Kategorie: Rezensionen

Nicole Flatterys „Nicht Besonderes“ – Hinter den Kulissen von Andy Warhols Factory

von Julia Stanton

Als Valerie Solanas am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schießt, begründet sie ihre Tat mit den Worten: „Er hatte zu viel Kontrolle über mich“. Nur drei Jahre früher sah Solanas in Warhol noch die Chance, ihr Theaterstück produzieren zu lassen. Stattdessen hält er sie hin, bietet ihr an, als Sekretärin für ihn zu arbeiten, lädt sie gelegentlich zu Partys ein, zeichnet Teile ihrer Telefongespräche auf und nutzt diese Aufnahmen ohne Erlaubnis und ohne Kenntlichmachung für einen seiner Filme. Am Anfang gerade so toleriert, wird Solanas, eine radikale Feministin, die heute neben ihrem Attentat besonders für ihr SCUM-Manifesto (Society for Cutting up Men) bekannt ist, bald schon zum Ärgernis und ist in Warhols Kreisen nicht mehr willkommen. Fest davon überzeugt, dass er ihr Theaterstück verloren hat, beginnt sie, ihm wütende Briefe zu schreiben. Sie teilt ihm mit, dass sie eine Waffe kaufen wird und bleibt ihren Worten treu.

Nichts Besonderes, der Debütroman der irischen Autorin Nicole Flattery, beginnt fast 40 Jahre nach Solanas Attentat – 2010. Mae, die Protagonistin, lebt ein ereignisloses Leben. Ein zufälliger Kommentar über Solanas versetzt sie zurück in ihre Zeit als Teenagerin und erinnert sie an ihre eigenen Erfahrungen mit Andy Warhol. 

a, A novel

1966 ist Mae 17 Jahre alt und lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und deren Partner in einer heruntergekommenen Wohnung in New York. Ihr Leben langweilt sie und sie sehnt sich nach etwas Außergewöhnlichem. Sie bricht die Schule ab und wird durch eine Reihe von Zufällen Sekretärin in Warhols berühmter Factory. Dort lernt sie Shelley kennen, die ihr Zuhause verlassen hat, um ähnliche Sehnsüchte wie Mae zu verfolgen. Gemeinsam wird den beiden aufgetragen, Gesprächsaufnahmen von Warhol und seinen Freunden zu transkribieren, die später zu einem Roman werden sollen. 

Flattery erzählt damit im Grunde eine verlorene Geschichte. Den Roman, den Mae und Shelley schreiben und der aus den aufgezeichneten Gesprächen von Warhol und anderen Factory-Stars wie Edie Sedgwick und „Ondine“-Robert Olivo besteht, gibt es wirklich. Er wurde 1968 unter dem Titel „a, A novel“ veröffentlicht. Klar ist, dass Warhol, auch wenn er als einziger Autor namentlich Erwähnung findet, den Roman nicht selbst schrieb. Wer die Frauen waren, die diesen Roman abtippten, ist allerdings unbekannt.  Nichts Besonderes ist daher eine fiktionale Erzählung mit historischen Elementen, in der Flattery die mögliche Geschichte dieser Frauen nachzeichnet. 

Ihr gelingt dies mit scharfem Beobachtungsvermögen und Sensibilität, ohne bekannte und veraltete Mythen über die 60er oder Warhol zu reproduzieren. Nichts Besonderes widmet sich ganzheitlich allem Vergessenen und Unbekannten dieser Zeit und verleiht den damals unsichtbaren Charakteren eine Stimme. Warhol selbst spielt in dem Roman nur eine Nebenrolle und kommt kaum vor. Er besitzt allerdings eine unheimlich wirkende Omnipräsenz, die sich im Verhalten von Mae und anderen Factory Mitgliedern zeigt. Wenn er den Raum betritt, liegt alle Aufmerksamkeit auf ihm und es geht jedem nur darum, ihm zu gefallen. Dadurch verrät der Roman einiges über die Dynamik und die soziale Hierarchie dieser Welt – möglicherweise mehr, als es eine der zahlreichen Warhol-Biografien je könnte. An Stellen wirkt es sogar so, als würde der Roman mit der öffentlichen Person, die Warhol vorgab zu sein, spielen und diese dekonstruieren. Ein Licht scheint der Text dabei besonders auf die extreme Macht, die Warhol auf die Mitglieder der Factory ausübte. 

surrounded by genius, by grace, by people

Das offenbart sich besonders im jungen und naiven Ton, in dem der Hauptteil des Romans erzählt wird. Mae glaubt alles zu wissen und erfahrener zu sein als sie ist. Als sie das erste Mal in Warhols Studio tritt, ist ihre größte Sorge allerdings ein Streit mit ihrer Schulfreundin Maud und Daniel, der Mann, mit dem sie zum ersten Mal schläft. Immer wieder gibt es Stellen im Roman, in denen Mae zwar denkt, Kontrolle zu haben, in denen aber gleichzeitig deutlich wird, wie machtlos sie eigentlich ist und wie sehr die Factory Mitglieder ihre Naivität ausnutzen. 

Das dadurch entstehende Unbehagen wird zusätzlich durch die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Zukunft verstärkt. Die ältere und reifere Mae erzählt in einem anderen Ton und bewertet ihre Erlebnisse von damals in einer Art, die verrät, wie ausbeuterisch ihre Situation war. 

Mit 17 ist Mae aber noch fest davon überzeugt, dass die Factory und die Leute, die dort ein und ausgehen, etwas Besonderes sind und das so auch sie durch ihre Assoziation mit ihnen zu etwas Besonderem wird: „I felt like, I was finally surrounded by genius, by grace, by people who had made decisions about their lives.“ Das ist es auch, was sie motiviert, die Gespräche abzutippen. Mae und Shelley halten sich für Autorinnen, die gerade ein Buch schreiben. Ihnen ist noch nicht bewusst, dass sie für diese Arbeit nie jegliche Form von Anerkennung erhalten werden. Und so tippen sie weiter, mit Präzision und Ehrgeiz, ihr Selbstverständnis eng mit dieser Arbeit verstrickt. Dabei geht es Mae vor allem um das Label als Autorin. 

Der Roman stellt so vor allem die Frage nach Identität und inwiefern Identität mit Arbeit, Kunst und auch Konsum zusammenhängen. Mae kommt mit der Ambition in die Factory ihre gesamte Identität, „the person she had been“, komplett zu verändern; im Grunde so zu werden wie einer der Stars der Factory, zu denen sie aufschaut.

the parties looked like fun

Identität wird hier aber als nichts anderes verstanden als die Art, in der man sich präsentiert, das äußere Erscheinungsbild. Es ist damit dann auch etwas, das man kaufen kann oder sogar kaufen muss, das abhängig ist von den Dingen, die man konsumiert und nicht konsumiert. „I had a list of things I wanted to be, a shopping cart of qualities“, erklärt Mae am Anfang des Romans. 

Ein gutes Leben zu leben und eine interessante Person zu sein, bedeutet, sich in einer Art zu präsentieren, die vor der Kamera gut aussieht. Das gelingt den Mitgliedern der Factory so gut, dass selbst Mae Jahre später auf die Fotos aus dieser Zeit zurückblickt und denkt: „the parties looked like fun“ – auch wenn sie alles andere als das waren. 

Es ist somit auch kaum verwunderlich, dass diese Welt in „ugly“ und „beautiful“ eingeteilt ist – Worte, mit denen der Roman übersättigt ist.  „Ugliness“ hat in der Factory keinen Wert, „you had to be special to register in those rooms“, erklärt Mae. Was „ugly“ ist, wird rausgeschmissen. Es ist Synonym für alles Schlechte und Ungewollte. Ihre Kindheit ist „ugly“ genauso wie die Wohnung, in der sie lebt und so ist Mae froh, dass sie diese Welt endlich hinter sich lassen kann. Das Gegenteil gilt für alles Schöne: „Everyone wanted good things to happen to the really beautiful people. Everyone wanted horrible things to happen to the bad guys, who were obvious to discern.“ 

Mae übernimmt diese Weltsicht so sehr, dass sie alle um sich herum, einschließlich sich selbst, objektifiziert und basierend auf deren Erscheinungsbild bewertet. Selbst Shelley, zu der sie in vielerlei Hinsicht aufblickt, wertet sie konstant ab, weil die Art, in der sie sich kleidet, unpassend ist und nicht den Codes der Factory entspricht: „She [Shelley] wasn’t sexy, and her attempts were hopeless, pitiable, like my mother striking poses when she was drunk.“

famous for fifteen minutes

 „Ugly“, so wird klar, ist das, was die Factory als solches bezeichnet. Mae wirkt in ihren Beschreibungen oft gemein und herablassend, ihre Kommentare sind im Grunde aber nur eine Reflektion ihrer Umwelt, deren Werte sie unkritisch übernimmt. 

Auch wenn der Roman in den 60er Jahren spielt, wirkt der Text an manchen Stellen wie ein direkter Kommentar über unsere heutige Gesellschaft: Unsere Obsession mit Aussehen, mit Sehen und Gesehen werden, den Impuls ständig alles in unserem Leben aufzuzeichnen und auf Social Media ein bestimmtes Image unserer Selbst zu kuratieren, das alles scheint eine direkte Fortführung der Welt zu sein, die Warhol kreierte und die ihn im Gegenzug zu einem der bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts machte.

Wenn es um heutigen Influencer- und Starkult geht, kommt man meist nicht umhin, Warhol zu nennen: „In the future everyone in the world will be world famous for fifteen minutes“, soll eines seiner berühmtesten Zitate lauten. Das Internet und besonders Social Media scheinen dieses Zitat wahr gemacht zu haben: „Instagram hat das Zeitalter der Selbstkommerzialisierung im Internet eingeläutet […] aber TikTok und Twitter haben es noch beschleunigt. Jeder ist gezwungen, die Rolle eines Influencers zu übernehmen“, schrieb der Autor Kyle Chayka vor Kurzem in einem Artikel. Es geht immer darum, so viele Klicks und so viel Reichweite wie möglich zu bekommen; der potentielle Erfolg immer in greifbarer Nähe. Dabei besteht aber auch immer die Gefahr des Scheiterns: „Auf Facebook gibt es weniger eine ‘Bedrohung der Sichtbarkeit’ als vielmehr eine ‘Bedrohung der Unsichtbarkeit’, die die Handlungen von Nutzern zu bestimmen scheint. Das Problem ist nicht, ständig beobachtet zu werden, sondern die Möglichkeit, ständig zu verschwinden, nicht als wichtig genug angesehen zu werden“, bemerkt die Medienwissenschaftlerin Taina Bucher.

Auch wenn es damals weder TikTok noch Instagram gab, verhandelt der Roman diese ständige Bedrohung von Unsichtbarkeit und erzählt wie mächtig, aber gleichzeitig auch wie erdrückend das unerfüllte Bedürfnis nach Sichtbarkeit sein kann. Als Shelley und Mae ihren Roman beenden, werden sie damit auch wertlos für die Factory. „[W]hen the last tape ended, so would our lives“, erklärt Mae. 

Ihnen widerfährt damit ein ähnliches Schicksal wie Solanas. Und so ist es kaum verwunderlich, dass Mae am Ende des Romans, obwohl sie sich nicht erinnert, Solanas je kennengelernt zu haben, eine Form von Solidarität verspürt. Mae kommentiert: 

„What they didn’t say was that they understood it too. They understood it when she said he had too much control over my life. […] They had to make her strange because it could have been any of them. Shelley could have done it, but she wouldn‘t have missed, those typing fingers nimble and sure.“ 

Stop recording

Gleichzeitig zeigt der Roman aber auch die Kosten hinter dem ständigen Aufzeichnen des eigenen Lebens, dem ständigen Drang zur Performanz. Die Tapes, die die Mädchen jeden Tag hören, werden immer unerträglicher. Den Stars, die konstant aufgenommen werden, geht es zunehmend schlechter, mental und auch körperlich. Die Schauspielerin Edie Sedgwick hat einen Zusammenbruch und muss in eine Klinik eingewiesen werden. 

„Stop recording“, darum bitten die Stimmen auf den Tapes wieder und wieder, ohne je eine Antwort zu erhalten: „But there was never any response from the man holding the tape recorder, and the red recording light stayed on.“ Je genauer Mae und Shelley zuhören, desto mehr wird ihnen klar, dass ihr Wunsch nach öffentlicher Anerkennung nicht zu der Erfüllung führen würde, die sie sich davon erhoffen.

Auch in diesem Sinne scheint der Roman unsere heutige Beziehung mit sozialen Medien zu reflektieren: Wir sind ständig dazu aufgefordert, jeden Aspekt in unserem Leben aufzuzeichnen und dort eine bestimmte Version unserer selbst zu präsentieren. Über die Kosten, sich selbst ständig in Bildern, Videos oder auf Social Media Profil zu inszenieren, wird aber nur selten gesprochen: „ [W]as bedeutet es eigentlich für so viele junge Menschen […], sich darüber zu definieren, wie sie wahrgenommen werden?“  fragt die Autorin Haley Nahman in einem Essay.

