Wenn ich mich morgen auf den Marktplatz stelle und Gott ist tot brülle, werden die Passanten aufschauen, aber kopfschüttelnd weiter spazieren. Innerhalb einer Kirche dürften solche Rufe schon etwas schlechter ankommen, ebenso wie unverhüllte Brüste mit der Bestätigung, dass Sie direkt unter uns weilt und Femenaktivistin ist. Sonst kann man in Deutschland Skandale mit Religionskritik eigentlich nicht mehr machen, dafür ist die (christliche) Kirche von innen heraus schon zu skandalgeschüttelt. Wenn nun aber dieser ungepflegte, nuschelnde Mann mit dem wilden Haar und der schlechten Haltung einen neuen Roman herausbringt, ist das Geschrei vom Skandal wieder groß, was weniger an der Religion, sondern mehr am Ruf des schreibenden clochards liegen mag.
Einige Zeilen zur Frage, ob Michel Houellebecq und Unterwerfung eine Gefahr für Morgen- und Abendland darstellen, ob sie die Grundfesten unserer Demokratie, unseres Lebens erschüttern.
Gegen den Strich
Houellebecqs Held François ist im Frankreich des Jahres 2022 Literaturprofessor an der Sorbonne, Spezialist für Joris-Karl Huysmans den Autoren der Dekadenz. Er beschaut seinen Nabel und wälzt private Sorgen um das Älterwerden, das Allein- und Verlassensein. Freunde hat er keine und seine Frauenbekanntschaften sind mit jedem Studienjahr wechselnde Damen seiner Fakultät. Während François also vornehmlich mit seiner Person beschäftigt ist, schwelt es in Frankreich kurz vor den Präsidentschaftswahlen. Die Rechten um Marine Le Pen haben gute Karten an die Macht zu gelangen, die bürgerlichen Parteien scheinen politisch nicht mehr auf die Beine zu kommen und als neue Macht positioniert sich bereits Mohammed Ben Abbes, der Kandidat der Muslimbrüder. Um eine Machtergreifung des Front National zu verhindern, gehen die gemäßigt Linken eine Koalition mit Ben Abbes ein und dieser wird mit ihrer Hilfe zum Präsidenten gewählt. Statt des erwarteten Rechtsrucks, gibt es nun einen muslimischen. Der berühmte französische Laizismus wird aufgehoben und Professor François verliert aufgrund seines falschen (keinen) Glaubens sein Amt.
Die Gesellschaft verfällt zurück ins Patriarchat: Frauen erhalten nur eine rudimentäre Schulbildung, sind vor allem die Hüterinnen der Familie, nur wenige dürfen studieren und wenn nur die schönen Künste, was schlagartig viele neue Jobs für Männer schafft und so die Arbeitslosigkeit drastisch reduziert. Der Tagesablauf wird an die Gebetszeiten angepasst, die Essgewohnheiten den muslimischen Speisevorschriften, die saudischen Petrodollars finanzieren die staatlich-muslimischen Universitäten, deren Lehre entsprechend angepasst wird und François flieht vor dem Wandel, sich und der Zukunft quer durchs Land.
Berufsmäßiger Skandalautor
Die Skandälchen, die Houellebecq früher durch seine Sexszenen, seine Person und sein Frauen- und Weltbild hervorrief, sind nichts gegen die Sturm, der über ihn aufgrund von Unterwerfung niederging. Die geringen Quoten der Buchmacher auf einen Skandal gingen nach den Attentaten von Paris wohl auf 0. Der Chef-Anecker Frankreichs eckte mit langem Anlauf an. Wobei die Pünktlichkeit doch erstaunt, denn er hat ja keinen Artikel zwei Tage nach den Anschlägen lanciert, sondern bereits letztes Jahr ein Buch geschrieben, das heute den Zeitgeist so vortrefflich spiegelt.
Betrachtet man nun aber dieses Buch, das Gero von Randow bedrohlich Nichts für intellektuelle Feiglinge nennt, genauer, möchte man die Presse doch bitten das Ganze nicht allzu hoch zu hängen. Klar wird zu Musik vom Typ Walgesang frei von Lust abwechselnd in Muschi und Arsch gefickt, es werden Eier geleckt und mit großer Sorgfalt Sperma von Lippen geleckt. Aber das schockiert inzwischen auch niemanden mehr. Seine Ausführungen zur Politik im allgemeinen, Demokratie und der Trennung von Staat und Kirche im Besonderen, dürften einen aufgeklärten, sich seines Verstandes bedienenden Westeuropäers kaum erschüttern.
Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.
Losgelöst von der ewigen Debatte, um “Das-wird-man-wohl-noch-sagen-dürfen”-Kritik, solcher an Religionen oder deren Auslebung durch den Einzelnen, geht Houellebecq vielmehr drängende Fragen der westeuropäischen Demokratien an. Warum haben so viele Angst, dass ihre Interessen nicht beachtet werden? Warum sind viele so lethargisch und dann wieder so aufgebracht? Wie kann man die schlechteste aller Staatsformen verbessern?
Man wählte einen Mitte-links-Kandidaten, abhängig von seinem Charisma für die Dauer von einem oder zwei Mandaten, ein drittes wurde ihm aus undurchsichtigen Gründen verwehrt. Dann wurde das Volk dieses Kandidaten beziehungsweise der Mitte-links-Regierung überdrüssig – hier ließ sich gut das Phänomen des demokratischen Wechselspiels beobachten -, woraufhin die Wähler einen Mitte-rechts-Kandidaten an die Macht brachten, ebenfalls für die Dauer von ein oder zwei Mandaten, je nach Typ. Seltsamerweise war der Westen überaus stolz auf dieses Wahlsystem, das doch nicht mehr war als die Aufteilung der Macht zwischen zwei rivalisierenden Gangs, nicht selten kam es sogar zu einem Krieg, um dieses System anderen Ländern aufzuzwingen, die diesbezüglich weniger enthusiastisch waren.
So fragt sich der Leser: erkenne ich den Wandel in der Gesellschaft und reagiere ich angemessen darauf? Um mich herum sind die meisten desinteressiert, hoffen es werde alles bleiben wie es war und gestehen sich ihre Furcht vor der Veränderung nicht ein, aber wie agiere ich? Was muss erst geschehen, dass ich aus mir heraus etwas ändern möchte oder mich mit einem vorhandenen Zustand nicht mehr zufrieden gebe. Diese Fragen wird Michel Houellebecq einem nicht individuell beantworten können, aber die Enttäuschung wenn François wieder in seine Lethargie zurückfällt, den Weg des geringsten Widerstands geht, könnte ein Fingerzeig für den Leser sein, etwas mehr Demokratie zu wagen.
Houellebecq warnt den Leser vorm Abstumpfen, dem Totschweigen von Problemen, führt das ständige Distanzieren und Widerrufen von Parteien vor, die dann doch aus politischen Unruhen ihren Nutzen ziehen. Diese Botschaft trägt er, zu seinem Unglück, nicht auf einem Schild vor sich her, sondern hat sie mit der Geschichte verwoben. Daher wird er so häufig Opfer der kritischen Schnellschüsse von Journalisten, die ihm Islam- und Fremdenfeindlichkeit vorwerfen. Unterwerfung ist nicht so plakativ wie The Circle; Houellebecq nicht Eggers. Michel ist witzig, ist gebildet, bösartig und klug, ein genauer Beobachter; er schreibt Literatur, die unterhalten kann, nicht muss. Aber ähnlich wie bei Eggers ist Unterwerfung nicht bis ins Letzte raffiniert konstruiert, in seinem Gang vorhersehbar und trotzdem ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. Nur manchmal wird eben nicht richtig klar was hier gespielt wird: Dystopie, Liebesgeschichte oder die vom traurigen alternden Mann, Politthriller? So wird der Roman zwar automatisch zum Politikum, nicht aber zwangsläufig zu großer Literatur.
Darf der das?
Ohne Frage dürfte Unterwerfung dazu geeignet sein, Menschen zu verletzen, aber so sehr wie den Westeuropäer niedergeschriebenes Eierlecken nicht mehr schockiert, sind wir auch auf dem Gebiet der Toleranz religiöser Kritik weit fortgeschritten. Warum sollte Houellebecq also nicht eine religiöse Dystopie schreiben dürfen? (Wobei es sich meiner Meinung nach nicht einmal um eine solche handelt.) François steht am Ende, soviel darf verraten sein, nicht in einer brennenden Welt, der Eiffelturm und das Parlament bleiben.
Während die reichen Araberinnern tagsüber die undurchsichtige schwarze Burka trugen, verwandelten sie sich abends in schillernde Paradiesvögel: Mieder, transparente BHs, Strings mit bunter Spitze und Schmucksteinen, also genau das Gegenteil der westlichen Frauen, die sich tagsüber sexy und elegant kleideten, weil ihr sozialer Status auf dem Spiel stand, abends aber zusammensanken, in unförmige Freizeitklamotten stiegen und beim Gedanken an Verführungsspielchen nur müde abwinken.
