daher, dass die Welt des Stoner-Geistes so unkritisch ist? Wie auch immer, ich stelle mit siedend heißem Herzen und unter Tränen fest, dass ich nicht so einsam und allein war, wie ich damals dachte. Und Sie demzufolge auch nicht 😉
Kitsch. Das absolut passende Wort!
Hmm, das ist jetzt eine am Inhalt eher orientierte Kritik, die ich in gewissem Maße schon nachvollziehen kann, da es tatsächlich so ist, dass Williams teilweise dem Kitsch sehr nah kommt. Dennoch finde ich die Lobeshymnen verdient, ist es doch nicht eben einfach, ein so alltägliches Leben darzustellen und damit Erfolg zu haben. Man kann es mögen, muss es aber nicht. Handwerklich, stilistisch hingegen ist es mehr als gut gemacht. Aber klar, manchmal muss man sich halt in seinem Urteil auch von der Menge abheben dürfen,das ist schon richtig. Was Williams aber geschafft hat, ist eine Gültigkeit über die Zeit hinweg und das ist für mich schon tatsächlch eine Kunst. Coelho hat nicht mal im Ansatz etwas mit dem Stoner gemein und Kitsch ist beileibe etwas anderes. Aber da hat wohl auch jeder seine eigenen Maßstäbe. Früher, so vor 20 Jahren hätte ich das vielleicht auch empfunden, mag sein. Dennoch ist das Buch ein gutes.