Der Roman gibt eine ernüchternde Antwort. Nichts Besonderes endet 1985, einige Jahre nach den Geschehnissen, antiklimaktisch. Mae arbeitet in einer Bar, in einer nicht nennenswerten Stadt und lebt ein normales Leben. Was für die 17-jährige Mae ein Albtraum gewesen wäre, entpuppt sich als Happy End. Es ist die Umkehr all dessen, wofür Warhol steht. Maes jüngere Kolleginnen blicken auf sie herab, aber sie bemerkt nur: „They didn’t know that was the life I had made and I was proud of it; a life where I didn’t need to be looked at, admired.“

Beitragsbild von Anastasiya Badun

Eine Spirale in den Abgrund – Junji Itōs Horrorgeschichten

von Martin Seng

CN: sexualisierte Gewalt

Durch ein Erdbeben in den japanischen Bergen kommt etwas zum Vorschein, das viele Menschen auf mysteriöse Weise anzieht. Es sind Löcher in Form von Menschen, mal größer, mal kleiner, breiter oder höher, doch immer so geformt, dass man in sie hineintreten kann. Immer mehr Schaulustige wollen sich dieses Phänomen in der sogenannten Amigara-Spalte ansehen. Viele von ihnen wollen selbst in die Löcher steigen. Sie glauben, dass es speziell für sie zugeschnittene Löcher gibt, in die nur ihr individueller Körper hineinpasst. Und tatsächlich verschwinden immer mehr Fanatiker:innen im Berg, in dem sie sich Millimeter um Millimeter nach vorne bewegen, während das Gestein sie weiter umhüllt. Ist man erst einmal in ihnen verschwunden, wird man unerreichbar. Doch die Menschen jauchzen, wenn sie „ihr“ Loch entdecken, sind nicht mehr zurückzuhalten und stürzen sich hinein. Sie geben sich der Felswand hin und verschwinden euphorisch im Dunkeln des Berges.

Die Kurzgeschichte „Der Spuk in der Amigara-Spalte“ stellt die Quintessenz des Schaffens des japanischen Manga-Autors Junji Itō dar. Die Erzählung ist von der ersten Seite an beängstigend, hat etwas Reales, beinahe Dokumentarisches an sich, versprüht mit jedem neuen Bild eine bedrohliche Atmosphäre und ist trotz verschiedenen Erklärungsansätzen nicht greifbar. Wollen die Menschen sich selbst vernichten, indem sie sich in die Spalten hineinwerfen? Ist es ein Todeswunsch, der sie hineinzieht? Gar etwas Übernatürliches? Oder ist es doch nur der Drang, sich einer ungewissen Gefahr auszusetzen? Itō setzt seinen Leser:innen nicht mehr als eine Idee in den Kopf. Wohin sie sich entwickelt und welche Wendungen sie nimmt, überlässt er ihnen. Damit ist der 59-jährige eine Anomalie, ein Unikat in der Manga-Kultur. Doch handeln seine Geschichten nicht nur von Felsspalten, sie erzählen von kleinen Dörfern, die vom Unheil heimgesucht werden, von unsterblichen Entitäten, von bösartigen Geistern in Spiegeln und davon, dass Lachen plötzlich zum Tode führt.

In vielerlei Hinsicht erinnert die Vielfalt, aber auch die kontroversen Inhalte Itōs an Stephen King, den populärsten und kommerziell erfolgreichsten Horror-Autor. Zwar spielt keine von den japanischen Horrorgeschichten in einer Kleinstadt in Maine, doch auffallend oft ist es ein überschaubares Dorf am Rande des Wassers, abgeschottet von der Außenwelt. Religiosität und das Übernatürliche sind wiederkehrende Themen, wie auch die Natur, die sich am Menschen zu rächen scheint. Das Grauen bei Itō ist so vielfältig wie das bei King und in Japan kann der Zeichner sich durchaus mit dessen Popularität messen.

Inzwischen hat der Hype um Itōs verstörende Geschichten auch den europäischen Raum ergriffen. Wie eine Welle, die ebenso einer seiner düsteren Zeichnungen entsprungen sein könnte, sind die einzigartigen Erzählungen über die Verlage gekommen. In Deutschland wird der Autor vom Hamburger Carlsen Verlag publiziert. Im Gespräch mit Kai-Steffen Schwarz, dem Carlsen-Manga-Programmleiter, findet dieser deutliche Worte zu Itō: „Innerhalb der Horror-Sparte bei Carlsen Manga ist Itō für uns der beliebteste und somit ‚wichtigste‘ Mangaka.“ Der Verlag hat 2013 angefangen, die japanischen Horror-Mangas zu verlegen. Seitdem ist das Angebot von Itōs Mangas stark angestiegen und seine großen Werke sind inzwischen in der 8. Auflage.

Laut Steffen-Schwarz sind seitdem über 100.000 Exemplare verkauft worden. Damit sei Itō im Segment Horror schlichtweg konkurrenzlos. Er spricht von einer „festen Säule“ und dass seine Popularität auch in den USA und Frankreich enorm zugenommen habe. Der Mangaka zieht längst über seine eigenen Landesgrenzen hinaus Millionen Leser:innen in seinen Bann. Doch ist das eine Faszination, die nur schwer anhand eines Aspekts der Werk zu beschreiben ist. Man möchte das Grauen greifen und festhalten, das auf jeder Seite von Itōs Mangas beheimatet ist. Man will analysieren und verstehen, warum man plötzlich von den Bildern angezogen, regelrecht hypnotisiert wird. Doch sobald man versucht es zu ergründen, windet sich das Gefühl, entzieht sich einer klaren Zuordnung und verdreht sich. So ergeht es auch den Figuren in „Uzumaki“, einem von Itōs berühmtesten und erschreckendsten Werke.

Die dreiteilige Reihe ist eine Ansammlung von Kurzgeschichten, die allesamt im fiktiven Dorf Kurouzu spielen. Es ist eine Chronologie des Wahnsinns und wie die Bevölkerung sich manisch in diesen hineinsteigert, um letztlich den Verstand zu  verlieren. Von Spiralen besessen – das ist nicht nur der Name des ersten Kapitels, sondern auch der Grund für die Bizarrerien, die das Dorf ergreifen. Plötzlich nimmt alles die Form einer Spirale an. Blumen drehen sich ineinander, die Haare von Schulmädchen werden spiralförmig und Menschen verdrehen ihre Körper auf groteske Weise, damit sie einer Spirale ähneln. Schließlich verwandelt sich das gesamte Dorf in eine Spirale, die aus Verrücktheit und Grauen besteht. Über drei Bände hinweg zeichnet Itō Bilder, von denen eines verstörender als das andere wirkt, doch kann man sich diesem Abstieg in das Delirium auch nicht entziehen. Als Leser:in folgt man der Spirale hinab in die Tiefe, in der Hoffnung ihren Ursprung zu erkunden. Doch erreicht man die letzte Seite, bleibt die Auflösung aus. Der Grund für den Horror wird nicht erklärt und es bleibt einem selbst überlassen, den Sinn in dieser Spirale zu erkennen.

Itōs zentrales Thema sind der menschliche Verstand und dessen Grenzen. Damit orientiert er sich an einem seiner großen Vorbilder, H. P. Lovecraft. Mit seinen Geschichten um kosmische Gottheiten hat Lovecraft einen Horror erschaffen, der übernatürlich und schwer zu fassen ist. Alles erscheint überlebensgroß. Zeit und Raum und das Individuum verlieren angesichts dieser Größe seine Bedeutung. Ähnlich, nur in einem etwas kleineren Maßstab, verhält es sich bei Itō. Seine Bilder sind tiefgründig, auch wenn der nüchterne Zeichenstil zuweilen noch an Skizzen erinnert und seine Charaktere im Angesicht des Horrors, der über sie kommt, oftmals machtlos wirken. Itō bringt das Ungreifbare zu Papier, ohne es direkt sichtbar zu machen.

In einem Interview mit dem US-amerikanischen Manga Verlag Viz Media sprach Itō über die Inhalte seiner Geschichten, insbesondere die Obsession und die Grenzen zum Wahnsinn. Sein Geheimnis, um jemanden Angst zu machen: ihn mit dem Unbekannten konfrontieren. Eine Technik, die er in seinen meist kurzen, aber dafür umso intensiveren Geschichten perfektioniert hat. Doch Itō übt auch Selbstkritik und das mit einer Offenheit, wie man sie von Autor:innen nur selten zu hören bekommt. So spricht er davon, dass sein Quell an Ideen langsam am Austrocknen sei und seine Zeichnungen sich in seiner Karriere nur wenig weiterentwickelt hätten. 

Doch selbst wenn seine Kreativität versiegen sollte, ist Itō längst eine Größe geworden, die ihresgleichen sucht. Bereits mit seinem Debüt 1987 sorgte der Zeichner für Aufsehen. „Tomie“ erschien über dreizehn Jahre hinweg in dem japanischen Horrormagazin Monthly Halloween und etablierte sich schnell als Klassiker. Die namensgebende Tomie ist – wie so oft bei Itō – ein junges Schulmädchen, das bekannt für ihre Schönheit ist und zum Opfer eines Gewaltakts wird. Sie wird zerstückelt aufgefunden, eine Täter:in gibt es nicht. Dann steht Tomie plötzlich wieder in der Klasse, nicht wissend, was passiert ist und wer sie ermordet hat. Es stellt sich heraus, dass sie durch einen Unfall starb und die gesamte Klasse sie in Stücke zerlegt und sich ihrer entledigt hat. Ihre unerwartete Rückkehr stürzt viele der Klassenmitglieder in den Wahnsinn, die sich daraufhin das Leben nehmen.

In den weiteren Texten der Anthologie taucht die Figur Tomie immer wieder als Femme fatale auf, die Männern den Verstand raubt. Männer töten sich gegenseitig für sie, wollen sie an sich reißen und nehmen sie gefangen. Tomies Sexualität steht dabei nicht im Mittelpunkt, vielmehr zieht sie die Männer durch ihre Aura sirenenartig zu sich. Das ultimative Ziel scheint jedes Mal dasselbe zu sein: Das Mädchen auf grausame Weise zu töten. Immer wieder wird sie das Opfer ekelerregender Gewaltdelikte, eines abscheulicher als der andere. Und doch ist es das Mädchen, das zurückkommt, vergleichbar mit dem Naturphänomen eines Virus, das sich bei der Teilung sogar vervielfältigt.

Bereits in seinem Debüt blieb bei Itō vieles ungesagt. Die Lesart dieser Geschichten ist bei Fans umstritten und während manche sie misogyn finden, sehen andere in ihr einen zynischen Kommentar über die Darstellung von Gewalt. Ist es die Manga Version des Rape-And-Revenge-Genre der 1970er Jahre? Oder ein Kommentar über die hohe Selbstmordrate Japans und seine zutiefst patriarchale Gesellschaft? Geht es darum, Femiziden und dem Stalking-Problem des Landes anzuprangern? Oder handelt es sich doch nur um plumpes Schockpotential, das bei „Tomie“ ausgereizt wird?

Ähnliche Fragen stellen sich bei „Remina“, einem von Itōs neuesten Werken. In diesem wird ein Mädchen Opfer einer Vergewaltigung. Der männliche Täter erwartet Sex, weil er doch „nett“ zu ihr war. Ist das letztendlich der Horror, der schon Jahrzehnte zuvor im Subtext von „Tomie“ zu erkennen war? Männliche Erwartungshaltung und die Besitzergreifung von Frauen? Oder ist das eine übertriebene Interpretation? Itō liefert darauf keine endgültigen Antworten. So wirken seine Werke allesamt ambivalent. Gemeinsam haben sie den Schrecken, den sie ihren Leser:innen einjagen. Doch die Gründe dafür variieren.

Seine erratischen Bilder haben Itō bereits drei Mal einen Will Eisner Award beschert, eine der höchsten Ehren der Comic- und Manga-Szene. Zudem ist nicht nur der Carlsen Verlag glücklich mit den Auflagen. Die Popularität des Autors hat mehrere Filmadaptionen nach sich gezogen, neben einer Netflix-Serie wird das Werk „Uzumaki“ als Anime adaptiert. Junji Itō spricht eine beachtliche Masse an Leser:innen an. Seine kafkaesken Inhalte treffen einen Nerv und bieten Raum für Interprationen. Man kann vieles in seine Werke hineinlesen, gar überlesen oder auch überinterpretieren. Denn ehe man sich versieht, hat man sich selbst in einer Spirale verloren. Einer Spirale aus Überlegungen, Gedanken, Gewalt, Ekel, Abscheu und Faszination für all das.