Houellebecq beobachtet und beschreibt erst mal nur wie die unterschiedlichen und verschiedenen Kulturen zusammenprallen. Dem Leser bleibt die Interpretation überlassen, ob er Frauen gerne tagsüber oder abends oder gar nicht sexy haben mag. Klar darf der das (beide: Autor und Leser)! Als meine kleine Schwester nach ihrem Auslandssemester aus Südkorea wiederkam und von den neusten Trends berichtete – Transplantation von Schamhaaren gegenüber Rasur zur Kindfrau oder Flucht vor jedem Sonnenstrahlen gegenüber dem Bräunungswahn der Europäer – berichtete sie ebenso wertfrei wie Michel, einen Skandal haben beide nicht verdient. Wahlweise die deutsche oder französische Fahne öffentlich zu entzünden, steht von meiner Warte jedem frei, nur haben die Brandstifter das Buch wohl meist nicht gelesen oder die Erzählung meiner Schwester nicht aus erster Hand – Zorn, Hass und Wut sind unangebracht, weil unberechtigt.
Vor allem schürt Unterwerfung keinen Hass (recte: sollte keinen Hass erzeugen), es stachelt nicht auf, es entwirft eine andere Welt, die nicht einmal als besonders schlecht, nur als anders, dargestellt wird. Houellebecq sagt nie, dass er den Islam ablehnt, kritisiert diesen sehr moderat, ebenso aber auch jede andere Religion. Dieser Roman wird weder das Abend- noch das Morgenland zum Einsturz bringen, er möge doch aber bitte zum Einsturz von Denkverboten führen.
Sapere aude, Feigling!
“Sagen wir es so: Man wird nicht reaktionär, wenn man das Buch anfasst – aber es ist auch nichts für intellektuelle Feiglinge”, schließt Gero von Randow und liegt damit ziemlich falsch, gerade der intellektuelle Feigling sollte zugreifen, er kann nur lernen. „Es hat noch nie jemand seine politische Meinung geändert, weil er ein Buch gelesen hat“, sagte Houellebecq bei der Präsentation des Buchs in Köln. Von der Möglichkeit einer Meinungsänderung abgesehen, die ich durchaus für möglich halte, fängt aber vielleicht der Leser an zu hinterfragen. Das Interesse kann doch häufig am besten durch Kontroversen und Anecken erweckt werden; in dieser Hinsicht machen Houellebecq wenige etwas vor.
Wow! Und mit was für einer Verve Du Deine Rezension geschrieben hast, lieber Tilman! Ganz große Klasse. Leicht sowie sogar amüsant formuliert! Beifall!
Bleibt mir nur noch eine Frage: Bin ich jetzt eine intellektuelle Feiglingin, weil ich derzeit einfach keine Lust verspüre, mir dieses Buch des einsamen, traurigen, alten Mannes reinzuziehen? Die stelle ich jetzt rein rethorisch.
Aber: Intellektuelle Feiglinge, vermute ich, werden es weder lesen und wenn doch, voraussichtlich nicht bereit sein, daraus zu lernen.
Du bist natürlich kein Feigling!
Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob man so mega viel verpasst, liest man das Buch nicht. Natürlich ist der aktuelle Zeitbezug ein schlagendes Argument, aber es mag auch sein, dass, je nach Entwicklung, diese Betrachtungen bald schon wieder obsolet sind. Den Zeug zum Klassiker möchte ich Unterwerfung jetzt (zum momentanen Zeitpunkt) nicht bescheinigen.
Eine gut geschriebene Besprechung; aber immer noch nicht weiß ich, ob ich dieses Buch lesen soll. Eine Exkursion in die Feuchtgebiete mag kein Aufreger mehr sein, aber eben auch überflüssig, jedenfalls in einem Buch über Toleranz oder Defizite im politischen System.
Nenne mich altmodisch, aber das gefällt mir selten. Macht er denn etwas aus dem Huysmans-Bezug? Das wäre literarisch doch interessant! „Gegen den Strich“, wo es ja um den Rückzug ins Private geht, vor dem Setting des Romans aufgespannt und dann schauen, was das hundert Jahre später heißen könnte. Das fände ich nun wieder lohnend.
Schön, dass Du es ansprichst, denn das habe ich aus der Rezension herausgelassen: Unterwerfung ist (auch) eine Liebeserklärung an die Literatur und ihre Möglichkeiten. Gerade bei den Huysmans-Bezügen spürt man, dass sich Houellebecq intensiv mit diesem und seinem Werk auseinandergesetzt hat.
„Allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Größe, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt.“
Ja, und auch das muss ich zu Houellebecqs Schutz sagen, die Sexszenen zeigen gerade auch wie isoliert der Held in seiner Welt steht, lust- und lieblos vollzieht er nur, Befriedigung empfindet er selten – selbst in Zwei- und Dreisamkeit ist er ziemlich allein.
Zu Deiner Antwort und dem Kommentar von nw2013 sowie einer Besprechung bei libroskop: Immer mehr verdichtet sich mein Eindruck, ich brauche das Buch nicht.
Irgendwann wurde über Michel Houellebecq geschrieben, er leide an einer Form des intellektuellen Autismus. In dem von Dir genannten Zitat: „Allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem anderen menschlichen Geist…“ spiegelt sich das ein wenig. Wie traurig, wenn das nur die Literatur vermag. Und letztlich – auch die Auseinandersetzung mit dem Werk eines anderen geschieht aus der Warte der eigenen Person. Sprich: Ich hol mir aus dem Goethe, Brecht, wem auch immer, das was mir entspricht oder mich anspricht. Von daher lese ich lieber „Gegen den Strich“ selbst.
Ja, er (der Autor) und seine Figuren: Vereinsamte Einzelgänger, die immer entseelten Sex pflegen – und dies ist dann meist das Höchste der Gefühle. Ein wenig hatte ich mir von der Unterwerfung etwas anderes erhofft – aber so, wie ich die Besprechungen jetzt lese, ist es wieder ein „typischer“ Houellebecq.
Hier muss ich einfügen, dass er sich vorher auch wohlwollend über Kunst und Musik äußert, habe gerade das gesamte Zitat leider nicht zur Hand; mein Ausschnitt verfremdet es tatsächlich etwas.
Der intellektuelle Autist scheint aber insgesamt ein passenden Bild für Autor und seine Figuren!
Lieber Tilman, danke für deine Besprechung mit Verve, die ich mal schmunzelnd, mal mit leichtem Kopfschütteln, aber immer mit Vergnügen gelesen habe. Dass »Unterwerfung« ein typischer Houellebecq sein würde, wussten wir doch alle vorher schon, oder?!
Allerdings bin ich in diesem Roman auf deutlich mehr Passagen gestoßen, die mich zum Denken angeregt haben, als in früheren Werken des »irren Franzosen«. Er setzt sich meiner Meinung nach durchaus sehr kritisch, sehr philosophisch und nachdenklich mit dem aktuellen Zustand unserer Gesellschaft auseinander. Ich habe das für mich in meiner Besprechung so auf den Punkt gebracht:
»Er entwirft, gewürzt mit viel Ironie und Sarkasmus, die Möglichkeitsform einer gesellschaftlichen Entwicklung, die am Ende rückwärts gewandt nach vorne schreitet. Kirche, Politik, Kultur und Wirtschaft, alle europäisch-abendländischen, sprich, christlich-jüdisch geprägten Wertesysteme haben versagt. Die einst aus den stabilen Wurzeln eines katholischen Mittelalters entsprungenen Vorstellungen von einer funktionierenden Gemeinschaft aller Menschen sind überkommen. Die Gesellschaft hat sich selbst entmachtet, weil sie sich hat aufreiben lassen von Liberalismus, Laizismus, Kapitalismus und Gleichgültigkeit.«
Der ursprünglich von Dir ausgelassene (aber im Kommentar dann doch erwähnte und als tragend erkannte) Rückgriff auf Joris-Karl Huysmans – dem Francois übrigens mehr ähnelt, als er glaubt – und die Reflexionen über Wurzeln, Wert, Entwicklung und Verfall des »Abendlandes« machen für mich diesen Roman sehr gewichtig.
Große Literatur? Nun, darüber ließe sich durchaus streiten; auch unter dem Gesichtspunkt einer wohl schnellschussmäßig erfolgten Übersetzung. Aber wichtig ist das Buch mit seinen enormen Thesen und Gedankenspielen schon.
lg_jochen
Du hast natürlich Recht der Huysmans Aspekt fehlt in der Rezension, war erst angedacht, wurde dann aber kurzsichtig von mir, ob der Fülle und Länge herausgelassen, ist aber natürlich für alle Literaturinteressierten eine wichtige Referenz und für eine bestimmte Form der Lesart, die allerdings nicht in der klassischen Presse stattfindet, also umso mehr hierher gehört hätte, essentiell.