Im Januar haben wir im Rahmen unseres Lesekreises 54reads Maya Angelous „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ gelesen. Der Lesekreis hat seinen eigenen Twitter Account @54reads und der jeweilige Hashtag wird immer aus #54reads zusammen mit den Initialen der aktuellen Autor*in gebildet. Unter #54readsMA kam eine Reihe von interessanten Hinweisen, Diskussionen und Gedanken zusammen, die ich hier mit meiner Rezension für den DLF verschränke.
Ich muss sagen, dass es mir wirklich große Freude gemacht hat, mich durch die im Kontext von #54readsMA entstandenen Rezensionen zu lesen. Die Vielfalt der Perspektiven wurde ja schon auf Twitter sichtbar. Schön!
— Berit Glanz (@beritmiriam) 1. Februar 2019
Maya Angelou wurde als Margerite Annie Johnson 1928 in St. Louis geboren. Nach dem Scheitern ihrer wilden Ehe schickten die Eltern sie im Alter von drei Jahren zusammen mit ihrem nur ein Jahr älteren Bruder Bailey nach Stamps in Arkansas zur Großmutter. Mit dieser Reise beginnt „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“, der erste Teil der Autobiographie von Maya Angelou.
Stamps selbst ist eine „muffige, alte Stadt“ in den Südstaaten. Dort ist die Großmutter „Momma“ als Eigentümerin eines Gemischtwarenladens glimpflich durch die Weltwirtschaftskrise gekommen. Maya und Bailey wachsen daher, zumindest finanziell, relativ behütet auf. Ganz anders geht es da den schwarzen Handlangern und Hausmädchen, vor allem aber den Baumwollpflückern, die sich während der Saison schon frühmorgens bei Momma versorgen. Maya sieht sie fröhlich zur Arbeit auf dem Feld aufbrechen und abends geschunden heimkehren. Schon das Kind realisiert, dass die Arbeiter so wenig verdienen, gleich wieviel sie pflücken, dass es doch nie reichen wird, um auch nur die Schulden bei Momma zu tilgen. Auch Maya leidet, trotz finanzieller Sorglosigkeit, unter der Diskriminierung.
Religion spielt für die afroamerikanische Bevölkerung von Stamps eine wichtige Rolle. Die Erzählerin denkt darüber immer wieder nach und sucht nach Gründen. Ganz besonders in Kapitel 18. https://t.co/a96Ki60NJx
— Birgitt (@Fadenshine) 13. Januar 2019
Die Rassentrennung ist im Stamps der 1930er und 40er Jahre so absolut, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht einmal wissen, wie Weiße aussehen. Angelous Rückschau wird dabei nicht aus der völligen Distanz der Erwachsenen erzählt, sondern bedient sich durchaus Gestaltungen von kindlichen Schilderungen ohne sprachlich aufgesetzt zu sein.
also ich fand die Sprache sehr passend – alles schon recht aus der Sicht des kleinen Mädchens, das da spricht. Nicht aus der erwachsenen Sicht. Das macht es mir auch nicht ganz einfach, aber fühlt sich nicht unstimmig an. #54readsMA
— Feiner Buchstoff – von den üblichen Verächtigen (@von_bri) 15. Januar 2019
Das Mädchen hat früh gelernt, dass Weiße anders sind, dass man sie fürchten muss. Selbst in ihrer Abwesenheit ist es besser, nur Andeutungen zu verwenden und von „denen da“ zu sprechen. Menschen im Wortsinn sind für Maya nur ihre Nachbarn, ihre Freunde, andere Schwarze. Rassentrennung grenzt nicht nur die Schwarzen aus dem Leben der Weißen aus, sondern ebenso umgekehrt.
Mir ist bei diesem Buch erstmals die Groß- und Kleinschreibung von “Black“ & “white“ aufgefallen.
Ich wüsste gern, ob das in der deutschen Ausgabe übernommen wurde?#54readsMAhttps://t.co/Sobf142sZe— Henriette Baron (@pumdideldum) 15. Januar 2019
Als besonders hart und verstörend beschreibt Angelou dann das Aufeinanderprallen dieser Wirklichkeiten, wenn Mitglieder der weißen Unterschicht auf die geliebte, nicht immer einfache, Großmutter treffen. Selbst zerlumpte Kinder können eine erfolgreiche Geschäftsfrau durch das bloße Ausspielen der gesellschaftlichen Gegebenheiten vor der Enkelin demütigen. Hilflos beobachtet Maya eine solche Szene. Ihr bleibt unverständlich, wie die von ihr verehrte Großmutter die Demütigung stoisch entgegennehmen und sogar noch höflich gegenüber ihren kindlichen Peinigern bleiben kann.
„Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ hat viele solcher Schlüsselszenen, etwa das Einfallen der Eltern in Stamps und der Umzug zurück zur Mutter nach St. Louis. Besonders traumatisch wirkt dort nicht das Neuerleben von Rassentrennung, nun in der Stadt, statt auf dem Land, sondern der sexuelle Missbrauch durch den Lebensgefährten der Mutter.
Das Verbrechen selbst nimmt nur wenige Sätze ein. Doch diese legen sich bleiern über die gesamte Erzählung. Die achtjährige Maya ist paralysiert.
#54ReadsMA Kapitel 12.