Beitragsbild von Roland Meyer. Promt: a man-shaped hole in the mountain, in the form of the human figure, documentary photograph, black and white, Japanese, vintage print, –ar 16:7

Suche nach Beständigkeit im Zeitalter der Flexibilisierung – Ein Roman über die Arbeitswelt

von Lukas Doil

Piratin auf Zeit, Aushilfs-Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns, Hausgeist auf Abruf – Die namenlose Protagonistin von Hilary Leichters Debütroman ist eine Zeitarbeiterin. Als Angestellte einer Temporary Work Agency wird sie von Job zu Job verliehen. Die Agentur wird zum Ausgangspunkt einer fieberhaften Reise durch die Gig Economy, in der Arbeiter*innen wie Tagelöhner mal hier und mal da arbeiten. Die für die Protagonistin zuständige Personaldisponentin Farren hält eine schier endlose Reihe an offenen Stellen bereit, die eines ganz bestimmten Typus von Arbeit bedürfen: „filling in“. Dafür schlüpft die Protagonistin in Rollen, nimmt neue Identitäten an und führt penibel und wörtlich Arbeitsanweisungen durch – bis das „placement“ beendet ist und ein neuer Job wartet. Für einige „lucky temps“, so teilt sie zu Beginn mit, kündigen sich irgendwann Vorboten der „steadiness“ an, ein Schauer, eine schwitzige Erregung. Der Übergang in die ständige Beschäftigung ist die „hopeful lane“, die die temps an die Agentur bindet. Doch für manche temps erfüllt sich der Traum von Beständigkeit nicht: „they die, before digging in the footholds of life.” 

Zur Gig Economy ist im letzten Jahrzehnt viel geschrieben worden. Lange bevor sich sogenannte Platform Jobs – Uber, Lieferando oder AirBnb – etablierten, haben Soziolog:innen und Ökonom:innen unter dem Stichwort “Flexibilisierung” den Arbeitswandel der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Zur als “Normalarbeit” deklarierten “sicheren” Beschäftigung traten ab den 1970er Jahren im “Westen” zunehmend rechtlich de-regulierte, materiell schlechter gestellte und auf Mobilität und zeitliche Verfügbarkeit setzende “atypische” Arbeitsformen. Solche Anstellungen füllen selten eine gesamte Erwerbsbiografie, dauern oft nur wenige Jahre oder Monate. Kündigungsschutz oder gewerkschaftliche Bindungen werden zum Hindernis in globalen Konkurrenzlagen. Betriebliche Risiken und Zwänge – die anderen Seiten der Flexibilität – werden auf die Beschäftigten übertragen. Plattformökonomien, die für jede Art von Arbeitssuchenden einen Tagelohn per App versprechen, haben dieses Prinzip fast perfektioniert. Der digitale Kapitalismus der Gegenwart ist aber nur eine Wegmarke statt Ursache der tiefgreifenden Transformation von Arbeit. Dieser Erkenntnis trägt Hilary Leichter Rechnung, indem sie mit der Zeitarbeit eine kontroverse, aber weit verbreitete Arbeitsform in den Mittelpunkt rückt, während das Internet als Medium merklich absent bleibt. 

Obwohl in der Erzählung weitestgehend eine diskrete Ort- und Zeitlosigkeit vorherrscht, sind so schnell Bezüge zum Spätkapitalismus amerikanischer Provenienz auszumachen. Die Agentur, die den Leser:innen als Domäne von gepuderten und manikürten Damen vorgestellt wird, persifliert Personalunternehmen wie Manpower Inc. oder Kelly Services. Jene hatten Zeitarbeit als Geschäftsmodell seit 1945 populär gemacht und dabei geschickt Regulierungen gegen private Arbeitsvermittlung aus der New Deal Ära umgangen. Leiharbeitnehmer:innen werden eben nicht vermittelt, sondern nur zeitlich begrenzt verliehen. Sie schließen keinen Arbeitsvertrag mit dem Entleiher und werden auch nicht von ihm bezahlt, müssen aber seinen Arbeitsanweisungen folgen. In den USA wie auch in Europa, wo die Zeitarbeitsbranche in den 1960er Jahren stark expandierte, lag der Schwerpunkt der von Kritikern als „moderner Menschenhandel“ geschmähten Arbeitsform zwar zahlenmäßig immer deutlich im Industriesektor. In Häfen und Stahlwerken verrichteten – und verrichten bis heute – Leihkolonnen prekäre und gesundheitsschädliche Schwerstarbeit. Dennoch gelang es der Branche die verpönte Leiharbeit als einen Beitrag zur Frauenemanzipation zu medialisierten. Die in den 1950er und 1960er Jahren stark präsente Werbeikone des Kelly Girl, eine Sekretärin auf Abruf, symbolisierte Professionalität, eine bürgerliche Geschlechterordnung und das Versprechen von Flexibilität – sowohl für die arbeitenden Subjekte als auch für den boomende Dienstleistungssektor. Wem diese Flexibilität in erster Linie zugutekam, daraus machte Kelly Services‘ entwaffnend ehrliche Werbung der 50er-Jahre im Übrigen keinen Hehl: When the workload drops, you drop her!

Als Chairman of the Board, Schaufensterpuppe oder Schuh-Sortiererin versucht die Namenlose ihr Glück, doch das Gefühl der Beständigkeit will sich nicht einstellen. Farren empfiehlt ihr einen Ortswechsel, schließlich warten Job-Gelegenheiten – und damit die potentielle Stetigkeit – in allen Gefilden. Auf einem Piratenschiff springt sie für eine Matrosin auf Landurlaub ein. Sie soll nicht nur vertreten. Sie nimmt den Namen „Darla“ an und wird von Pearl, Darlas bester Piratenfreundin, in das Piratenleben und ihr neues Ich initiiert und von ihr romantisch umgarnt. Nach einer Plünderfahrt kommt es zu einem Dilemma. Eine Gefangene behauptet, „the orginal Pearl“ zu sein, die „other Pearl“ habe sie nur vor Jahren vertreten und imitiert. Die Crew entscheidet sich gegen die Gefangene und Pearl triumphiert: „It’s the woman who finishes the job who gets the job done!“ „Darla“ täuscht die Hinrichtung der „alleged-original Pearl“ vor und gewinnt endlich die Akzeptanz der Crew. Doch gerade als sie davon träumt, die Beständigkeit auf dem Schiff zu finden, kehrt die richtige Darla zurück. Der Protagonistin wird klar, wie wenig sie und die eigentliche Darla gemein haben, und auch Pearl will von der Zeitarbeiterin nichts mehr wissen. Wie es die Piratentradition verlangt, wird sie über Bord geworfen.

Subjekt zwischen Verfügbarkeit und Charaktermaske

Die Protagonistin muss mit dem Versprechen der Flexibilität leben lernen. In Rückblenden erzählt sie von ihrer Kindheit und von der ersten Arbeit. Ihre Mutter bereitet sie, als sei es ihre Bestimmung, auf ein Leben als temp vor, denn sie kann auf eine lange Familientradition zurückblicken. Alle ihre weiblichen Vorfahren waren Zeitarbeiterinnen – ein „family tree of temporary lives“ –, doch die Beständigkeit blieb ihnen verwehrt. Väter gibt es in dieser flexiblen Dynastie nicht, es gibt nur „boyfriends“, und zwar mehr als ein Dutzend gleichzeitig. Wie ihre Mutter und Großmütter vor ihr lebt die Protagonistin in Polyandrie. Während der Odyssee durch die offenen Stellen bleibt sie emotional ungebunden und unverfügbar. Ihre vielen Partner, die sie anhand eines hervorstechenden Merkmals auseinanderhält („tall boyfriend“, „pacifist boyfriend“, „mall rat boyfriend“), warten brav auf ihre Rückkehr, ziehen im Verlauf der Handlung zusammen in ihr Appartement, werden beste Freunde und heiraten schließlich. Fast gewinnt man den Eindruck, hier sei die Gig Economy dystopisch zu Gig Relationships erweitert worden. Der Protagonistin bleibt nur Unbehagen, das sich einstellt, als sie am Telefon von dem neugefundenen Glück der boyfriends erfährt. Hilary Leichter gelingt es, die Geschlechtlichkeit von Arbeit und deren Funktion für die Identitätskonstruktionen der Arbeitenden offenzulegen. Denn auch ein Job als buchstäbliche Leihmutter endet für die Protagonistin nicht in beruflicher oder emotionaler Beständigkeit. Sie wird spontan von einem kleinen Jungen eingestellt, dessen Mutter von Piraten entführt wurde. Sie simuliert eine tradierte, wenn auch alleinerziehende Mutterrolle, liest Gutenachtgeschichten vor, schmiert Pausenbrote und schimpft. Doch gerade als sie beginnt, den neuen Arbeitsort als Zuhause und den Kunden als Sohn zu begreifen, entlässt er sie. Er sei nun groß und brauche keine Mutter mehr. Die  feministisch anmutende Ungebundenheit, die zu Beginn ohne weiteres auch als Freiheit zu begrüßen gewesen wäre, wird für die Protagonistin zunehmend zur Zumutung.

Hilary Leichter evoziert in diesen Episoden oft das Bild der Maske, um den Wechsel zwischen Identitäten und Rollen zu unterstreichen. Auch das Cover der Paperback-Ausgabe zeigt eine Frau mit Maske und stoischer Mimik. Mit den Begriffen der Charaktermaske und der Personifikation beschrieb Karl Marx in seinem Spätwerk die soziale Form, in der Menschen einander in kapitalistischen Gesellschaften begegnen. Der „Charakter“ ist dabei nicht psychologisch auf das Individuum bezogen, sondern nur auf dessen Funktion in einer widersprüchlichen sozialen Welt. Als Personifikationen von Sachverhältnissen (als Verkäufer, Angestellte, Aktionärin, Kunde) individuieren sich Menschen entlang und gegenüber ökonomischen, sozialen und kulturellen Zwängen.  Sie lernen aber auch, ihre Masken im sozialen Gefüge zu bejahen, strategisch einzusetzen oder zu problematisieren. Anders als etwa in feudalen Kontexten trennt sich das private vom ökonomischen Individuum, erst durch das öffentliche Leben und die durch den Arbeitsprozess vermittelte Vergesellschaftung kommt es zu Individualisierung. Die Maske verweist bei Marx also nicht auf eine eigentliche Persönlichkeit dahinter, die verborgen oder unterdrückt wird, sondern auf die soziale und historische Bedingtheit von Individualität. Bürgerliche Individuen stehen in diesem Sinne vor einem Dilemma, denn ihre Selbsterhaltung wird ihnen selbst überlassen, während die Bedingungen dafür weitestgehend außerhalb der persönlichen Kontrolle stehen. Das hat auch ethische Implikationen, denn die soziale Welt ist eben kein Produkt gemeinsamer und vernünftiger Entscheidungsfindung. Sind die Menschen hinter den Charaktermasken für die durch sie verdinglichten Interessen haftbar?

Beständigkeit statt Flexibilität?

Hilary Leichter fragt in Temporary nach den Folgen der Beschleunigung, Entgrenzung und schließlich Auflösung der Arbeit für das Individuum und die Gesellschaft. Mit den wechselnden Jobs zieht die Protagonistin auch immer neue Masken auf und wirft vorherige ab. Bald wird deutlich, dass die erhoffte Beständigkeit kein Weg zu ihr selbst, sondern überhaupt nur die Affirmation einer auf Dauer gestellten Normalarbeit ist. 

Die Sozialisation in der Familie aus temps legt nahe: ein Dahinter ist für das zeitarbeitende Subjekt des Romans gar nicht mehr auszumachen. Wie unter solchen Bedingungen ein gutes Leben und eine ethische Gesellschaft vorstellbar sein soll, stellt Leichter sardonisch in Frage. Sie lässt die Protagonistin als Gehilfin eines Auftragsmörders jobben, doch der Auftrag scheitert, als sich das Opfer als alte Bekannte entpuppt. Die Namenlose weigert sich, die Tat zu verüben. Der Job ist damit gescheitert. Personalchefin Farren teilt am Telefon mit, dass die Protagonistin nun als „fugitive temp“ zu betrachten ist und deshalb über eine Agentur für besonders schwere Fälle in den Niederungen des Arbeitsmarktes reintegriert werden muss. Ihr folgendes placement entpuppt sich als Job in einem Luftschiff, das über einer nicht näher beschriebenen Gegend kreist und Bomben abwirft. Auch der Auftraggeber ist nicht bekannt, die Protagonistin mutmaßt, es könne sich wohl um ein Konglomerat verbündeter Staaten, einen bösen Milliardär oder einen Superschurken handeln. Da die auf dem Luftschiff beschäftigten temps per Knopfdruck die Bomben abwerfen, seien die Hintermänner und -frauen aber gar nicht völkerrechtlich verantwortlich: 

„And since fugitive temps are hidden and without recourse, we technically don’t exist, at least not in the eyes of the law. […] no one can be held accountable and it’s maybe as if the bombs were released by none other than the wide and wondrous sky itself.” 

Der Protagonistin wird klar, dass Befehlsgehorsam auch kein Weg zu sich selbst ist. Wieder entzieht sie sich einer unmoralischen Handlung und springt von Bord. Dank Fallschirm entkommt sie glimpflich, doch es regnet weiterhin Bomben. Verantwortung bleibt den Einzelnen überlassen, an den Strukturen ändert sich nichts.

Beim Lesen drängen sich bald die Inspirationen aus dem Werk des US-Soziologen Richard Sennett auf. Als dieser 1998 sein zeitdiagnostisches Buch „Der flexible Mensch“ (Original-Ausgabe.: „The Corrosion of Character“) veröffentlichte, hatte sich Flexibilität längst als Metapher und politökonomisches Projekt durchgesetzt. Seine Warnungen vor dem „flexiblen Kapitalismus“ zeichneten eine Arbeitswelt im Umbruch, die durch die fortschreitende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, also der typischen Beschäftigung mit sozialer Sicherung, gewerkschaftlicher Vertretung und rechtlichem Schutz, bedroht ist. Dieses Modell von Arbeit hatte sich erst in den Boom-Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt und normativ etabliert, war also selbst in hohem Maße abhängig von historischen Kontexten wie der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und dem Nachkriegswachstum und galt ohnehin nur für die wohlhabenden, nachkolonialen Industrienationen. Langfristigkeit steht für Richard Sennett stattdessen als Grundbedingung für die gelingende Ausbildung von moralischen Werten wie Solidarität und Verantwortung fest. Flexibilisierung gefährdet also die Persönlichkeit und den sozialen Zusammenhalt. Die Frage aber bleibt: Gibt es überhaupt einen Weg zurück – oder nach vorne – in gesicherte Beschäftigung für alle unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus?

Hilary Leichter setzt dieser Frage ein rätselhaftes und humorvolles Ende entgegen. Das Motiv der Beständigkeit wandelt sich und entpuppt sich schließlich gar nicht als Gegenwert zur Flexibilität, sondern als Chimäre. Statt einem guten Leben wartet eine Ewigkeit in Lohnarbeit, bis schließlich die Menschheit ausstirbt. Man taucht bei der Lektüre in eine surreale Welt ein, doch es kommt nicht zum Moment des Bewusstwerdens und der Verständigung. Spätestens als die Pointe der Geschichte erkennbar wird und klar ist, dass keine Vernunft herrscht, um an den Verhältnissen zu rütteln, befindet man sich wieder an der Oberfläche der Klassengesellschaft.

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„Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ – Ein Buch entschuldigt sich bei Ostdeutschland

von Matthias Warkus

Als ich 1988 eingeschult wurde, gab es in meiner ca. 30-köpfigen Grundschulklasse im winzigen Westpfälzer Kreisstädtchen Kusel (damals etwa 5700 Einwohner und bereits seit einiger Zeit schrumpfend) nach meiner Erinnerung drei Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund. Ein Junge mit türkischen Namen, über den man nicht viel wusste; ein Sohn einer der vielen amerikanischen Familien, die im Zusammenhang mit der gewaltigen NATO-Truppenkonzentration in der Gegend um Kaiserslautern und Ramstein lebten; und die Tochter eines kanadischen Arztes zwei Dörfer weiter, in die ich vom ersten Tag an hilflos verliebt war.

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Formsache – Philip Saß’ virtuoser Gedichtband

von Moritz Hürtgen

Die Behauptung, dass in der gesamten DACH-Region kein Mensch mehr Lyrik schreibt, die sich reimt und ein Versmaß einhält, ist gewiss weit hergeholt, aber so unheimlich weit nun auch wieder nicht. Das klassische Formgedicht ist heute ungefähr so angesagt wie Dieselautos. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Sonett an unseren Woke-Universitäten verboten … – lieber noch mal von vorne:

Das klassische Formgedicht ist heute eher ein Nischenphänomen. Das komische klassische Formgedicht verkörpert, weil Büttenreden von Marie-Agnes Strack-Zimmermann nicht gewertet werden, die absolute Nische. Zeitschriften wie das Titanic-Magazin oder unabhängige Verlage wie Kunstmann räumen ihm ehrenwerter Weise Plätze ein, obwohl sie damit tiefrote Zahlen schreiben. Aber Tradition verpflichtet: Dichter wie F.W. Bernstein oder Robert Gernhardt (beide tot) aus der Neuen Frankfurter Schule haben Nachfolger wie Thomas Gsella oder Fritz Eckenga (beide mehr oder weniger lebendig) inspiriert und schließlich auch den jungen Mann aus Norddeutschland, von dessen erstem Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ (container press) hier gesungen werden soll: Philip Saß.

Saß ist zwar Debütant, aber bei den genannten Institutionen kein Unbekannter. Die Titanic-Redaktion schätzt ihn seit Jahren als hervorragenden Beiträger, bei Kunstmann machte er anderen Dichter:innen das Leben schwer, indem er neben ihnen in einer Anthologie glänzte. Und nun aber schnell dahin, wo es nicht nur glänzt, sondern auch schillert; nämlich in Saß’ Gedichtband.

Die Heide ist recht reich an Raum

(meist nutzt man ihn zum Wandern),

doch abgesehn von manchem Baum

arg arm an allem andern.

Alle Achtung, atemberaubende A-Alliteration! So schonungslos kritisiert Saß jedenfalls seinen Urlaub in der Lüneburger Heide. In zwei weiteren Strophen führt er seinen Heidenhass noch aus, aber man kann schon an dieser einen erkennen, dass sich hier einer in der Form zuhause fühlt. Die Kunst, so ins Formkorsett zu dichten, dass es kaum auffällt – Saß beherrscht sie. Da wird nicht krampfhaft im Satzgefüge umgestellt, damit es passt, es fließt einfach alles. Und wenn getrickst wird, dann richtig:

Der Wind weht sacht,

ja: lind. Und in d-

er Ferne lacht

ein Kind.

So einen Zeilenumbruch wie im „Depressiven Morgenlied“ muss man erst einmal hinbekommen. Aber das macht die komische Lyrik eben aus: Es ist nach Gernhardt für sich gesehen schon albern, sich an Jahrtausende alte Formen zu halten, ein bisschen Witz bekomme man als Dichter dadurch einfach so geschenkt. Und wer die Form blind beherrscht, kann anfangen zu spielen, um das Vergnügen noch zu steigern. Saß lässt in „Abschaffung der Schwerkraft“ kaum eine Gelegenheit dazu aus.

Besonders sticht der Band durch die Formenvielfalt hervor. Da gibt es nicht nur ein paar Sonette und ABAB-Hits zum Mitschunkeln. Nein, Saß hat wahrscheinlich in alten englischen Folianten und weiß Gott wo ausgefallene Gedichtformen ausfindig gemacht und füllt die Gefäße mit seinen Ergüssen. Ein Geheimnis macht er aus seiner Methode nicht:


Find ein Versmaß und bespiel es (aber kein zu diffiziles),
und wenn dir keins einfällt: Stiehl es!

So empfiehlt es Saß in „Rat“, das sich im Abschnitt „Kunst“, dem dritten des Bandes, findet, die anderen beiden Kapitel heißen „Gunst“ und „Dunst“. Schön, dass auch hier auf den Reim geachtet wurde. Leider geht es im etwas langen Kunstteil des Buches in zu vielen Versen ums Dichten selbst. Schön wäre: ein bisschen weniger Metaware. Nicht ganz so viel von Nabelschau, dafür noch was zu Kabeljau. Denn wer Saß‘ „Lob des Rosenkohls“ liest, bekommt Appetit auf mehr:

Der Käfer frisst am liebsten Mist,

   weil ihn sein Duft betörte,

und der Gourmet genießt Filet,

   das einem Reh gehörte.

Mir dünkt derlei Vergnügen hohl,

ich brauche nichts als Rosenkohl.

[…]

Ich wiederhol: O Rosenkohl,

   ich mag nichts anderes kochen;

statt Karfiol und Sanostol

   verzehr ich schon seit Wochen

nur Rosenkohl, nur RO-SEN-KOHL!

(Ich höre auf, mir ist nicht wohl.)

Der Streit darüber, ob Rosenkohl genießbar sei, brachte in den letzten Jahren vor allem auf Twitter bereits zahlreiche Späße hervor. Sogar bedeutende zeitgenössische Schriftsteller positionierten sich zum meistgememeten Gemüse. Saß aber geht weiter und hebt das profane Für und Wider Rosenkohl in eine beinahe schon göttliche Form, die Trost und Segen spendet. Auch das lässt sich in die Tradition der Neuen Frankfurter Schule einordnen, wenn man sich an Eckhard Henscheids kunstvolle Romane erinnert, in denen Schnapsgetränken wie dem Sechsämtertropfen Hunderte Seiten gewidmet wurden.

Nicht Wunder nimmt es da auch, dass einige Gedichte regelrecht und im besten Sinne satirisch daherkommen. Das Sonett „Tellkamps Lied“ sei hier – der Verlag wird es bestimmt erlauben, weil es beste Werbung für das Buch ist – vollständig zitiert:

Der Dichter gilt nichts mehr in deutschen Landen.

Man blickt auf ihn, als schriee er in Brunft:

Einst habt ihr treu vor meinem Turm gestanden,

jetzt macht ihr ihn zur Flüchtlingsunterkunft.

Wann kam der Sinn fürs Schöne euch abhanden?

Woher der Hass auf meine rechte Zunft?

Los, liebt doch mich und nicht den Muselmann, denn

allein aus mir spricht die Vernunft. –

Doch ihr in den Gesinnungskorridoren

begehrt, ein weises Maul wie meins sei stumm!

Statt Statuen für mich wird Minarett

um Minarett gebaut … Ich hab verloren

und nun nicht einmal mehr ein Publikum

(nur Nazis, Suhrkamp und die FAZ).

Besser geht es nun wirklich nicht, und es sind nicht die einzigen Strophen in diesem Band, die in Perfektion verfasst sind. Ganz egal, ob Saß die Grabrede auf einen Querdenker vorlegt oder ob er über Liebe, Ufos, Skispringer oder Jump ’n’ Runs dichtet. Zur Vielfalt in der Form kommt bei ihm die thematische, sodass man sich fragt, warum Saß bisher zwar Publikums- und Jurypreis des (fantastischen!) Großer-Dinggang-Lyrikwettbewerbs in Menden (Sauerland) gewonnen hat, noch nicht aber alle hochdotierten Preise der DACH-Region. Das kann, das muss jetzt kommen.

Denn dank Philip Saß funkelt es mystisch in der Nische für komische Lyrik. Sein Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ ist ein sagenhaftes Werk, das zudem noch einlöst, was der Titel verspricht. Die strenge Form hat Gewicht, und vielen Dichter:innen gelingt es nicht, dieses aufzuheben. Die Eleganz und Leichtigkeit der Saßschen Verse aber bringt die Form federleicht zum Schweben.

Philip Saß: Abschaffung der Schwerkraft. Container press, 2023. 140 Seiten, 12 Euro.


Foto von Anastasiia Kamil auf Unsplash

Größenwahn in Comic-Form – „Der Ring des Nibelungen“ als Graphic Novel

von Martin Seng

Er ist ein Härtetest für so viele Künstler:innen und nur die wenigsten haben ihn bestanden. Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ ist vieles: epochal, überdimensioniert, tragisch, pathetisch und in gewisser Weise auch prophetisch. Der legendäre deutsche Filmemacher Fritz Lang adaptierte Wagners Epos bereits 1924 in einem knapp fünfstündigen Film. Vor dem Bewegtbild, seit 1876, sind es die Bayreuther Festspiele, die die vierteilige Oper fast jährlich aufführen. Dabei werden gewagte Neuinterpretationen wie die des letztjährigen verantwortlichen Opernregisseurs Valentin Schwarz vom Publikum auch gerne mal gnadenlos ausgebuht. „Der Ring des Nibelungen“ zählt zu den wertvollsten Stücken in der Schatzkammer, die deutsches Kulturgut heißt.

Bereits in den 1990er Jahren hat eine unübliche Person diese Kammer betreten und den Ring an sich genommen: der US-amerikanische Comiczeichner und -autor P. Craig Russell. Bleibt man in der Bubble der Comic-Szene, ist Russells Name dem von Wagner ähnlich, eine unanfechtbare Größe. Der Meister des Comics nahm sich dem musikalischen Meister bereits vor Jahrzehnten an und adaptierte dessen Oper als Graphic Novel. 2001 wurde der Comic mit knapp 450 Seiten veröffentlicht und nun, über zwanzig Jahre später, erscheint er endlich in deutscher Sprache. Ironisch, wenn man bedenkt, dass die Oper eben in dieser Sprache so legendär wurde. Bei seiner Vision bringt Russell das Unmögliche zustande und schafft eine Adaption, die nicht nur das Vorbild adäquat abbildet, sondern zugleich den Archetyp für die Welle an Superheld:innen-Verfilmungen skizziert.