Nach all den Tweets zu diesem Kapitel fragt man sich, ob es denn wirklich so schlimm sein kann.Und ja, kann es. Es ist furchtbar, und ein Satz daraus bzw. sein Ende im Besonderen. 1/2
— T•O•B•I (@SebbeOne) 12. Januar 2019
Aus Angst um ihren Bruder, den der Vergewaltiger umzubringen droht, sollte sie etwas erzählen, schweigt sie zuerst. Doch nachdem ihr Bailey den Namen des Täters entlockt, kommt es zum Prozess. Maya Angelou schildert ihre eigenen Demütigungen dabei so sachlich, dass sie schwer zu ertragen sind. Als einige Familienmitgliedern für Maya Rache nehmen, empfindet man beim Lesen beschämenderweise fast Erleichterung. Die Achtjährige verstummt ob dieses Traumas. Aus dem selbstgewählten Schweigen taucht Maya erst wieder auf, als eine Bekannte ihrer Großmutter sie mit Literatur in Verbindung bringt. Mit Dickens, Thackeray und vor allem Shakespeare findet Maya ihre Sprache wieder.
[K15, S. 110ff.] Dieses Kapitel finde ich besonders bemerkenswert. Nicht nur wird Bildung und insbesondere Literatur zum „Rettungsanker“ von Maya. Die Rolle von Mrs Bertha Flowers scheint hier in vielerlei Hinsicht entscheidend für Ihre weitere Entwicklung. #54readsMA #54reads
— CookieGER (@CookieCGN) 2. Januar 2019
Neben kleinen Akten der Rebellion prägt vor allem die kindliche Hilflosigkeit angesichts der Rassentrennung das Heranwachsen von Maya.
Edward Donleavy, ein Bürokrat, der auf der Abschlussfeier von Mayas Schule eine Lobrede auf die Verbesserungen in der Ausbildung hält, führt allen Anwesenden vor, dass hierdurch eigentlich nur das Vorankommen der sowieso privilegierten Weißen vereinfacht wurde. Jedem Absolventen weist Donleavy seinen Platz in der Gesellschaft zu: Während weiße Jugendliche die Chance haben, Galileos und Madame Curies zu werden, dürfen die schwarzen Jungen lediglich versuchen, Jesse Owens oder Joe Louis zu werden, die Mädchen sind ganz aus dem Spiel. Alle Versammelten erstarren und sind beschämt. Die Freude über den ersehnten Festtag ist vergällt. Und auch Maya ist zunächst entsetzt.
Erst jener Musterschüler, der die Abschlussrede unter dem Motto „Sein oder Nicht sein“ halten soll, durchbricht die Fassungslosigkeit des Publikums. Außerplanmäßig stimmt er die „afroamerikanische Nationalhymne“ „Lift Ev’ry Voice and Sing“ an und gibt allen Anwesenden die in Minuten zerstörte Identität zurück. An dieser wie an vielen andern Stellen feiert Angelou die Kraft von Worten, Musik und Literatur.
[K15, S. 110ff.] Dieses Kapitel finde ich besonders bemerkenswert. Nicht nur wird Bildung und insbesondere Literatur zum „Rettungsanker“ von Maya. Die Rolle von Mrs Bertha Flowers scheint hier in vielerlei Hinsicht entscheidend für Ihre weitere Entwicklung. #54readsMA #54reads
— CookieGER (@CookieCGN) 2. Januar 2019
„Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ endet, bevor die abenteuerliche berufliche Laufbahn der Autorin beginnt und eine Biographie wie keine zweite geprägt wird. Mit dem Buch setzt sie Mitgliedern ihrer Familie ein literarisches Denkmal und schreibt wie beiläufig eines der größten Memoirs über die Rassentrennung und über die Selbstbehauptung einer jungen, schwarzen Frau. Dabei sollte, abgesehen von den literarischen Qualitäten, die Selbstverständlichkeit, mit der Rassismus bis heute in unserer Gesellschaft verankert ist, Angelous Werk zur Pflichtlektüre in Schulen werden lassen. „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ ist ein literarisches Mahnmal – leider immer noch. Richtig und wichtig daher, dass der Suhrkamp Verlag dieses grandiose Buch in der Übersetzung von Harry Oberländer neu aufgelegt hat. Die nicht alle zeitgemäß und gelungen finden und daher vielfacher Aufhänger für Diskussionen war.
Versteh nur ich es nicht? Was hat es mit dem „er“, „erer“ auf sich, das der Vater spricht? (s. 67, deutsche Ausgabe) #54readsMA
— Moritz Bensch (@BenschMoritz) 1. Januar 2019
„Die Kindergruppe (…) gickelte und gackelte“
Das hat mich auf der ersten Seite schon mal rausgebracht. Giggeln kannte ich noch – aber so wirkt die Übersetzung schon etwas antiquiert. Ging das mehreren hier so? Oder hat das nur mich stolpern lassen? #54readsMA— Marius (@Literatur_Papst) 14. Januar 2019
Gerade immer wieder geflasht davon, dass dieser Text von 1969 ist! #54readsMA
— Simon Sahner (@SamsonsHirne) 6. Januar 2019
Maya Angelou, ausgelesen. Zentraler Satz für mich: Die schwarze Frau »gerät in dreifaches Kreuzfeuer von Vorurteilen: des unlogischen weißen Hasses, der schwarzen Ohnmacht und des männlichen Chauvinismus.« Bin nach #54ReadsMA bei #54ReadsKB wieder dabei.
— Gabriele Kalmbach (@typotravelette) 12. Januar 2019
Rezensionen anderswo:
https://zeichenundzeiten.com/2019/01/31/maya-angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://buch-haltung.com/maya-angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://buechnerwald.wordpress.com/2019/01/08/ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
https://www.54books.de/angelou-ich-weiss-warum-der-gefangene-vogel-singt/
Ich habe 54ReadsMA fertig gelesen und noch ein paar lose Gedanken zu dem Buch. (Spoiler!)
— Berit Glanz (@beritmiriam) 19. Januar 2019
Angefixt. Ich muss es wohl doch lesen. Danke!