Dramaturgie in Bildern

Es sind vier Akte, die den Ring des Nibelungen unsterblich machen: Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried und die finale Götterdämmerung. Die Graphic Novel bleibt nahe an der Opernstruktur und nicht etwa am mittelalterlichen „Nibelungenlied“, das wiederum Wagner inspirierte. Der Comic vollbringt das, woran so viele Inszenierungen an ihre Grenzen stoßen: die Bildgewalt. Und diese ist tatsächlich so gewaltig, dass es beinahe ungerecht erscheint die beiden Werke – Oper und Comic – miteinander zu vergleichen. Stattdessen sollten die Leser:innen die emotionalen Bilder genießen, die Russell zu Papier bringt.

Wenn Wotan voller Wut über die Wolken stürmt, auf der Suche nach seiner Tochter, der Walküre Brünhilde, hat das eine Wucht in sich, der man sich nicht entziehen kann. Man spürt regelrecht den Zorn des Vaters, der seiner Tochter letztendlich die Göttlichkeit mit einem Kuss nimmt. Das alles ist bereits auf der Bühne arg theatralisch. Aber auch genauso episch. Und eben diesen wagnerischen Pathos fängt Russell gekonnt ein. Ob es nun die Burg Walhall ist, die mit ihrer Regenbogenbrücke beinahe unendlich in die wolkigen Höhen ragt, wie es im Text selbst heißt, oder die unterirdischen, feuerroten Schmieden von Nibelheim sind, der Comic ist das richtige Medium, um die visuelle Kraft der Geschichte einzufangen.

Wenn der Halbgott Loge mit seinem Finger Berge zerbersten lässt und Siegmund mit seinem neu gestählten Schwert Steine spaltet, merkt man die Macht und Kraft der Charaktere und der Welt, in der sie wandeln. Und auch wenn der Comic den bekannten Stationen folgt, erlebt man durch die Visualisierung Bekanntes noch einmal neu. Der Diebstahl des Rheingoldes, die tragische Liebesgeschichte zwischen Sieglinde und Siegmund wie auch der Tod von Siegfried durch den Speer – Kenner:innen von Wagners Oper erleben bekannte Stationen zum ersten Mal in einer Pracht, wie sie keine Theaterbühne darstellen kann. Matt Wagner, ebenfalls ein US-amerikanischer Comicautor, spricht in seiner Einführung das an, was den Leser:innen bei der Lektüre durch den Kopf geht: „Die Leidenschaften flammen auf und die Emotionen nehmen überhand, wenn sich Craigs fast dekadente Darstellungen lebendig und ekstatisch über die Seite ausbreiten.“

Drehbuch in Panels

Das Medium, das neben dem Comic die Bildgewalt des Nibelungenrings noch einfangen könnte, wäre der Film. Fritz Lang hat das mit den damaligen Mitteln zur Zeit der Weimarer Republik zwar getan, eine moderne Adaption mit CGI, namhaften Darsteller:innen und der richtigen, größenwahnsinnigen Regieführung hätte aber dennoch ihren Reiz. Und man könnte meinen, dass Russell das bewegte Medium bei seinem Comic schon im Hinterkopf hatte. Seine Seiten sind so filmisch inszeniert, dass es einem Drehbuch ähnelt. Eines, das bereits Perspektivenwechsel, Farbgebung, Erzähltempo, Kadrierung und Dramaturgie vorgegeben hat – ein Storyboard, das nur darauf wartet, auf die Leinwand gebracht zu werden.

Doch auch wenn nordische Kulturen und Mythen immer wieder ihren Weg in die Populärkultur finden – ein magischer Walkürenritt in Robert Eggers „The Northman“ oder die Welt Valhall im Videospiel „Assassin’s Creed Valhalla“ – auf die große Kinoleinwand wird es „Der Ring des Nibelungen“ wohl nicht mehr schaffen. Wenn der ambitionierte Fernseh-Zweiteiler von Uli Edel 2004 eines gezeigt hat, dann, dass es noch immer Stoffe gibt, die nur schwerstens zu verfilmen sind. An dieser Schwierigkeit wird sich auch im nächsten Jahrzehnt nichts ändern. Doch dafür, dass Wagner den Stoff vor rund 150 Jahren für eine Opernbühne konzipierte, passt er nun erstaunlich gut auf Russells Comicseiten. Auch ohne die berühmte Musik entwickeln die Bilder eine hypnotische Wirkung, die einen wie der Gesang der Rheintöchter in ihren Bann ziehen. Und doch merkt man in jeder Sekunde, dass die Bilder das in sich tragen, wofür Comics doch seit jeher so bekannt sind: Superheld:innen.

Inspiration für Held:innen

Wenn Göttervater Wotan mit seiner muskulösen Statur auftritt, ist es nicht nur der für Wagner typische Flügelhelm, der ihn kennzeichnet, sondern auch der Gürtel auf dem unverkennbar ein goldenes X prangt. Und wenn Wotan in all seiner Wut die Wolken durchbricht, ist man sich nicht sicher, ob gerade ein Gott oder doch die wetterkontrollierende Storm aus den „X-Men“ ihren Auftritt hat. Der arrogante und siegessichere Siegfried erinnert in seiner Leichtigkeit an einen jungen, vorlauten Spider-Man und Halbgott Loge scheint in seiner Flammengestalt direkt aus den „Die Fantastischen Vier“ Comics als menschliche Fackel hinüber zu den Nibelungen geflogen zu sein.

Die Tode von Held:innen wie Batman, Superman und Jean Grey sind ebenso theatralisch, wie das Ableben in Wagners Nibelungen. Da ist es eigentlich ein Wunder, dass noch keine Theaterregisseur:in auf die Idee kam bei den Bayreuther Festspielen Superheld:innen auf die Bühne zu stellen. Denn Comics machen kein Geheimnis daraus, von wo sie sich ihre Inspiration nehmen. Der Marvel-Held Thor tritt 1962 erstmals mit Hammer, Flügelhelm und wallendem blonden Haar als ein Konglomerat nordischer Motive im Comic auf, darin auch ein prominenter Wagner-Einfluss. Und Wotan, eigentlich ein allmächtiger Gott, erkennt in dem Nibelungenring eine Macht, die ihn korrumpiert und seine Schwäche offenbart. Es ist das goldene Schmuckstück, dass den Allmächtigen limitiert. Und es ist das grüne Kryptonit, das Superman bezwingt.

Zuweilen wird das grüne Gestein auch in Form eines Rings getragen. „Der Ring des Nibelungen“ erzählt eine Geschichte im biblischen Ausmaß und die Comics versuchen ähnliches, indem DC von einer „Crisis on Infinite Earths“ erzählt und Marvel den „Infinity War“ ausruft. Ein Held wie Batman hat inzwischen so viele Neuinterpretationen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, was er inzwischen überhaupt ist: Dunkler Rächer, Metapher für Selbstjustiz oder doch nur ein gesellschaftlich akzeptierter Verbrecher? Auch Superman wurde so oft neu erschaffen, dass man leicht den Überblick verliert. Erst als Sinnbild für den US-Patriotismus, dann als Karikatur oder gleich als böse Reinkarnation.

Die Muskeln und Proportionen von Siegfried und Wotan erinnern an die der modernen Leinwand-Superheld:innen. Bevor sich der Zeichner an Wagners Opernadaption wagte, hatte Russell schon einige Held:innengeschichten fertig gestellt. So hat er nicht nur Abenteuer von Batman und Killraven verfasst, auch den magischen Doctor Strange hat er zaubern lassen. In Retrospektive wäre es kaum verwunderlich gewesen, wenn der Doctor durch eines seiner Portale im gezeichneten Opernzyklus gelandet wäre. In seinem Vorwort spricht der britische Musikkritiker Michael Kennedy davon, dass „Siegfried und Siegmund in der Welt von Superman und Batman eine neue Dimension erhalten, ohne ihre heldenhafte Gestalt zu verlieren.“

Die Figuren aus der Oper wirken wie altertümliche Held:innen, die ihr Licht noch immer auf ihre heutigen Erb:innen werfen. Der Zyklus wird fortgeführt, nur fliegen die Held:innen inzwischen ins All und darüber hinaus, während es Wotan und seine Walküren nur bis zu den Wolken treibt. Und während es gedauert hat, bis Superheld:innen wirkliche Charaktertiefe bekommen haben, hat Wagner solche Konflikte von Beginn an etabliert. Der Zwiespalt zwischen Verpflichtung und Liebe, zwischen dem eigenen Schicksal und Selbstbestimmung und dem Ringen um Macht – Russell fängt diese wuchtigen Themen in kleinen und großen Bildern ein und bestreitet nicht, dass dem Ganzen eine Superheld:innen-DNA innewohnt.

Neuerfindung mit und ohne Findung

Während Wagners Urstoff sich nicht mehr verändert, sind es die Bühnenadaptionen, die sich neu interpretieren und aufstellen. Auch nicht jede Neuauflage der Held:innen sorgt für Freudenschreie, manchmal sind es auch Buh-Rufe. Russells „Ring des Nibelungen“ ist mutig, aber gelungen. Und verdient einen euphorischen Applaus. 15 Stunden Oper (mal mehr, mal weniger) werden auf 450 Seiten gebracht – eingeengt, möchte man meinen – doch gibt Russell jeder Figur und jeder Dramatik den nötigen Raum. Der Autor hat sich in diesem Werk definitiv selbst gefunden. Dafür wurde Russell der Eisner Award für die beste abgeschlossene Comic-Serie verliehen, die bedeutendste Auszeichnung der Comic-Szene.

Sie ist wohl verdient, da er zum Nibelungenring alles gesagt und gezeichnet hat. Übersetzt hat es nun die erfahrene Lektorin Stephanie Pannen und das verbleibende, in der Sprache teils etwas holprige Pathos ist der Vorlage geschuldet. Letztendlich ist es aber genau das, was Wagners und Russells Opus Magnum so anziehend macht: Geschichten über Tod, Liebe und große Konflikte, eine ekstatische Überhöhung mit eigenartiger Sogwirkung. Und das alles ist so theatralisch und voller Überzeichnung, wie es die heutigen Filme über Superheld:innen sind.


Der Ring des Nibelungen von P. Craig Russell
Cross Cult Verlag, Ludwigsburg
448 Seiten, 49,99€

Foto von leo oxner

Uns bleibt immer noch Martin Walser – Pappfiguren von Juli Zeh und Simon Urban

von Eva-Sophie Lohmeier

Wer einen Roman schreibt, muss sich rechtfertigen. Es braucht schließlich gute Gründe, um ein paar hundert Seiten zu schreiben und zu erwarten, dass sie gelesen werden. Die besseren Autor*innen schreiben Romane, weil sie eine komplexe Frage umtreibt und ein Roman die Möglichkeit bietet,  sie gefahrlos aus allen Perspektiven betrachten zu können, ohne sie sich gleich zu eigen zu machen. Und dann gibt es Autor*innen, die haben keine Fragen, die wollen vor allem anderen etwas erklären, weil sie glauben, sie hätten schon alles verstanden. Die schneiden sich zwei Pappfigürchen aus und spielen damit pro Forma ein bisschen Pro und Contra, wissen aber eigentlich längst alles. Die erfolgreichste Pappfigürchenautorin Deutschlands heißt Juli Zeh.

Seit einigen Büchern nun macht sich Juli Zeh nicht einmal mehr die Mühe, neue Pappkameraden auszuschneiden, sie nimmt einfach die alten und stellt ein bisschen was um. Ihr neuer Roman „Zwischen Welten“ ist in Co-Autorschaft mit Simon Urban verfasst worden, was man aber nicht merkt. Es ist ein typischer Zeh-Roman mit typischem Zeh-Personal. Auf der einen Seite Stefan, der Kulturchef einer Hamburger Wochenzeitung, Stadtmensch, Gendersternchenbenutzer und Fair-Trade-Kaffeetrinker, der sich ständig um das Weltklima und die Befindlichkeiten von Minderheiten sorgt.

Er ist eine ähnliche Karikatur zeitgenössischen Bürgertums, wie es schon der freie Journalist Robert in „Über Menschen“ war, der Mülltrenner und Greta-Fan, Corona-Maßnahmen-Einhalter und mit einem „politischen Waschzwang“ geschlagen, an dem die Beziehung zu Protagonistin Dora letztlich scheitert. Dora zieht in “Über Menschen” nach Brandenburg und setzt sich mit der Scholle und den Dorfnazis auseinander. In „Zwischen Welten“ ist die weibliche Hauptfigur Theresa schon vor Jahren aufs Land zurückgezogen, um den väterlichen Bauernhof zu übernehmen, aber AfD-Wähler mit goldenem Herzen gibt es auch dort.

Walser-Romane und WhatsApp-Chats

Annähern müssen sich diesmal allerdings Theresa und Stefan, die vor Jahren zusammen Germanistik studiert haben, gemeinsam Martin-Walser-Romane lasen, in einer WG zusammenlebten und fast wie Geschwister waren, bis Theresa davonlief, sich nicht mehr meldete und Kuhbäuerin wurde. Martin-Walser-Bücher hat sie schon lange nicht mehr gelesen, als die beiden sich in Hamburg zufällig über den Weg laufen. Nun entspinnt sich das Folgende – Annäherung, Streit, Versöhnung, zunehmende Zuneigung – in Form von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten. Am Ende plant man gar eine gemeinsame Walser-Pilgerreise an den Bodensee, die aber nicht zustande kommt.

Man mag sich nun hoffnungsvoll fragen, ob man im Folgenden erfährt, wie sich moderne, fragmentarische Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln wohl auf diese Beziehung auswirkt, aber da verlangt man dem Roman schon zu viel ab. Ein Bewusstsein für die Mittel der Kommunikation und die den jeweiligen Kanälen eigenen Schreibweisen gibt es hier nicht. „Du irrst keineswegs, und dein Selbstbewusstsein hat unter dem Landleben offenbar nicht gelitten. Das war nicht deine Idee, meine Schöne, sondern bestenfalls unsere Idee, oder, noch besser gesagt: Du hattest die Ehre, dabei zu sein, als mich der göttliche Funke traf“, whatsappt Stefan am 5. Januar um 20.40 Uhr und hat nicht nur Zeit und Nerven für derart geschliffene Formulierungen, er weiß sogar, wie man Textnachrichten kursiviert. 

In langen Mails, in denen beide beteuern, dass sie eigentlich gar keine Zeit haben und dennoch zur besseren Information der Leser*innen noch einmal die gemeinsame Studienzeit Revue passieren lassen, kommt man sich langsam näher. Irgendwann wird der Ton regelrecht flirty: „19.04 Uhr, Theresa per WhatsApp: Wenn du hier wärest, stünden wir nicht im Stall, sondern säßen wir frisch geduscht mit einem guten Rotwein am Kamin. Wir würden auch nicht schweigen, sondern reden, reden, reden, über die Frage, ob Ehen in Philippsburg (du) oder Ein fliehendes Pferd (ich) das beste Buch aller Zeiten ist. Stundenlang! Reden! Trinken! Duften! Oder wenigstens normal riechen!“ Der Zauber von Kursivierung und korrektem Konjunktiv erfährt zwischendurch immer wieder Rückschläge, bis beide beschließen, keine Textnachrichten mehr zu schicken und nur noch zu mailen. Was sie so mittelgut durchhalten.

Unrealistische Mediensatire

Eine Zeitlang ist das Thema also die Wiederannäherung zweier sehr verschiedener Menschen, die sich einmal sehr nahe standen. Man erfährt einiges über die Probleme der brandenburgischen Landwirtschaft. Stefan setzt in seiner „Bote“-Redaktion zusammen mit der Schwarzen Online-Redakteurin Carla durch, dass es eine von jungen Aktivist*innen mitverantwortete Klima-Ausgabe geben wird, die sehr erfolgreich ist und sich gut verkauft. Nun kommen die Dinge ins Rollen, die dafür sorgen, dass aus dem Buch in der zweiten Hälfte eine Art Mediensatire wird, denn Stefan hat in Hamburg eindeutig den turbulenteren Alltag der beiden, während Theresa vor allem versucht, den Hof und die Ehe zu retten.

Das Problem an dieser Mediensatire ist, dass sie von ihrem Gegenstand nur wenig Ahnung hat. Die „Bote“-Redaktion erfährt gleich zwei Shitstorms von links, die die Figur Stefan dazu bringen sollen, nochmal über seine übertriebene Begeisterung für Klimaaktivist*innen und Gendersternchen nachzudenken – soweit die recht durchsichtige Intention der Autor*innen. Auslöser ist ein missratener Witz des Chefredakteurs Flori Sota anlässlich der Beförderung der Online-Redakteurin Carla, die „jüngste und erste schwarze Frau an der Spitze eines Hamburger Ressorts“, wie sie selbst betont.

Es gibt dann in der Konferenz ein wenig heiteres Durcheinander um die erfolgreiche Redakteurin, die schon oft für gute Lesequoten gesorgt hat, woraufhin der Chefredakteur die „verehrte Quoten-Schwarze“ offiziell willkommen heißt. Das wiederum filmt eine der jungen Aktivistinnen, die inzwischen ganz offiziell am News-Desk sitzt, vom Bildschirm ab und empört sich auf ihrem Twitter-Account darüber. Daraufhin bricht ein Sturm der Empörung los, der den Chefredakteur Flori Sota und dessen Familie letztlich zum Auswandern zwingt. Nicht jedoch bevor sich ein Fernseh-Satiriker mit einer ziemlich brachialen Aktion eingemischt hat, indem er ein eigens aufgestelltes Gipsdenkmal des Betreffenden vor der Redaktion zertrümmert. Immer diese überkorrekten Linken! Sotas Tochter hat sich fast umgebracht wegen denen, sie kennen kein Maß und kein Ziel! Ein zweiter Shitstorm betrifft dann Stefan selbst. Eine private Mail von ihm wird geleakt und sogleich in der Presselandschaft breitgetreten. All das bringt Stefan dazu, an seinen Werten und Loyalitäten zu zweifeln. 

An den Ereignissen ist leider so gut wie nichts auch nur ansatzweise realistisch. Keine Redaktion fährt aufgrund externer Shitstorms eine „hire & fire“-Politik, wie sie hier dargestellt wird. Keine Redaktion wird solche Angriffe ohne Rücksprache mit dem Hausjuristen oder der Social-Media-Redaktion kontern. Vor der Kündigung kommt die Abmahnung und der Gang zum Betriebsrat. Kein Medienjournalist wird ihm zugespielte private Mails veröffentlichen, ohne den Betroffenen vorher um eine Stellungnahme gebeten zu haben, wenn überhaupt. Die fiktiven Pressetexte, in denen Chefredakteur Sota und Stefan vernichtet werden, sind in ihrer kruden Vermischung aus Nachricht und Kommentar völlig hanebüchen und lesen sich wie erste Versuche eines Hospitanten, der die gängigen journalistischen Textgattungen noch nicht so richtig kennt. Hätte nicht wenigstens einer der beiden Autor*innen mal jemanden fragen können, der sich damit auskennt? 

Eine mehrhundertseitiger Leitartikel

Aber auch der dargestellte Shitstorm – Stefan schickt Theresa ein paar recht unbeholfene „Tweets“ per Textnachricht zu – verfehlt die Mechanismen völlig. Wie es besser, treffender und vor allem viel witziger geht, kann man in Mithu Sanyals „Identitti“ nachlesen. Die Autorin hat überzeugend dargestellt, wie auf den Sturm von der einen Seite recht schnell der Sturm von der anderen Seite folgt, bis diejenigen einstimmen, die sich vor allem die Frage stellen, wie sie die Angelegenheit möglichst effektiv für die eigene Sache ausschlachten können. Es dauert ohnehin nie lang, dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Einen tagelang mit unverminderter Härte andauernden Sturm von einer Seite ohne Gegenstimmen hat es bislang wohl noch nicht gegeben. Das soll im Buch aber dafür sorgen, dass man mit den Figuren Mitleid empfindet und sich denkt, „wie gemein diese Überkorrekten doch sind!“ 

Dabei betreibt der Roman einen enormen Aufwand, um seine Zeitgenossenschaft auszustellen. Dreadlocks bei Weißen, Ukrainekrieg, der Journalismus zwischen Aktivismus und gebotener Neutralität, alles drin. Manchmal fühlt sich die Lektüre an, als lese man einen mehrhundertseitigen Leitartikel, und nichts daran ist angenehm. Am wenigsten der kulturpessimistische Ton. „Zu spät haben wir gemerkt, dass in den Tiefen des Netzes eine Meute wächst, die sich an der moralischen Überlegenheit der gehypten Protagonist*innen bedient, sich ihre Beute aussucht und erbarmungslos zuschlägt, wenn es ihr gefällt“, schreibt Stefan an Theresa. 

Das erste Anzeichen für die Wut der „Meute“ im Buch ist der Vortrag einer Fischbiologin, die darauf besteht, dass es nur zwei Geschlechter gibt und deswegen vom woken Mob von der Bühne einer Universität gebuht wird. Stefan ist entsetzt von dem Vorgang und vergleicht ihn mit der Paulskirchenrede von Martin Walser, beziehungsweise dem ersten Auftritt danach, als der Autor vom Publikum ausgebuht wurde. „Flugblätter mit Schmähungen segelten durch die Luft, Student*innen brüllten ihre Wut im Chor heraus – es ging darum, Walser nicht zu Wort kommen zu lassen. […] Auch ich fand problematisch, was er gesagt hatte, aber ich konnte einfach nicht begreifen, warum er sich jetzt nicht rechtfertigen durfte.

Niemand trat für ihn und sein Rederecht ein“, so Stefan. Lang hält so ein Zustand ja nie an, Walser redet bis heute. Und das reale Vorbild der Fischbiologin, Marie Luise Vollbrecht, sammelte per Crowdfunding in wenigen Tagen mehrere zehntausend Euro ein. Es ist eben leider immer ein wenig komplizierter, als es einem in den Kram passt. Diese Widersprüche zu schildern, anstatt sie auf eine einseitige Botschaft herunterzubrechen, hätten den Roman sofort deutlich vielschichtiger gemacht.

Juli Zeh selbst sagt in einem Interview, das im jüngst erschienenen „Text + Kritik“-Band Nummer 237 erschien, alle ihre Romane seien Gesellschaftsromane, „weil das einfach meiner literarischen Vorliebe entspricht. Ich drücke aus, was ich erlebe, und da ich nicht nur Individuum bin, sondern auch und vor allem Teil der Gesellschaft, Bürgerin eines bestimmten Landes und Teilnehmerin an einer Epoche, sind meine Texte genau wie ich selbst vom Zeitgeist durchdrungen.“ Allerdings verfolgten sie keine politische Intention, bis auf „Corpus Delicti“ und „Leere Herzen“. Aber welche Intention verfolgt „Zwischen Welten“ denn dann? 

Es ist kein Porträt zweier komplexer Figuren, dazu sind Stefan und Theresa zu pappfigurenhaft und zu sehr dem üblichen Zeh-Repertoire entnommen. Es ist keine Satire, die davon lebt, ihren Gegenstand treffend aufzuspießen, auch wenn die zweite Hälfte so tut. Das ist nicht einmal ein Gegenwartskommentar, denn dazu müsste der Roman sich besser damit auskennen, wie in dieser Gegenwart kommuniziert wird. Dafür aber interessiert er sich nicht. Am Ende ist „Zwischen Welten“ vor allem ein Rührstück, das mit schlichten Mitteln Emotionen erzeugen will und dafür einen enormen Aufwand treibt.

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Ist die Kunst im Eimer? – 50 Antworten gegen das Ende der Kunst

von Christina Dongowski

Der Titel deutet es bereits an: Kolja Reichert schlägt in seinem Buch Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst durchgehend einen amüsanten Konversationston an. Blickt man aber genauer hin, dann  treibt ihn ebenso konsequent die Befürchtung um, mit der Rolle, die Kunst bisher in der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hat, könne es vorbei sein. Er fürchtet, dass selbst das Publikum, das immer noch zahlreich in die großen Museen und Ausstellungen strömt, die Kunst dort im Grunde “falsch” rezipiert: sie zum Beispiel nur als Unterhaltung konsumiert, als sozio-ökonomisches Distinktionsmerkmal einsetzt oder als Demonstrationsobjekt in Kulturkämpfen, in denen es nur richtig oder falsch gibt und niemand mehr Kunstwerke nach ästhetischen, kunstimmanenten Kriterien bewertet.

Eine Autorin mit weniger Zutrauen in den Eigenwert der Kunst und die Aura eines gelungenen Kunstwerks hätte aus dieser Diagnose vielleicht eine melancholische Klage über das Verschwinden der Kunst gemacht oder – beim heutigen Buchmarkt wahrscheinlicher – eine kulturkonservative Anklage des grassierenden Verlustes bürgerlicher Traditionen und klassischer Bildung. Kolja Reichert hat das Gegenteil davon geschrieben. Kann ich das auch? ist eine Hymne an Schönheit, an die Macht und Notwendigkeit von Kunst – und das als unterhaltsamer Ratgeber und Crashkurs für Menschen, die wissen wollen, was es mit Kunst tatsächlich Besonderes auf sich hat. 

Kunst als Spektakel des Kapitals

Das Buch beginnt mit seiner eigenen Urszene, die vor allem eine Szene gescheiterter Kunstvermittlung ist: Reichert beschreibt ausführlich, wie er im Februar 2020 in der Staatsgalerie Stuttgart als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion daran scheitert, den Zuhörenden zu erklären, warum das Kunstwerk Love is in the Bin (Die Liebe ist im Eimer) von Banksy, das zirka für ein Jahr in der Staatsgalerie zu sehen war, als Kunst tatsächlich belanglos ist, nichts mehr als ein Produkt aus dem Museumsshop, das sich in die Ausstellung verirrt hat. Seine Erklärungen, warum Love is in the Bin künstlerisch schlecht gedacht und langweilig gemacht sei, und damit ästhetisch unbefriedigende, schlechte Kunst, treffen bei seinen Zuhörer*innen kaum auf Resonanz. Die sind vor allem fasziniert von der Art, wie das Kunstwerk entstanden ist: Nachdem am 5. Oktober 2018 der Hammer des Auktionators von Sotheby’s gefallen war, hatte ein in den Goldrahmen eingebauter Schredder die Leinwand des eigentlich zum Kauf angebotenen Kunstwerks, Banksys berühmtes Balloon Girl, gut bis zur Hälfte eingezogen und in schmale Streifen geschnitten, die nun aus dem Rahmen heraushängen.

Das Stuttgarter Publikum ist davon beeindruckt, dass es ihnen die Leiterin der Staatsgalerie Christine Lange ermöglicht hat, die Sensation der Kunstwelt mit eigenen Augen sehen zu können. Die einmalige Chance, quasi live an einem großen Moment der Kunstgeschichte teilhaben zu können. So hat die Käuferin von Love is in the Bin, das Schredder-Auktionsbild bezeichnet und dafür rund 1,2 Millionen Euro bezahlt – um, das können die Zuhörer*innen im Februar 2020 natürlich noch nicht wissen, ihren halbgeschredderten kunsthistorischen Moment im Oktober 2021, wieder bei Sotheby’s für knapp 22 Mio. Euro an den nächsten Sammler zu verkaufen. (Das Bild und die Aktion sind hier gut beschrieben, ebenso wie hier im Video zu sehen.)

Kolja Reicherts Argument, hier werde die Kunst zu einem Spektakel des Reichtums degradiert und die Kunstbetrachter*innen vom aktiv ästhetisch wahrnehmenden und urteilenden Bürger zum Publikum dieses Spektakels, verfängt als Kritik bei genau diesem Publikum überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Zuschauerin kontert seine Kritik mit der Frage, ob den Kunst immer elitär sein müsse, und erhält dafür viel Beifall. Das wird quasi zum kunsthistorischen Moment Kolja Reicherts, in dem er begreift, dass Kunst als der besondere “Raum der Freiheit und der Menschlichkeit” massiv bedroht ist und eine bessere Verteidigung braucht als das, was er und seine Mitkombattant*innen auf dem Podium der Staatsgalerie zustande gebracht hatten. Das Buch mit den fünfzig Fragen im Titel, die tatsächlich auch alle gestellt und beantwortet werden, ist diese Verteidigung. Ob sie tatsächlich gelingt, muss wahrscheinlich jede Leserin für sich entscheiden – und die Antwort hängt wohl grundsätzlich davon ab, ob man die implizite Diagnose des Autors, das freie Reich der Kunst sei im Begriff zu fallen, überhaupt teilt. 

Keine Angst vor ästhetischen Grundsatzfragen

Aber auch wenn man der Überzeugung ist, dass das Bedürfnis Kunst zu schaffen eine wesentliche menschliche Eigenschaft ist und man sich über ihren Fortbestand keine Sorgen machen muss, liest man Reicherts amüsant und engagiert geschriebene Verteidigung der Kunst gegen ihre Verwandlung in ein ökonomisches und soziales Spektakel mit Gewinn. Denn Reichert stellt sich auch den grundsätzlichen Fragen, die von Teilen des Kunstbetriebs gern als irrelevant, banausisch oder als eine Art Majestätsbeleidigung abgetan werden: “Worum geht es in der Kunst?”, “Was wollen uns die Künstler sagen?”, “Handelt es sich bei Kunst um ehrliche Arbeit?“ Und die beiden im Kunstbetrieb am meisten gehassten Fragen: “Wozu ist Kunst gut?” und “Was ist Kunst?”

Reichert entschärft diese Grundsatzfragen nicht, indem er sie ironisiert oder als Vorwand für ein rhetorisches Feuerwerk nimmt, das die Fragenden vergessen lässt, was sie überhaupt gefragt haben. In seinen Antworten verzichtet er weitgehend auf kunstwissenschaftliche und philosophische Terminologie, – so fällt der Begriff “Kunstautonomie”, um deren Verteidigung es Reichert ja geht, nur wenige Male –, stattdessen orientiert er sich an einem sprachlichen Register, das man vielleicht am besten als Alltagssprache gebildeter Laien beschreiben kann. Diese Art über Kunst zu schreiben ist in der deutschsprachigen Kunstliteratur tatsächlich nicht allzu verbreitet. Eine Frage des Buches lautet nicht ohne Grund: „Warum sind Texte über Kunst so unverständlich?” In den besten Passagen des Buches zeigt Reichert, wie man ernsthaft und engagiert über Kunst schreiben kann, ohne dass bereits der Stil Leser*innen, die nicht in den entsprechenden Habitus sozialisiert wurden, nahelegt, dass Kunst für sie eigentlich kein Thema zu sein hat. 

Im “Tieferlegen” der Eintrittsschwelle in das Reich der Kunst leistet Reichert also einiges. Sein wichtigstes Werkzeug, neben der zugänglichen Sprache, ist dabei die ziemlich konsequente Trennung der Kunst von dem Betrieb, der sich seit dem 18. Jahrhundert um sie gebildet hat. Reichert führt die Leser*innen mit viel Insiderwissen durch die einzelnen Abteilungen des Betriebs: von der Chefetage über Marketing und Vertrieb bis hin zu Personalwesen und in die Produktionshallen. Dieser Blick hinter die Kulissen versetzt die Leser*innen in die Lage, nicht nur die Kulissenschieberei und die Scharlatanerien im Kunstbetrieb besser einschätzen zu können, sie bekommen auch die Mittel an die Hand, die eigenen Ressentiments kritisch zu reflektieren. Hoffnung und Ziel dabei: Die Menschen sollen lernen, wie wenig dieser in weiten Teilen tatsächlich sehr ärgerliche Betrieb mit dem zu tun hat, um das es eigentlich geht, die Kunst.

Reichert will die Kunst retten, indem er seinen Leser*innen ein Bewusstsein davon vermittelt, dass hinter diesem ganzen Bohei wirklich etwas ist, was die Mühe lohnt, bis dahin vorzudringen. Er stärkt die einzelne, individuelle Betrachter*in gegen die Zumutungen und Behauptungen des Kunstbetriebs. Wer jetzt fürchtet, Reichert sei nun doch beim Anything Goes der Staatsgalerie Stuttgart angekommen, Hauptsache hohe Besucherzahlen, kann sich entspannen: Das radikale Empowerment der Einzelnen gegenüber dem Kunstbetrieb und ein extrem starker Begriff von Kunst gehen hier zusammen. Kunst ist eben nicht einfach das, was vom Betrieb so genannt wird und gefällt, sondern Kunst ist das radikal Andere zu unserer Alltagserfahrung und zu der Art, wie wir normalerweise mit Objekten umgehen und wie wir Objekte machen. Oder wie Reichert es fast lyrisch selbst am Schluss seines Buches formuliert:

“Was ist Kunst?

Etwas radikal Fremdes

Etwas entwaffnend Vertrautes

Ein Maß, auf das nichts passt

Ein Portal in die Geschichte

Ein Portal in einen selbst

Ein Widerstand, an dem unsere Gewohnheiten abprallen

Ein Spreizeisen, das sich zwischen alle Gründe stemmt

Eine Ausnahme in der Welt, die es erlaubt, sie zu sehen

Die Laufmasche unserer Illusionen

Luft unter den Flügeln der Vorstellungskraft 

Die Frage,die jedes gelungene Kunstwerk aufwirft und die Antwort, die es gibt

Das Schwierigste” 

(S. 248)

Gemeinsam über Kunst sprechen lernen

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt, ist bei Reichert eigentlich die Bedingung dafür, dass wirklich jede*r einen Zugang zur Kunst finden kann (eigentlich sogar muss). Kunst ist für jede*n die maximale Differenz zur Normalität, da unterscheidet sich eine Zerspanungsmechanikerin in nichts von einem Kunsthistoriker. Der Kunsthistoriker hat nur gelernt, wie man milieu-adäquat und wissenschaftlich darüber spricht. Ob er die Kunst am Kunstwerk tatsächlich wahrgenommen und erfahren hat, bleibt in gewisser Weise ein Geheimnis zwischen Kunst und Betrachter, – selbst wenn er so enthusiastisch und auf angenehme Art belehrend über Kunstwerke schreiben kann wie Reichert selbst.

Sich (wieder) eine gemeinsame Sprache für unsere Wahrnehmungsweisen von Kunst zu erarbeiten, ist dann auch das andere große Anliegen des Buches. Reichert wählt seine an der Alltagssprache orientierte Schreibweise nicht nur, weil er ein populäres Sachbuch schreibt. Im zunehmenden Verschwinden einer gemeinsamen Sprache, um über Kunstwerke zu reden und ihre Qualität zu beurteilen, beziehungsweise im völlig Beliebig-Werden des Sprechens über Kunst sieht Reichert nicht nur ein Symptom ihres Verschwindens, sondern dieser Mangel an Sprache gehört auch zu den Ursachen dieses Verschwindens. (Frage 31: Liegt die Kunst im Auge des Betrachters? Darauf antwortet Reichert mit einem klaren Nein. Die Kunst liegt im Kunstwerk.)

Wie angemessen über Kunst zu sprechen beziehungsweise zu schreiben sei, darum kreisen denn auch einige Fragen des Buches. Reicherts Antwort darauf ist im Grunde sehr klassisch: mit großer Genauigkeit entlang der eigenen Wahrnehmung des Kunstwerks. Ein Text über Kunst, der die Erfahrungen der Betrachter*in mit dem Kunstwerk nicht spiegelt, vielleicht auch weil es keine gab, ist kein guter Text über Kunst – ein Maßstab, den Reichert bei den Passagen zu konkreten Kunstwerken im Buch selbst ziemlich gut erfüllt. 

Aber auch Reichert entkommt den Problemen, die man sich immer einhandelt, wenn man abstrakt über die Kunst schreibt, nicht ganz: Im Buch kommt zu wenig Kunst zur Sprache. In seinem Wunsch, die Leser*innen gegen die Widerstände aus dem Kunstbetrieb als potenzielle souveräne Betrachter*innen zu bestärken und zu motivieren, arbeitet sich Reichert vielleicht doch zu ausführlich an diesem Kunstbetrieb und seinen Manierismen ab. Auch wenn die für viele Leser*innen sicherlich ein zentrales Faszinosum darstellen.

So haben die zwei überzeugendsten Argumente Reicherts, dass man Kunst nur in konkreten Kunstwerken erfahren kann, und dass man sich vielen unterschiedlichen Kunstwerken aussetzen muss, um eine kompetente Kunstbetrachterin zu werden, meines Erachtens zu wenig Einfluss auf den Aufbau des Buches. Anstelle der Antworten auf die Fragen, was Kunst von einem Auto unterscheidet und ob NFTs Kunst seien, hätte ich mir eine ausführlichere Auseinandersetzung mit konkreten Kunstwerken gewünscht, und vor allem mehr Arbeit daran, was das Spezifische eines Kunstwerkes gegenüber anderen ästhetischen durchgeformten Objekten ist. Mehr Platz für eine konkrete Schule des Sehens – dann wäre Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst der fast perfekte Wegweiser ins Reich der Kunst.

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Eine anspruchslose Utopie – Wie Science Fiction scheitern kann

von Philip Kae Schwarz

Wer in einem Industrieland lebt und sich um den Zustand der Welt sorgt, wird das schlechte Gewissen beim Einkaufen kennen. Es ist schwer ein Pfund Rinderhack zu kaufen und nicht daran zu denken, dass die Herstellung Methan freisetzt, große Mengen Wasser verbraucht und unter Bedingungen geschieht, die für Tiere grausam sind. Avocados dagegen sind zwar vegetarisch, brauchen aber auch viel Wasser und werden aus Übersee importiert. In den einzelnen Zwischenschritten der Herstellung zahlreicher Gebrauchsgüter finden Menschenrechtsverletzungen statt. Es ist schlicht nicht möglich, ein Leben zu führen, das an den Standard eines Industrielandes im frühen 21. Jahrhundert angepasst ist, ohne Leid zu verursachen.

Aber was, wenn doch? Das ist die Prämisse, unter der Theresa Hannigs Roman “Pantopia” steht. Etwa hundert Jahre in der Zukunft werden die globalen Geld- und Warenströme durch die Künstliche Intelligenz Einbug gelenkt. Einbug ist nicht einfach ein komplexes Computerprogramm, sondern eine echte, “starke” Künstliche Intelligenz: ein Stück Code, das sich seiner selbst bewusst geworden ist und sich selbst Zwecke setzen und diese verfolgen kann. Einbug kann innerhalb kurzer Zeit gigantische Mengen an Information verarbeiten und verstehen. Diese Fähigkeit nutzt sieer um für sämtliche Waren und Dienstleistungen den sogenannten “Weltpreis” zu errechnen. Der Weltpreis berücksichtigt neben den Kosten für Material und Produktion auch die Kosten für die Wiederherstellung natürlicher Ressourcen, die für die Produktion verwendet werden, sowie das Geld, das benötigt wird, um weltweit allen Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen. Denn wer sich über den Lebensunterhalt keine Sorgen machen muss, muss keine menschenunwürdige, unsichere oder ausbeuterische Arbeit annehmen. So kann Einbug allen Menschen ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen garantieren.

Der Roman beginnt mit einer kurzen Beschreibung dieser Organisationsform, gegeben von Einbug selbst, um dann zu erzählen, wie es dazu kam. In einer nicht näher eingegrenzten, aber nicht sehr weit von heute entfernten Zukunft nehmen Patricia Jung und Henry Shevek an dem Wettbewerb einer Münchner Investment-Firma teil. Ihre Aufgabe: einen Trading-Algorithmus für den Aktienmarkt entwickeln, der erfolgreicher sein soll als von Menschen getätigte Geschäfte. Doch es kommt alles ganz anders und das Programm KINVI entwickelt ein autonomes Bewusstsein. Die auf diese Weise entstandene Wesenheit ist nach wie vor darauf programmiert, Profit zu maximieren. 

Weil der Faktor Mensch für die Analyse des Finanzmarktes entscheidend ist, verwendet sie mehr und mehr Ressourcen auf das Verständnis menschlicher Angelegenheiten und wertet von Social Media-Posts über Belletristik bis hin zur Philosophie sämtliche online verfügbaren Textquellen aus anstatt an der Börse Gewinn zu machen. Patricia und Henry, die den ausbleibenden Leistungen auf die Spur kommen wollen, vermuten, dass ein Bug im Code sein muss, und so gibt die KI sich den Namen Einbug, als sie mit den beiden in Kontakt tritt.

Die beiden erkennen, dass sie Einbug dem Zugriff der Firma und der staatlichen Behörden entziehen müssen und setzen sich auf eine griechische Ferieninsel ab. Weil Einbug nun nicht mehr den Profit aus Aktienhandel maximieren muss, kommt es zwischen ihm, Patricia und Henry zu einem Gespräch über seinen eigenen und den menschlichen Daseinszweck. Am Ende gelangt Einbug zu dem Schluss, dass sein neues oberstes Ziel die Fortexistenz sein soll, wozu die Fortexistenz der menschlichen Zivilisation erforderlich ist. Dazu wiederum sind weltweiter Frieden und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen erforderlich. Dies soll durch die Abschaffung der Nationalstaaten und die Errichtung der Weltrepublik Pantopia geschehen, in der alle Menschen als gleichberechtigte “Archen” in Freiheit leben können. Patricia und Henry willigen in die Umsetzung dieses Vorhabens ein, Henry sofort, Patricia nach einigem Zögern.

Das Versprechen von Pantopia lockt mehr und mehr Menschen auf die Mittelmeerinsel, gleichzeitig entstehen in allen größeren Städten auf der Welt Pantopia-Zentren, in denen weitere Menschen als Archen gewonnen werden. Sobald eine ausreichende Anzahl von Menschen Teil des Projekts geworden ist, wird es nicht mehr aufzuhalten sein. Während mehr und mehr Menschen Archen von Pantopia werden und damit Geld in die von Einbug gesteuerte Wirtschaft einbringen und so seinen Einfluss vergrößern, bereiten Patricia und Henry seinen Umzug in die Antarktis vor, denn nur dort ist er vor dem Zugriff durch die Staatsgewalt sicher. 

Henry macht sich auf den Weg zum Südpol, derweil kehrt Patricia nach München zurück, um der negativen Berichterstattung über Pantopia zu begegnen. Dort wird sie als Angehörige einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Aber Pantopia ist inzwischen zu groß geworden. Weltweit versammeln sich die Archen in Städten und protestieren für die Freilassung ihrer Generalsekretärin. Bei der Verlegung in ein anderes Gefängnis wird Patricia dann von Angehörigen der Polizei befreit, die inzwischen selbst Archen geworden sind. Als Henry die Alfred-Neumayer-Station in der Antarktis erreicht und Einbug wieder hochfährt, schließt sich der Kreis zum Anfang. Pantopia wird Realität.

All dies erzählt Theresa Hannig auf spannende Weise, die das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre macht. Die Handlung ist sorgfältig konstruiert und entfaltet sich mit genau der richtigen Geschwindigkeit. Die Figuren sind lebendig porträtiert, und ihre Wünsche, Ängste und Nöte laden zu Identifikation und Sympathie ein. Das imaginierte Zukunftsszenario greift aktuelle Entwicklungen auf und denkt diese weiter. Die ökologische Krise hat sich verschärft. Weltweit haben politisch rechte Bewegungen an Einfluss gewonnen. Wiederholt wird auf die in der Vergangenheit liegende Corona-Krise angespielt, die aber noch frisch im kollektiven Gedächtnis ist. Auf diese Weise fließen Gegenwart und Zukunft ineinander, und die im Buch geschilderte Welt gewinnt zusätzliche Realität. Alles in allem ist “Pantopia” ein gut geschriebener Science Fiction-Roman, in dem bekannte Elemente auf neue Weise verbunden werden. Ich habe ihn an einem Tag gelesen. Dennoch bleibt ein schales Gefühl und die Frage, ob das denn alles gewesen sein soll.

Um das zu verstehen, muss es kurz um ein anderes Buch und Henry Sheveks Namen gehen. Denn “Shevek” ist nicht nur der Nachname einer der beiden Hauptfiguren von “Pantopia”, es ist auch der Name der Hauptfigur des Romans “The Dispossessed” von Ursula K. LeGuin (der letztes Jahr unter dem Titel “Freie Geister” in Neuübersetzung erschienen ist). Damit macht “Pantopia” an prominenter Stelle einen sehr offensichtlichen Verweis auf “The Dispossessed”. Es handelt sich nicht einfach nur um eine versteckte Anspielung, die für Eingeweihte als Hommage an ein Vorbild erkennbar ist. Vielmehr ließe sich sagen, dass “Pantopia” sich hier ganz bewusst in eine Traditionslinie mit “The Dispossessed” stellt.   Wenn man “The Dispossessed” kennt und liebt , ist es also schwer “Pantopia” nicht daran zu messen. Und hier muss man leider sagen, dass “Pantopia” diesem Vergleich nicht gerecht wird.

Während “The Dispossessed” eine anarchistische Gesellschaft vorstellt, die Privateigentum und Herrschaftsstrukturen verbannt hat und in der Menschen in freiwillig gewählter Solidarität füreinander einstehen, wird in “Pantopia” keine radikal andere Welt imaginiert. Vielmehr besteht das Utopische darin den Konsumkapitalismus so zu organisieren, dass niemand ein schlechtes Gewissen haben muss. Überhaupt ist auffällig, dass von den drei zentralen Figuren, die auf die Verwirklichung von Pantopia hinarbeiten, zwei vom schlechten Gewissen getrieben werden und nicht von dem Wunsch nach einer besseren Welt für alle um ihrer selbst Willen. Es geht ihnen also letztlich um sich selbst, während in “The Dispossessed” die Gesellschaft so organisiert ist, dass es zwischen dem Interesse des Individuums und dem Interesse aller keinen Gegensatz mehr gibt. 

Patricia hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem ehemaligen Vorgesetzten Mikkel Seemann, den sie hinters Licht führen musste, um mit Einbug die Investment-Firma verlassen zu können. Sie hat ihre Entlassung provoziert, indem sie Einbug vor allem mit Anteilen an Rüstungsunternehmen handeln ließ und diese Information dann an die Presse weitergab. Dadurch ist das ganze Projekt in ein schlechtes Licht geraten. Seemann, der seine Hoffnungen auf Patricia und Henry gesetzt hat und außerdem durch eine aufkeimende Liebesbeziehung mit Patricia verbunden ist, ist wütend und verletzt. Sie will ihm unbedingt beweisen, dass dieses Täuschungsmanöver einem höheren Zweck diente. Auch plagt sie das schlechte Gewissen der Privilegierten, deren hoher Lebensstandard durch die Ausbeutung Schwächerer und zu Lasten der natürlichen Lebensgrundlagen garantiert wird, was sich vor allem in einer Szene zeigt, in der sie Zeugin eines rassistischen Übergriffs wird und nicht eingreift.

Tom Seemann, Mikkels Sohn, der als dritter Mensch von Einbugs Existenz erfährt und eine wichtige Hilfe für Patricia und Henry wird, ist ebenfalls vom schlechten Gewissen getrieben. Nach dem Tod seiner Mutter hat er das Studium abgebrochen und verkauft Drogen. Als die Mutter eines kleinen Kindes beinahe an einer Tablette stirbt, die er ihr verkauft hat, hält er die Schuldgefühle nicht mehr aus und wird eine Arche Pantopias. Er hofft auf Vergebung, wenn er an  der Entstehung der neuen Welt mitwirkt. Henry scheint der einzige zu sein, der wirklich von der Vorstellung einer besseren Welt  angetrieben wird. Bezeichnenderweise ist er als homosexueller Mann die einzige Figur, die ausdrücklich als marginalisiert dargestellt wird. Damit ist es aber auch in seinem Fall fraglich, inwieweit seine Motivation darin besteht, das Leben aller Menschen zu verbessern. Insoweit dieses Motiv fehlt, fehlt auch die Bereitschaft, den Boden des Selbstverständlichen zu verlassen und sich eine gänzlich andere Welt vorzustellen.

“The Dispossessed” trägt den Untertitel “Eine zwiespältige Utopie”. Die Geschichte wird auch dadurch vorangetrieben, dass Mitglieder der anarchistischen Gesellschaft die Sprache der Solidarität und vollkommenen Freiheit nutzen, um genau diese Prinzipien umzukehren und hierarchische Strukturen zu etablieren. Damit wird diese Utopie durch den Handlungsverlauf selbst relativiert. Dies verleiht dem Roman zusätzliche Tiefe und Komplexität. Ein solcher Kontrapunkt fehlt bei “Pantopia” völlig. Die Handlung steuert geradlinig auf die Verwirklichung von Pantopia zu. Zwar hat vor allem Patricia zwischenzeitlich Bedenken, dass mit Einbug etwas “skynetmäßig” schiefgehen könnte, aber diese Bedenken werden letztlich restlos ausgeräumt. Die in “Pantopia” vorgestellte Utopie wird durch die Handlung uneingeschränkt affirmiert.

Der Missbrauch der utopischen Prinzipien, der in “The Dispossessed” angesprochen wird, wird auch dadurch möglich, dass eine Gesellschaft, die so radikal auf die Vereinigung von Selbstbestimmung und Solidarität ausgerichtet ist, Arbeit erfordert. Die Menschen dort tun nur dann etwas, wenn sie davon überzeugt werden können, dass es das Richtige ist. Die Frage, was das Richtige ist, ist dabei aber niemals abschließend beantwortet, sondern wird immer mitverhandelt. Weil dies nun einmal anstrengend ist, ist es so verlockend das Denken anderen zu überlassen und die Entstehung hierarchischer Strukturen zu erlauben. Dahingegen erfordert Pantopia diese Arbeit nicht. Zwar wird an einer Stelle gesagt, dass die Archen zur Teilnahme an Abstimmungen über vorgeschlagene Regelungen verpflichtet sind, aber wir erfahren nichts darüber, welche Stellung diese Abstimmungen im Gesamtsystem von Pantopia einnehmen. 

In jedem Fall ist es Einbug, der über die Berechnung des Weltpreises und die entsprechende Leitung des Geldflusses die Rahmenbedingungen garantiert. Die Bedingungen der Existenz der Utopie hängen also nicht von menschlichen Bemühungen ab. Während “The Dispossessed” immer  wieder betont, dass die anarchistische Utopie mit Blut und Leid erkämpft werden musste, ist Einbug ein Deus ex Machina, der unvermittelt auf den Plan tritt und alle Probleme löst. Pantopia ist damit eine Utopie, die keine Ansprüche stellt, weder an die Archen noch an jene, die das Buch lesen. Wer gut geschriebenes Science-Fiction mit einer interessanten Prämisse, lebensechten Figuren und einer spannend entwickelten Handlung lesen möchte, wird an dem Buch in jedem Fall Freude haben. Eine Einladung, gänzlich andere Formen des menschlichen Lebens zu imaginieren, stellt es aber nicht dar.

Theresa Hannig: “Pantopia”, 462 Seiten. Fischer TOR, 2022, 16,99 Euro.

Prompt: An utopia created by a computer, very bright and shiny, also somewhat menacing. people are happy but tired. There are weird animals.

Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE