Autor: Matthias Warkus

Nur sechs Wochen Gardasee – Marie Nasemanns “Fairknallt”

von Matthias Warkus

»In Deutschland kann sich jeder alles leisten, nur nicht gleich oft.« Den Satz trug meine Sozialkundelehrerin ca. 1999 in dem Ton vor, mit dem man Binsenweisheiten äußert, die zwar nicht ganz stimmen, aber an denen schon irgendetwas dran sein wird. Es ging in dieser Unterrichtseinheit der gymnasialen Oberstufe in meiner wirtschaftsschwachen pfälzischen Heimat um Sozialstruktur und Ungleichheit. Ich erinnere mich an nicht mehr viel außer an das damals schon überholte Schlagwort der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«, jahrzehntealte Diagramme zur Sozialstruktur (»Bolte-Zwiebel«, »Dahrendorf-Häuschen«) – und als Faustformel dafür eben jenen Satz.

Jeder kann sich alles leisten, nur nicht gleich oft: In diesem Satz steckt der Ausdruck einer spezifischen Augenwischerei beim Blick auf die eigene Gesellschaft und vor allem die eigene Wirtschaft, die in den Jahrzehnten seither eher noch zugenommen hat. Obwohl die bundesdeutsche Gesellschaft sich seit Menschengedenken geradezu obsessiv mit bestimmten Wirtschaftsthemen wie Staatsschulden und Lohnnebenkosten beschäftigt, ist das ökonomische Alltagsverständnis, wenn man einschlägigen Studien glauben darf, nicht das beste. Dies wird begleitet von eigenartigen medialen Phänomenen: So präsentiert die Reihe »Kontoauszug« in der Zeit, die seit 2017 exemplarisch die persönlichen Finanzen der Deutschen auseinanderklamüsert, vor allem Haushalte mit hohem bis sehr hohem Einkommen und kommt dabei zuweilen geradezu realsatirisch daher. Spitzenverdiener wie Friedrich Merz und Olaf Scholz sehen sich, wie inzwischen sattsam bekannt, irgendwie als Mittelschichtler. Der Milliardär Dirk Roßmann inszeniert sich neulich im SZ-Magazin vor allem als leidender Schöngeist, der nur einen einzigen Anzug besitzt und ein zerbeultes Auto fährt, aber immerhin noch bedauert, »dass die Armen das Leben nicht genießen können, weil ihnen das Geld fehlt, und die Reichen nicht, weil ihnen Maß und Mitte fehlen«. Geldhaben oder -nichthaben erscheint als eine Lebensstilfrage unter vielen – und eben nicht als die materielle Grundlage, die allem Lebensstil vorausgeht.

Auch Marie Nasemanns Buch Fairknallt. Mein grüner Kompromiss (Ullstein extra 2021, 258 S.) kann man als Kommentar zur sozioökonomischen Selbstvergessenheit der Deutschen lesen. Und das macht dieses ansonsten recht vergessbare Celebrity-Buch dann doch interessant. An der Oberfläche handelt es sich um ein Sachbuch, das Hinweise zu einem »nachhaltigeren« Konsumverhalten gibt und damit um das Buch zur Website »fairknallt.com«, die das ansonsten vor allem durch den dritten Platz bei GNTM 2009 bekannt gewordene Model Nasemann 2016 begründet hat. Faktisch ist Fairknallt aber vor allem eine Autobiographie, und zwar die Autobiographie eines Menschen, der nicht nur mit 19 prominent wurde und sich mit 23 die erste Eigentumswohnung in München kaufte, sondern schon zuvor sein gesamtes Leben in erheblichem Wohlstand verbracht hatte, wenn auch gerade nicht in spleenigem Reichtum. Nasemanns Memoiren zeigen einen Lebensstil, in dem wenig vorkommt, was für deutsche Durchschnittsverdienende kategorial unerreichbar wäre. Aber was vorkommt, kommt eben sehr oft bzw. in großen Mengen vor. Dies ist die Grundlinie, von der aus Nasemann erläutert, wie sie zu einem »nachhaltigeren« Umgang mit Mode und anderem Konsum gekommen ist.

Beispielhaft für ihre Weltwahrnehmung steht der in den sozialen Medien bereits kräftig durch den Kakao gezogene Satz auf S. 57, in dem bedauert wird, dass Nasemann und ihre Familie in der Pandemie mehrere geplante Reisen streichen mussten und es letztendlich »nur sechs Wochen Gardasee« wurden.

In der günstigsten für einen so langen Zeitraum buchbaren Unterkunft, die man in Nasemanns Lieblingsort am Gardasee, Gargnano, auf Booking.com findet, kosten sechs Wochen für zwei Erwachsene und zwei kleine Kinder knapp 15 000 Euro, also, das muss man sich vergegenwärtigen, in etwa zwei Drittel des Nettojahreseinkommens eines deutschen Median-Haushalts. Man darf zwar vermuten, dass Nasemann als Tochter eines renommierten Münchner Augenarztes (und Enkelin eines klinikleitenden Medizinprofessors mit Pool in der Villa) dort ein familieneigenes Haus bezogen haben wird und kein gemietetes, aber auch diese Möglichkeit steht dem Median der Gesellschaft tendenziell nicht offen. 

Nun ist Nasemann vielleicht mit um Größenordnungen mehr Haushaltseinkommen groß geworden als die Mitte der Gesellschaft, aber, wie schon gesagt, nicht in byzantinischem Luxus. Was sie über Konsum in ihrer Kindheit und Jugend schreibt, passt bestens in alle Klischees des Aufwachsens in der altbundesrepublikanischen Mittelschicht – Süßzeugs aus der Bäckerei um die Ecke, Diddlmäuse sammeln, ein schon etwas angejahrter VW Sharan als Familienkutsche. Und das, obwohl das Nettomonatseinkommen ihrer Eltern vorsichtig geschätzt das Elffache des Medians betragen haben dürfte.

Der Unterschied zwischen Nasemanns Lebensstil und jenem einer hypothetischen Klassenkameradin mit Eltern, die nicht Facharzt und Fachjournalistin, sondern z.B. Polizist und Krankenschwester sind, liegt mutmaßlich weniger in den Qualitäten dessen, was getan, erlebt, konsumiert wurde, sondern in der Quantität. In Deutschland kann sich selbstverständlich nicht jeder alles leisten, aber der Wohlstand, der Nasemann und ihr Milieu ausmacht, besteht darin, dass man sich etwas, was sich viele leisten können, in besonders großen Mengen leistet. 

Dabei scheint wirklich die Unterstellung mitzuschwingen, dass diese vielen eigentlich »wir alle« seien, wenn Nasemann etwa schreibt: »[D]ie meisten von uns haben auch schon unzählige Fernreisen gemacht« (22). Wie viel ist unzählig? (Nasemann ist 34 Jahre alt.) Echter Luxus im Sinne von Verschwendung, wie man ihn von den eigentlich Bilderbuchreichen unserer Zeit wie Rappern und Silicon-Valley-Unternehmern kennt, taucht hingegen gar nicht auf. Die Vorstellung, dass Nasemann im Club eine Flasche Champagner zum Preis eines guten Gebrauchtwagens bestellt oder eine Penthousewohnung renovieren und direkt wieder entkernen lässt, weil sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, wirkt absurd.

Fairknallt ist in seinen Sachbuchaspekten also ein Buch darüber, wie jemand wie Nasemann (und damit in der Verlängerung: jemand wie »wir alle«) sich dazu motivieren kann, von den großen Konsumquantitäten irgendwie wieder herunterzukommen und zum Beispiel weniger von der Kleidung zu kaufen, mit der ihre »fünf mattweißen Ikea-Kleiderschränke« (73) vollgestopft sind. Das Buch nimmt dann Züge eines autobiographischen Selbsthilferatgebers an. Nasemann hat beispielsweise eine bestimmte Routine eingeübt, um das ›Craving‹ nach Einkaufen zu brechen: »Wenn ich spüre, ich werde zum Online-Shoppen verleitet, lege ich Handy oder Laptop auf die Seite, schließe meine Augen, lege meine Hände auf den Bauch und atme zehnmal tief ein« (222).

Die tendenziell interessantesten Facetten von Nasemanns Biografie, nämlich die größeren Brüche, mit denen sich auch Psychotherapieerfahrungen verbinden – eine Essstörung, Trennungen –, werden dabei nur angedeutet oder zumindest eher summarisch abgehandelt. Eine Fehlgeburt wird vor allem in dem Zusammenhang thematisiert, dass Nasemann deswegen während der darauffolgenden Schwangerschaft wieder Fleisch aß. So entsteht der kuriose und sicherlich falsche Eindruck, dass Konsumfragen im Leben der Verfasserin größeren Raum einnehmen und ihr mehr Anlass zur Reflexion bieten als echte Schicksalsschläge.

Die Ratschläge zu »bewussterem Konsum« usw. wirken dann durchaus vernünftig, allerdings kolportiert Nasemann z.B. den unausrottbaren Mythos, zu viel Haarewaschen würde die Talgproduktion der Kopfhaut verstärken (146), was ein bisschen Zweifel an der mehrfach beschworenen soliden Recherche und Faktenbasiertheit der Empfehlungen aufkommen lässt. Schon aus rein ideologiekritischen Gründen interessant und vermutlich völlig repräsentativ für die deutsche Gesellschaft ist, dass Nasemann anscheinend beständig mit einem einzigen, undifferenzierten Begriff von »gutem Konsum« arbeitet, der lauter Eigenschaften einer Ware oder einer Genusspraxis gleichsetzt, die eigentlich nicht notwendigerweise miteinander zu tun haben.

Das fängt schon mit der Vermischung von Ernährung und Umweltschutz an, wenn Nasemanns früheste Assoziation zum Thema Ökologie ist, dass es in ihrer Kindheit »nur naturtrüben Apfelsaft zu trinken« gegeben habe (20). Ob Apfelsaft umweltfreundlich erzeugt wurde, steht schließlich in keinerlei kausalem Zusammenhang damit, ob man ihn hinterher durch einen Filter drückt oder nicht. Das kennen »wir« nun eventuell wirklich alle: Was umweltfreundlich ist, ist zugleich »fair« und somit gesellschaftlich progressiv, es ist gesund für den Körper und trägt zum seelischen Wohlbefinden bei. Jedes individualmoralische Thema ist immer ein Ernährungsthema für das »Milieu, das alle Probleme der Welt durch richtigen Konsum, also durch Fressen lösen möchte« (Leo Fischer 2014). 

Wo bei Nasemann nicht gleich eine solche falsche Kausalität imaginiert wird, stehen die Themen Ökologie, Gesundheit, Fairness, Achtsamkeit usw. doch wenigstens nebeneinander, was der Aufbau des Buchs befördert. Es geht u.a. um »Fair Fashion«, den eigentlichen Kernbereich der Expertise von Nasemann, die hier selbst an der Entwicklung von Kollektionen mitwirkt, nachhaltige Kosmetik, aber auch zumindest punktuell um klimafreundliche Mobilität. Vegetarische und vegane Ernährung nimmt breiten Raum ein – in der Mitte des Buchs steht sogar, allein und etwas verloren, ein Rezept für vegetarische Bolognesesauce aus der Feder von Nasemanns Mann. Es gibt dabei nicht einen Erzählteil und einen Ratgeberteil, sondern autobiografische Erzählung und Erläuterungen zu verschiedenen Nachhaltigkeits- und Social-Justice-Themen wechseln einander frei ab.

Als oberstes Kriterium, an dem über das Gut und Schlecht von Lebensstil- und damit Konsumoptionen zu urteilen ist, erscheint somit nolens volens, ob sie Nasemanns persönlichem Wohlbefinden zu- oder abträglich sind. Das gibt dem Buch eine erstaunliche Egozentrik. Auf dem Weg erfährt man unter anderem, dass Nasemann mit ihrem Mann 2019 in eine 140-Quadratmeter-Wohnung gezogen ist (»eine Klimasünde«, 42), oder dass sie seit 2018 keine Langstrecke mehr geflogen sei, was sich mittlerweile wieder erledigt haben dürfte, da sie mit ihrer Familie wohl das gesamte erste Quartal 2023 in einem Airbnb in Kapstadt verbracht hat. (Kapstadt erscheint im Buch noch als Negativbeispiel für ein besonders fernes Fernreiseziel.) Besonders im Gedächtnis bleibt, dass Nasemann in ihrer Jugend öfters Vorwürfe gemacht wurden, weil ihr Kleidungsstücke abhanden kamen – es stellte sich dann heraus, dass das Hauspersonal sie gestohlen hatte, weswegen sie bis heute, wann immer sie etwas vermisst, zuerst denkt, jemand könnte es gestohlen haben (34f.).

Die Tendenz, sich, obwohl sehr wohlhabende bis reiche Persönlichkeit aus Medien und Kulturwirtschaft, als Normalbürgerin zu zeichnen, hat natürlich nicht nur Nasemann. Ich musste z.B. sofort an Judith Holofernes’ autobiographisches Buch Die Träume anderer Leute denken, in dem in großer Detailfülle beschrieben wird, wie ein Leben als A-Listen-Popstar mit Familie in Deutschland logistisch funktioniert, ohne auch nur am Rande zu thematisieren, dass mehrere permanente Babysitterinnen und eine Zweitwohnung eben implizieren, dass man Personal und viel Geld hat. Wenn das Comedy-Powercouple Hazel Brugger und Thomas Spitzer (beide mal wieder Kinder klinikleitender Professoren) offen zugibt, dass es anstrebt, ein halbes Dutzend Wohnungen zu kaufen, hat das demgegenüber fast etwas Erfrischendes.

Wie zu Anfang angesprochen, scheint es in Deutschland eine Sache der Identität und der politischen Einstellung, sich der Mittelschicht zu- oder aus ihr herauszurechnen. Viele der einkommensstärksten Menschen in Deutschland sehen sich wie Merz und Scholz als irgendwie der Mitte zugehörig. Nils Wischmeyer hat in der Spitzenverdienerpostille Süddeutsche Zeitung darüber geschrieben. Einkommen und Vermögen sind aber objektive Verhältnisse und kein Vibe. Es ist ganz gleich, wie »bürgerlich« ich mich fühle – entweder verdiene ich zwischen 1500 und 4000 Euro brutto oder ich tue es nicht.

Solche Fehleinschätzungen funktionieren von oben und von unten: von unten, wenn im polemischen Jargon der sozialen Medien so getan wird, als hätten schon Kinder von Beamten im gehobenen Dienst »reiche Eltern« – das hat vielleicht mit verzerrten Vorstellungen der realen Verhältnisse zu tun, schlimmstenfalls ist es Proletariatscosplay. Von oben geht es aber eben auch. Wischmeyers Text macht eigentlich selbst Einordnungsfehler, wenn er nämlich den Durchschnittsleser-Haushalt seiner Zeitung mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 4665 Euro, was z.B. schon zwei Facharbeiter*innen in einem Maschinenbauunternehmen zusammenbekommen können, »reich« nennt. Ein erfolgreicher Facharzt wie Marie Nasemanns Vater kommt netto auf ein Vielfaches des Monatseinkommens des SZ-Leserhaushalts, aber selbst er ist nicht einmal annähernd zu vergleichen mit z.B. einem Großaktionär wie Stefan Quandt, der im Jahr noch ca. 2500-mal mehr einnimmt als der Arzt, und zwar unabhängig von Qualifikationen und tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten, einfach nur, weil er zufällig als Nachfahre eines Industriellen zur Welt gekommen ist. Aber wenn in Deutschland öffentlich über Geld gesprochen wird, geht es eigentlich nie um solche Verhältnismäßigkeiten.

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In Per Anhalter durch die Galaxis kommt (erstmals 1978) ein fürchterliches Folterinstrument vor: der Totale Durchblickstrudel (»Total Perspective Vortex«), der jenem, der an ihn angeschlossen wird, eindringlich und schlagartig vermittelt, wie klein er im Verhältnis zum Universum ist. Leider führt diese Erkenntnis zur Zerstörung des Verstandes. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte, die zu dieser Maschine erzählt wird, stellt sich die Motivation zu ihrem Auftauchen in der Handlung leider als unschön misogyn heraus: Der Erfinder des Durchblickstrudels wollte es damit seiner Frau heimzahlen, die ihn immer wieder aufforderte, einen Sinn für Verhältnismäßigkeiten zu entwickeln. Etwas in Verhältnisse einzuordnen und aus einer objektivierten Perspektive sehen zu wollen, ohne gleich den völligen Durchblick durch absolut alles anzustreben, wird implizit als nervige und kleingeistige Angewohnheit markiert. 

Douglas Adams gibt damit (vermutlich nicht einmal absichtlich) ein starkes Bild für einen bedeutenden Aspekt des ideologischen Grundrauschens unserer Gesellschaft. »Einordnen« ist das, was Journalisten tun, wenn sie anlässlich der Tagespolitik die ganz großen Begriffshämmer rausholen – aber »einordnen« im Sinne eines beständigen numerischen Einsortierens des Konkreten, mit dem Ziel eines echten Überblicks über reale Phänomene, kommt im medialen Tagesgeschäft nicht vor. Es ist sogar eher stigmatisiert. Wenn ich, was ich recht häufig tue, bei Personen des Zeitgeschehens zu ergoogeln versuche, wie ihre wirtschaftlichen Verhältnisse sind, mit wie viel Geld sie aufgewachsen sind, fühle ich mich bei aller Mühe, mir klarzumachen, wie groß die Rolle ist, die dies spielt, immer auch ein bisschen schmutzig. Über Gehälter und Honorare redet man nicht, über Vorschüsse, zumal hohe, noch weniger, und am allerwenigsten redet man über das Geld der Eltern.

Viele Menschen in unserer Gesellschaft identifizieren sich mit bestimmten ökonomischen Umständen so sehr, dass für die Identifikation irrelevant wird, ob diese Umstände überhaupt vorliegen oder nicht. Geringverdiener wenig oberhalb der Armutsgrenze betrachten sich ebenso als »Mittelschicht« wie Millionäre; solide bürgerlich lebende linke Kulturbetriebler*innen sehen sich als Angehörige eines Massenheeres verelendeter Prekärer; Milliardäre mimen reihenweise den bescheidenen, etwas schrulligen Workaholic.

Der ideologische Hintergrund, der das alles ermöglicht, wird durch Bücher wie Nasemanns sicherlich nicht erst erzeugt, aber doch mit aufrechterhalten. Es ist eine Binsenweisheit, dass selbst Menschen mit viel Geld echte Probleme haben können, und der vielbespöttelte Podcast, den Nasemann mit ihrem Mann, dem Wirtschaftsanwalt und Eierlikör-Startup-Gründer Sebastian Tigges, betreibt, hat sicherlich Momente, in denen man ihn als Mensch mittleren Einkommens nicht bloß unfreiwillig komisch findet. Ich glaube aber, dass es für alle Beteiligten letztlich besser wäre, wenn Nasemann und ihre Milieugenoss*innen vor sich und anderen offener damit umgingen, dass sie eben nicht »wir alle« sind, auch wenn sie »uns allen« Ratschläge erteilen.

Tödliche Intelligenz – Science Fiction und K.I.

von Matthias Warkus

Am 7. Juli 2023 beschwor eine Schlagzeile im »Guardian« ein fürchterliches Szenario: Alle Menschen auf der Erde könnten in derselben Sekunde tot umfallen. Der Auslöser: künstliche Intelligenz. Am 9. August stellte dann auch  der »Tagesspiegel« vor dem riesigen Bild eines verpixelten Atompilzes die Frage: »Ist KI die neue Atombombe?«

Computer, die die Menschheit vernichten könnten: Das Thema ist wegen der aktuellen gut sichtbaren Fortschritte bei KI-Systemen und vermehrter Warnrufe prominenter Galionsfiguren der kalifornischen Ideologie offensichtlich gerade wieder einmal ganz oben auf der Agenda. Aber neu ist es nicht. Silicon-Valley-Propheten und ihre Hausdenker wie etwa Nick Bostrom warnen schon seit etwa zwanzig Jahren vor der Auslöschung der Menschheit durch eine universelle künstliche Intelligenz. (Der Urheber der Guardian-Vision der synchron tot umfallenden Menschheit ist übrigens Bostroms Mitarbeiter, der berühmt-berüchtigte Nerd-Ideologe Eliezer Yudkowsky, bekannt geworden vor allem durch – kein Scherz – den umfangreichen Fanfiction-Roman »Harry Potter and the Methods of Rationality«, 2010–2015.)

Ein gewichtiger Grund dafür, warum Warnungen vor solchen Szenarien sich medial so gut verkaufen lassen, ist, dass es für sie so gute fiktive Vorlagen gibt. Spätestens seit »Terminator« (1984) gehört die Vorstellung einer künstlichen Superintelligenz, die aus irgendwelchen Gründen beschließt, die Menschheit auszurotten, unangefochten zum popkulturellen Zeichenvorrat.

Wenn man das Motiv zurückverfolgt, findet man als berühmten frühen Vertreter Harlan Ellisons Story »I Have No Mouth, and I Must Scream« von 1965. Auch dort geht es wie in »Terminator« letztlich um einen zur Führung des Dritten Weltkrieges entwickelten Supercomputer. Er hat die Menschheit fast völlig ausgelöscht und findet sein einziges Vergnügen darin, einige wenige Menschen zu quälen, die er am Leben gelassen hat. Doch Ellisons Höllenvision, vielfach anthologisiert und adaptiert (u.a. 1995 als preisgekröntes Computerspiel), verdeckt, zumindest für den Blick von außerhalb des Science-Fiction-Betriebes, eine noch etwas früher beginnende Reihe von Storys, Novellen und Romanen, die das Konzept »KI gegen Leben« im Detail durchdeklinieren, nämlich den sogenannten »Berserker«-Zyklus von Fred Saberhagen (1930–2007).

Die namensgebenden Berserker sind intelligente Maschinen, die unter der Direktive operieren, alles Leben zu vernichten. Sie tauchen in unterschiedlichster Form auf, als bewaffnete Raumschiffe, als ortsfeste Computer, als bewegliche Kampfroboter aller Art. Sie wurden in vorgeschichtlicher Zeit von einer außerirdischen Zivilisation entwickelt, um eine andere intelligente Spezies zu bekämpfen, haben aber beide ausgerottet und sind seitdem als ständige Bedrohung in der Galaxis unterwegs.

Saberhagens Beschäftigung mit dem Thema beginnt 1963 mit Kurzgeschichten, die oft eine überraschende Pointe und damit einen gewissen Rätselcharakter haben, eine Tradition, die über die Meister des Genres der Science-Fiction-Story zurückgeht bis zu Arthur Conan Doyle und Edgar Allan Poe. Relativ bald folgen aber größere Erzählungen, zwischen 1969 und 2005 auch eine Reihe von – für heutige Verhältnisse angenehm kurzen – Romanen. Große Teile des Zyklus spielen dabei eher am Rande des Geschehens, in Zeiten und Gegenden, in denen große Schlachten des Krieges gegen die Berserker bereits geschlagen, relative Ruhe und zögerlicher Optimismus eingekehrt sind. (Nicht das schlechteste Setting – »Das Imperium schlägt zurück« ist ja nicht von ungefähr der beste Star-Wars-Film.)

Es ist berückend, wie leichtfüßig Saberhagen mit verwickelten Prämissen umgeht. So spielt die Rahmenhandlung von »Brother Assassin« (1969) auf einem Planeten, auf dem und um den herum Zeitreisen möglich sind. Die Berserker greifen dort an, indem sie unterschiedliche Waffen und Roboter in der Zeit zurückschicken, um die Vergangenheit zu manipulieren (15 Jahre vor »Terminator«!). Ich muss zugeben, dass ich das Buch beim ersten Lesen, direkt nachdem ich die Prämisse verstanden hatte, wieder weggelegt habe, weil ich befürchtete, die Darstellung dieses »Zeitkriegs« könnte anstrengend, langweilig und verwirrend werden, wie es bei Science-Fiction über Zeitreisethemen oft der Fall ist. Aber genau dazu kommt es nicht – das Buch bleibt immer hinreichend plausibel und zugleich mitreißend. Ich halte es für eine der besten Darstellungen von Zeitreisen in der Science Fiction überhaupt, was noch erstaunlicher wird, wenn man berücksichtigt, dass die Zeitkrieg-Rahmenhandlung überhaupt nur geschrieben wurde, um drei bereits zuvor fertiggestellte novellenhafte Episoden zusammenzuhalten.

Das alles wäre aber nicht so spannend, wenn das interessanteste Phänomen in Saberhagens Killerroboter-Saga nicht existierte: die Menschen, die darin als »Goodlife« bezeichnet werden; Menschen, die mit den Berserkern kollaborieren und somit an der Vernichtung ihrer Mitmenschen mitwirken. Dafür gewähren die Maschinen ihnen ein komfortables Leben und die Aussicht, erst als Allerletzte sterben zu müssen, und dann auf schmerzlose Weise. »Goodlife« sein heißt, um den Preis, sich an einem immensen Verbrechen mitschuldig zu machen, die Gewissheit zu haben, dass es für einen selbst »nicht ganz so schlimm« werden wird. Und es gibt längst nicht nur Goodlife und Helden,  auch menschlicher Alltag und durchschnittliche Schicksale im Angesicht der Bedrohung werden glaubwürdig skizziert. Der Roman »The Berserker Throne« (1985) beginnt damit, dass eine Untergrundorganisation bei einem Volksfest aufblasbare Berserker-Attrappen steigen lässt und so Chaos stiftet – eine friedliche Protestaktion, um darauf hinzuweisen, dass die verdrängte Bedrohung durch die Maschinen nach wie vor besteht. Die Analogien zu den verschiedensten Ereignissen und Verhältnissen unserer Gegenwart brauche ich nicht auszubuchstabieren.

Saberhagen nutzt das Szenario, die Menschheit mit völlig fremdartigen, völlig unmenschlichen Maschinengegnern zu konfrontieren, als Vehikel dazu, in verschiedenster Hinsicht zu thematisieren, was eigentlich menschlich ist. Kunst, insbesondere Bildhauerei, spielt immer wieder eine bedeutende Rolle. Auch schafft es der Autor, ein praktizierender Katholik, einen glaubwürdigen und seriösen Umgang mit dem Thema Religion in sein Werk einzubringen. All das kontrastiert wohltuend mit dem reaktionären Machismo populärer militärisch akzentuierter Science-Fiction-Literatur (man denke an David Weber oder S. M. Stirling), die wenig Sinn fürs Schöngeistige hat und sich eher an panzerquartetthaften Beschreibungen militärischer Hardware ergötzt.

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Die Lektüre von Saberhagens Berserker-Stories und -Romanen lohnt sich nicht allein wegen des aktuellen Interesses am Thema destruktiver Künstlicher Intelligenz. Man lernt bei ihr darüber hinaus etwas darüber, was Science Fiction sein kann und einmal war; auch wenn man es heute, aus Gründen, die vor allem mit der Struktur des Marktes für Genreliteratur zusammenhängen, nicht mehr von ihr erwartet.

Wenn wir nur auf die Literatur im engeren Sinne schauen (also nicht auf Comics und audiovisuelle Medien), findet Science Fiction heutzutage hauptsächlich im Medium des Dickromans ab etwa 400–500 Seiten statt. Mindestens genauso, wenn nicht noch stärker, betrifft dies die Fantasy, die Science Fiction an Popularität und Regalraum irgendwann um die Jahrtausendwende herum übertroffen hat. Böse Zungen sagten schon damals, die minimale publizierbare Einheit bei Science Fiction und Fantasy sei inzwischen die Romantrilogie. Es ist ein stehender Topos des Redens über die Vergangenheit der westlichen Science Fiction, dass damals in wesentlich kürzeren und in der Regel freistehenden Werken (Erzählungen und relativ kompakten Romanen) viel mehr passierte als in den aktuellen, viel umfangreicheren Werken, die meistens den Charakter von Episoden größerer Zyklen haben.

Das Genre wurde einmal von Kurzgeschichten und Fortsetzungsromanen in Zeitschriften getragen. Der Übergang von Magazinen zu Büchern im dominierenden amerikanischen Science-Fiction-Markt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch das Ende des kriegsbedingten Papiermangels sowie durch Verschiebungen in der Verlagsindustrie, unter anderem durch den Untergang des quasi-monopolistischen Zeitschriftengrossisten ANC (American News Company) 1957, katalysiert. Der Übergang von freistehenden, recht schmalen Romanen und Anthologien zu Zyklen und Serien von Dickbüchern war seinerseits maßgeblich dadurch getrieben, dass Genreliteratur Literatur für Viel- und Schnellleser*innen ist, normiert auf schnelle Weglesbarkeit ist, weswegen mehr Seiten in aller Regel mehr Nutzungsdauer und damit mehr Unterhaltung bedeuten. Zudem verkaufen sich Bücher stark über die Dicke, was unter anderem dazu geführt hat, dass Science Fiction heutzutage gerne in recht lockerem Satz auf dickem Volumenpapier gedruckt wird. (Dasselbe gilt mindestens genauso sehr für Fantasy und für Jugendliteratur. Der Trend geht aktuell zu Papier, das bei immer größerem Volumen gleich viel wiegt. Polemisch könnte man sagen, dass der Bedruckstoff genauso zur Schwammigkeit tendiert wie die Texte.)

Der Blick auf Saberhagens Berserker-Reihe ist daher so aufschlussreich, weil sie ihren Ursprung in  einer Übergangszeit hatte, in der sich die Norm der endlosen Verlängerbarkeit und der endlosen Serienproduktion von Sequels (bei Fantasy spricht man gerne von »Extruded Fantasy Product«, ein 1999 geprägter Ausdruck) noch nicht etabliert hatte. Die Erzählungen, Novellen und Romane spielen im selben Universum und haben wiederkehrende Motive, sind aber alle weitestgehend freistehend (und zwar ganz offiziell). Wer heutzutage mit Genreliteratur sozialisiert wurde, atmet nun möglicherweise tief durch: Es gibt keine empfohlene oder notwendige Lesereihenfolge, keine Spoiler, keine Bandnummern, keine Werke, die ihren Sinn allein darin haben, Kleber zwischen anderen Werken zu sein, in denen mehr passiert. Es gibt auch die berüchtigten »Infodumps« nicht, also keine langen handlungslosen Passagen, die nur dazu dienen, Hintergrundwissen zu transportieren. Und die Romane sind zum allergrößten Teil nur etwa 200–300 Seiten lang.

Leider ist nahezu nichts aus der Berserker-Serie ins Deutsche übersetzt worden. Es existiert eine Übersetzung des ersten Erzählungsbandes »Berserker« von Leonore Petz (erschienen 1986 bei Moewig); sie war vermutlich kein Erfolg und ihr folgten meines Wissens keine weiteren. Angesichts des im positiven Sinne antiquierten Formats mit vielen Kurztexten und keiner festen Continuity sowie des eher konventionellen Space-Opera-Hintergrunds wäre ohnehin auf dem kleinen und umkämpften deutschen Science-Fiction-Markt kein Erfolg zu erwarten, der auch nur die Übersetzung finanzieren könnte. Daher kann ich notgedrungen nur empfehlen, die Originale zu lesen, die im Verlag JSS Literary Productions von Saberhagens Witwe digital erschienen sind und sich auf allen gängigen E-Book-Marktplätzen für 4,49 € pro Stück erwerben lassen.

Traditionell werden Science Fiction oft zwei komplementäre Rollen zugewiesen, nämlich einerseits triviale Unterhaltung und andererseits das (literarisch tendenziell blutleere) Spekulieren über technisch-wissenschaftliche Ideen. Saberhagens Berserker-Reihe unterhält wirklich bestens, hier explodieren Raumschiffe, ganze Planeten werden verteidigt oder vernichtet, schillernde Charaktere bestehen galaktische Abenteuer. Zugleich dekliniert sie eine Fülle von Aspekten des Grundeinfalls einer nichtmenschlichen, zerstörerischen KI durch. Aber – und das macht sie so gut: Man kann sie zugleich und vor allem auch als Literatur im ganz klassischen Sinne von Reflexion über die Conditio humana lesen. Es ist vielleicht nicht ganz Balzac mit Killerrobotern; aber es ist zumindest nah dran. So etwas konnte der Mainstream von Science-Fiction-Literatur einmal hervorbringen.

Die medienwirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen haben sich seither verschoben. Noch 1990 tauchen die Namen der 1940er-Jahre-Klassiker Isaac Asimov, Alfred Bester und Arthur C. Clarke bei den »Simpsons« als Paradigma für die Interessen nerdiger Schulkinder auf.

Aber diese Art von Science Fiction, die jahrzehntelang das entsprechende Milieu der amerikanischen Popkultur prägte, ist heute ein völliges Randphänomen geworden, und das wird sich vermutlich auch nicht mehr ändern. Der Blick zurück kann sich jedoch zumindest punktuell durchaus lohnen. Speziell in diesem Fall könnte er zudem dabei helfen, unsere Wahrnehmung dafür zu schärfen, wie sehr die aktuell auf künstliche Intelligenz projizierten Befürchtungen durch popkulturelle Konventionen konditioniert sind, die bei Saberhagen als demjenigen, der den Topos populär machte, noch gar nicht etabliert sein konnten.

Ich danke Sebastian Pirling und Catherine Beck für die aufmerksame Lektüre. Sebastian danke ich zudem für wertvolles Feedback zur aktuellen Situation auf dem Science-Fiction- und Fantasy-Buchmarkt.

Foto von Aideal Hwa auf Unsplash

„Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ – Ein Buch entschuldigt sich bei Ostdeutschland

von Matthias Warkus

Als ich 1988 eingeschult wurde, gab es in meiner ca. 30-köpfigen Grundschulklasse im winzigen Westpfälzer Kreisstädtchen Kusel (damals etwa 5700 Einwohner und bereits seit einiger Zeit schrumpfend) nach meiner Erinnerung drei Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund. Ein Junge mit türkischen Namen, über den man nicht viel wusste; ein Sohn einer der vielen amerikanischen Familien, die im Zusammenhang mit der gewaltigen NATO-Truppenkonzentration in der Gegend um Kaiserslautern und Ramstein lebten; und die Tochter eines kanadischen Arztes zwei Dörfer weiter, in die ich vom ersten Tag an hilflos verliebt war.

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Nordsee statt Lebensveränderung – Über Tourismus und seine intellektuelle Betrachtung

von Matthias Warkus

Wir waren im Juli eine Woche in Ostende. Der Urlaub war so schön, dass ich Hemmungen habe, eingehend im Netz darüber zu schreiben, weil ich befürchte, dass jemand deswegen ebenfalls nach Ostende fahren und dann enttäuscht sein könnte. Deswegen geht es in diesem Text auch wenig um diesen konkreten Urlaub, sondern um Urlaubsreisen allgemein. Nicht um Geschäfts- oder Bildungsreisen, sondern um den ganz handelsüblichen Urlaub, wie er klassischerweise z.B. eben an einen Strand wie den von Ostende führt.

2019 unternahmen in Deutschland ziemlich genau 55 Millionen Menschen 70 Millionen Urlaubsreisen von fünf oder mehr Tagen. Dazu kommt noch eine erkleckliche Anzahl von Kurzurlauben (2–4 Tage). Es ist gar nicht so leicht herauszufinden, wie viele Menschen in Deutschland nie in Urlaub fahren, weil man bei entsprechenden Recherchen immer auf Zahlen dazu stößt, wie viele sich keinen Urlaub leisten können, was impliziert, dass eigentlich alle in Urlaub fahren, die das können. Das stimmt auch beinahe: 85,5 % der Bevölkerung können sich einen Urlaub leisten. Der Anteil der Bevölkerung, der reist, beträgt nach Branchenangaben 78,2 %. Das heißt: 91,5 % derer, die es können, verreisen. Wenn die Verteilung bei denen, die es sich nicht leisten können, genauso ist, sind wir also bei 91,5 % zumindest potenziell urlaubender Bevölkerung und 8,5 % absichtlich Nichtreisenden.

Nun steht aber z.B. in einem unlängst erschienen Meinungsbeitrag bei DLF Kultur:

Nach gut zweihundert Jahren Gequengel über Reisende sind wir wenig originell, wenn wir Touristen das Menschsein absprechen. Wir rümpfen auch unsere Nasen und nutzen das als Distinktionsmerkmal, wie es einst die Aristokraten taten als erst wohlhabende Bürger und schließlich, ach du Schreck, die Arbeiter auf Reisen gingen: Sich erholen wollten.

Das »Wir«, für das Anne Backhaus hier spricht, ist vermutlich kein Wir, das sich ausschließlich aus den 8,5 % Nichturlaubenden rekrutiert. Es ist ein Wir, das selbst aller Wahrscheinlichkeit nach regelmäßig verreist, aber auf Urlaubende herabschaut. Diese Haltung ist im deutschsprachigen Medienbetrieb so verbreitet, dass man mit zwei, drei einfachen Suchanfragen problemlos haufenweise Texte dazu auffinden kann. Nur drei Zitate: »Massentourismus zerstört alles Fremde« (NZZ 2019), »Sich alle paar Tage mal irgendwo von der AIDA auskotzen lassen, das [ist] kein Reisen« (ZEIT 2022), »Reisen [ist] heute allgemein nicht mehr […] als ein Akt egoistischer Unvernunft, der zerstört, was zu liebkosen er vorgibt« (ZEIT 2020). Der zuletzt zitierte Beitrag von Nils Erich und Johannes Schneider versteigt sich sogar zu der Aussage: »Reisen ist das neue Rauchen. Nur tausendmal gefährlicher, für eine viel größere Zahl von Menschen.«

Hab gerade einen Tweet von einer Burda-Werkstudentin gesehen, die Urlaub auf den Färöern macht und das »Kapitalismus-Detox« nennt, was darf Satire

— Matthias Warkus (@derwahremawa) July 3, 2021

Das ist natürlich Unsinn. Rauchen tötet nach Schätzungen der WHO jährlich über acht Millionen Menschen. Hätten Erich und Schneider Recht, wäre die Menschheit nach einer gut gebuchten Hauptsaison ausgelöscht. Wie kommt man nun dazu, so entgrenzt apokalyptisch über die Tätigkeit des Reisens zu reden? Man könnte vermuten, es ginge beim üblichen Diskurs über die Schrecken des Urlaubens vor allem um Umweltfragen, um Emissionen und Landschaftszerstörung (Tourismus verursacht z.B. immerhin 8 % des weltweiten CO2-Ausstoßes, fast so viel wie die Landwirtschaft). Das ist aber gar nicht der Schwerpunkt der Kritik. Sie dreht sich um Anderes. Das braucht einen nicht zu wundern, geht es doch beim Urlaubmachen um eine Tätigkeit, die man zumindest in Deutschland mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 % selbst betreibt oder zumindest gerne betriebe, weswegen es wichtig ist, sich die Tür dafür weiter offen zu halten. Man hat auch den Eindruck, dass gerade jene, die gegen das Reisen anschreiben, nicht unbedingt weniger unterwegs sind. Valentin Groebner, der ein ganzes pessimistisches Buch über Tourismus geschrieben hat, erwähnt in einem Radiointerview mehrfach, dass er selbst sehr viel reise.

Dieses Interview bietet ein klares Indiz dafür, was das eigentliche Problem der zum Genre gewordenen Tourismusklage ist: Es wird von Anfang an und durchweg, ohne irgendeinen Zweifel, unterstellt, dass alle, die in Urlaub fahren, dort etwas Einzigartiges, Unberührtes, Lebensveränderndes suchten: einen Strand, den noch niemand gesehen habe, eine Gegend, in der man nicht unter Seinesgleichen sei.

Ich HERZ Ostende

— Matthias Warkus (@derwahremawa) July 14, 2022

Damit komme ich zurück zu Ostende. Urlaub in Ostende ist das exakte Gegenteil zu einem Aufenthalt in einer unberührten Gegend voller gänzlich Fremder. Ostende ist seit zirka 200 Jahren eine Tourismusdestination und hat einen klangvollen Namen, auch wenn nahezu immer im selben Atemzug mit ihm erwähnt wird, seit den mondänen Zeiten vor dem Zweiten Weltkrieg sei das Seebad etwas heruntergekommen. Ich glaube, dass man davon ausgehen kann, dass die erdrückende Mehrheit der knapp 500 000 Übernachtungsgäste, die die Stadt 2019 hatte, nicht davon ausgingen, dort etwas Neues, Ungekanntes zu erleben. Vielleicht wollten sie sogar gerade nichts Neues erleben. Am Strand zu liegen und dort Wolken, Wellen und andere Badegäste anzuschauen, wird für mich nicht langweilig, und wenn, dann gibt es an einem Badeort tausend andere Dinge, die man tun kann, die aber allesamt genauso wenig neu sein müssen. Gerüchtehalber bin ich nicht der einzige Mensch, der so empfindet. Sich erholen, aus dem Alltag herausfallen, versonnen sein, faul herumhängen und es sich gutgehen lassen sind in keiner Weise innovationsbedürftige Modi des Zeitverbringens.

Die Unterstellung der Tourismus-Kulturkritik ist nun aber, dass im Urlaub existenzielle Erfahrungen machen zu wollen (am besten in Wildnis und Fremde) mit Urlaubmachen selbst identisch sei. So sagt Groebner in seinem Interview, »wir« hätten die Vorstellung, »etwas zu verändern«, indem »wir« nach Thailand flögen. Der Klappentext seines Buchs spricht davon, die Milliarden, die jedes Jahr touristisch reisten, seien auf der »Suche nach der Schönheit« und nichts Geringerem als »der großen Wiedergutmachung des eigenen Lebens«. Erich und Schneider widmen sich über längere Strecken der Dekonstruktion eines »kosmopolitisch« motivierten Reisens, sie gehen gleich von einem Milieu aus, das auf »das plebejische Urlaubmachen« der Massen herabschaue und sich die Reise über höhere, aber zum Scheitern verurteilte Vorstellungen von interkultureller Verständigung und Horizonterweiterung legitimiere.

Beides läuft letztlich auf dasselbe hinaus: Man unterstellt entweder der Masse der Tourist*innen wahnhaft-unrealistische Motive – wer käme darauf, eine Woche belgische Nordseeküste könnte seinen interkulturellen Horizont lebensverändernd erweitern, gar sein Leben wiedergutmachen (also: in einem ernst gemeinten Sinne und nicht bloß so, wie wenn jemand twittert, eine besonders gute Grillmarinade habe »ihn Gott sehen lassen«)? Oder man schließt, wie so oft im kulturkritischen Feuilleton, die breite Masse eigentlich aus und beschränkt die Betrachtung auf ein schmales Milieu, spricht mit einem »Wir alle« dann letztlich doch nur für die paar zehntausend Kulturbetriebsmenschen, die den Bildungshintergrund sowie die Ressourcen haben, passmanneske Geschmacksreflexion zu betreiben, und unter dem diskursiven Druck stehen, der sie dazu veranlassen kann.

Meine boshafte Vermutung zu Texten wie dem von Erich und Schneider (aber beileibe nicht nur zu diesem) ist, dass das Klimathema ihren Verfasser*innen geradezu zupass kommt, um das kulturell-geschmacklich »Falsche« am Urlaub noch damit zu hinterlegen, dass Urlaub eben auch physisch-ökologisch falsch sei. Ob das dem Planeten am Ende guttut? Die materielle Frage, wie die ökologischen Probleme, die Tourismus verursacht, tatsächlich gelöst werden können, verschwindet ja mehr oder minder hinter dem ideellen Missstand, dass die existenziell verlogene Praxis des Reisens noch nicht zur Gänze abgeschafft wurde. (Diese Denkfigur hat natürlich bis mindestens zu Enzensberger und der frühen kritischen Theorie zurückgehende Wurzeln, das sei hier nur erwähnt, damit sich niemand bemüßigt fühlt, mich darauf hinzuweisen.) Dass es mittlerweile eine popkulturelle Binsenweisheit geworden ist, ausgerechnet Kreuzfahrten seien die schädlichste Art von Reisen, obwohl bei einer Rucksackreise nach Vietnam bereits der Hin- und Rückflug dreimal so viel CO2 verursacht wie eine einwöchige Mittelmeerkreuzfahrt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es in diesem Diskurs um die Umwelt höchstens in zweiter Linie geht.

Sehenswürdigkeiten angucken ist INTERESSANT. Am Strand liegen und nichts tun in schöner Landschaft MACHT FREUDE. Gutes Essen, das man nicht selber kochen muss, ist SUPER. Urlaub machen ist ERHOLSAM.

— Matthias Warkus (@derwahremawa) July 2, 2020

Das 90er-Jahre-Konzept »Sanfter Tourismus« kommt in keinem der zitierten Texte überhaupt noch vor: Tourismus ist eben aus kulturellen Gründen immer falsch, sei er ökologisch noch so vertretbar. Wenn er überhaupt noch zu rechtfertigen ist, dann nur aus Gründen, die so sehr individuell sind, dass sie selbst den angeblich universellen falschen Wunsch nach Ausbruch, Schönheitserleben und Wiederganzwerden übersteigen – dann legitimieren sie aber sogar, dass Raphael Thelen mit einem dreizehn Jahre alten Dieselbus durch die Welt brummt, solange eben ein »Essay« über seine Gewissensbisse dabei herausspringt.

Wie wäre es also, wenn all die Tourismuskritik letztlich nichts als Distinktion wäre, rationalisierte Abgrenzung zunächst von der Masse und ihren unfeinen Konsumpraktiken, dann aber wiederum Abgrenzung von der Abgrenzung, nämlich von der sich bereits davon distinguierenden »höheren Masse« der Backpacker und Vanlifer? Nichts als eine neue Tretmühle für den auf Bildungseliten des 18. Jahrhunderts zurückgehenden Imperativ, das »Abgeschmackte« zu vermeiden und in einem sich stets erneuernden, kreativen Lebensstil Individualität zu entwickeln? Geschichtsblind auch gegenüber der Tatsache, dass gerade die konsumierende Masse der »kleinen Leute« in der Moderne Internationalität und Horizonterweiterung vorantrieb (hierauf hat Bodo Mrozek hingewiesen)?

Das mag alles so sein. Man könnte außerdem annehmen: dass a) die Motive für eine Urlaubsreise den Reisenden selbst – unabhängig von Art der Reise und sozialem Hintergrund der Reisenden – in der Regel transparent sind und daher nicht zwangsläufig und massenhaft enttäuscht werden, weder am Nordseestrand noch beim Backpacken in Thailand; dass b) eine Tätigkeit nicht schon allein dadurch im Wert sinkt, dass viele andere sie ebenfalls ausüben; und dass c) die Wertungen, die wir an Tourismus herantragen, objektiv und empirisch gegründet sein sollten, nicht auf Unterstellungen über den Eigenwert von Lebensstilen. Wenn man das tut, dann landet man bei dem Schluss, dass man die ökologischen und sozialen Verheerungen, die Tourismus anrichtet, unbedingt kritisieren und bekämpfen sollte – nur eben als materielle Tatbestände und nicht als Epiphänomene von etwas, das man aus letztlich metaphysischen Gründen als stets schon irgendwie widerwärtig betrachtet. 

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Distinktion zum Frühstück – Über »Klassik–Pop–et cetera« als kulturellen Offenbarungsort

von Matthias Warkus

Eine der großen Radiotraditionen, vielleicht sogar die größte überhaupt, sind Sendungen, in denen Gäste eigene Musik mitbringen. Die älteste unter ihnen, »Desert Island Discs«, läuft im BBC-Radio seit über 80 Jahren und ist damit unter den ältesten Radiosendungen überhaupt, die noch regelmäßig ausgestrahlt werden. Im Deutschlandfunk gibt es mindestens zwei solcher Sendungen, und eine davon, »Klassik – Pop – et cetera« (im Folgenden »KP&c.«), ist ebenfalls ein Methusalem, mehr oder minder die älteste Sendung im deutschen Radio überhaupt, ausgestrahlt seit dem 7. Oktober 1974. Bis auf eine An- und Abmoderation wird die gesamte wöchentliche Sendung von dem Gast (manchmal auch: den Gästen) bestritten.

KP&c. hat sich in diesen fast 50 Jahren durchaus verändert, vor allem, was die Auswahl der Gäste angeht; darauf möchte ich nicht detailliert eingehen. Auf dem heutigen Stand ist die Zusammensetzung jedenfalls so, dass 43 % der Sendungen von Musiker*innen aus dem Bereich E-Musik (inklusive Jazz) moderiert werden, 25 % von Schriftsteller*innen, 18 % von Künstler*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen usw., gut 8 % von Musiker*innen aus dem U-Bereich und der Rest von Wissenschaftler*innen bzw. sonstigen Intellektuellen. (Diese Verteilung wird möglicherweise später noch wichtig.)

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Gesundheit! – Über Juli Zeh und über Juli Zeh über Juli Zeh

von Matthias Warkus

Die Pandemie ist irgendwie von Amts wegen beendet, und allmählich weicht auch das große Kopfschütteln und Händeringen über die Reaktionen der Intellektuellen einer Art Rückschau. Vielleicht nicht der schlechteste Zeitpunkt, um auf etwas zurückzuschauen, was selbst eine Rückschau ist. Im Juli 2020 veröffentlichte die Brandenburger Landesverfassungsrichterin Juli Zeh ein enorm ungewöhnliches Buch namens »Fragen zu Corpus Delicti« (btb, München; im Folgenden zitiert unter F). Cover des Buchs »Fragen zu Corpus Delicti«Ungewöhnlich ist nicht nur die Form – es handelt sich um ein Selbstinterview mit buchfüllender Länge. Ungewöhnlich ist zudem der Gegenstand, das Buch bietet nämlich erschöpfende Erläuterungen zu Zehs Roman Corpus Delicti von 2009, gerichtet »an Schüler und Studenten« (F10). Die Autorin liefert Lehrenden und Lernenden direkt die Sekundärliteratur für ihr eigenes fantastisch erfolgreiches, bis 2019 allein 380.000-mal verkauftes und vielerorts zur Schullektüre gewordenes (F188) Werk. Der Rückentext spricht unbescheiden von einem »unverzichtbare[n] Begleitbuch«. Weiterlesen

Fun ist ein Stahlband – Über das Spiel „Factorio“

von Matthias Warkus

Eines der Computerspiele, das in den ersten Wellen der Pandemie eine große Konjunktur erlebte (neben etwa Animal Crossing: New Horizons und Stardew Valley), ist Factorio. Das mag am Release der Version 1.0 im August 2020 liegen (nach vielen Jahren Early Access und Alpha-Versionen), aber auch am unbestreitbaren Zeittotschlagwert. Wenn man den Statistiken glauben darf, hat die durchschnittliche Spieler*in über 176 Stunden mit Factorio verbracht. (Zum Vergleich: Der Shooter Far Cry 5 bringt es auf gerade einmal 39 Stunden.)

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Have Yourself a Merry Little Covid

von Matthias Warkus

Das größte globale kulturelle Einzelereignis der Moderne, wenn nicht aller Zeiten, war die amerikanische Beteiligung am Zweiten Weltkrieg. Das größte regelmäßig wiederkehrende globale kulturelle Phänomen der Moderne ist Weihnachten in seiner aktuellen Fassung als säkularisierte, transnationale atmosphärische Veranstaltung. Es liegt auf der Hand, dass das eine mit dem anderen zu tun haben könnte.

Und in der Tat gibt es ein Konvolut äußerst bekannter kultureller Äußerungen am exakten Berührpunkt beider Phänomene, nämlich die anlässlich von Weihnachten entstandene amerikanische Popularmusik aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Der Kern des Kanons der amerikanischen »Christmas Songs« verdankt sich den »Kriegsweihnachten« 1941 bis 1944.

Das Flaggschiff ist dabei »White Christmas«, uraufgeführt am Weihnachtstag 1941, achtzehn Tage nach dem Angriff auf Pearl Harbor. Bis heute handelt es sich dabei mit vermutlich über 100 Millionen verkauften Exemplaren – alleine 50 Millionen von der Originalaufnahme mit Bing Crosby –, um die erfolgreichste Single aller Zeiten, und den mit mehr als 500 Versionen meistgecoverten Weihnachtssong überhaupt.

Mit »White Christmas« war der Markt für säkulare Weihnachts-Popsongs etabliert. Ihm folgte unter anderem das außerhalb der USA weniger bekannte, aber dort enorm beliebte Medley »Happy Holiday/The Holiday Season« (1942). Wieder an das nostalgische, melancholische Muster von »White Christmas« halten sich »Have Yourself a Merry Little Christmas« und »I’ll Be Home for Christmas« (beide 1943), die das Motiv endgültig auf den Punkt bringen. Vor allem um diese beiden letztgenannten Lieder soll es mir im Folgenden gehen.

Ich möchte aber zuvor wenigstens erwähnen, dass danach noch »Let it Snow, Let It Snow, Let It Snow« und »The Christmas Song (Chestnuts Roasting on an Open Fire)« entstanden, beide im Juli 1945, als der Pazifikkrieg noch nicht beendet war und man durchaus damit rechnete, die Kampfhandlungen bis weit ins Jahr 1946 fortsetzen zu müssen: Die Invasion der japanischen Hauptinseln war vorläufig für den 1. November 1945 (Südkyushu) und den 1. März 1946 (Honshu) angesetzt.

Bereits 1944 hatte spätestens das letzte Aufbäumen Deutschlands in der Ardennenoffensive ab dem 16.12. an der amerikanischen »Heimatfront« für ein deprimiertes und enttäuschtes Weihnachten gesorgt. Das Gefühl, in einer apokalyptischen Endzeit, einem nie enden wollenden, immer weiter ins Unvorstellbare eskalierenden Krieg zu versinken, setzte sich fest. Lee Sandlin schreibt 1997 in »Losing the War«, einem der sicherlich besten essayistischen Texte über die amerikanische Kriegsbeteiligung überhaupt:

Sogar in Amerika, der am wenigsten beschädigten aller am Krieg teilnehmenden Nationen, griff das letzte Kriegsjahr dann doch die Grundbedingungen des Lebens an. Nachdem jener übermütige Sommer der Erwartung [1944] vorbei war, wurde die Lebensmittelrationierung strenger als zuvor wieder eingeführt. Der Schwarzmarkt trocknete aus, und Rindfleisch wurde zum ersten Mal seit Kriegsbeginn knapp. Zum Jahresende hin herrschte ernsthafter Mangel an Heizöl, mitten im kältesten Winter seit zehn Jahren. An beiden Küsten wurden die Städte nachts immer noch verdunkelt, und um Brennstoffe zu sparen, ordnete die Regierung in den Städten des Mittelwestens »brownouts« an – alle Geschäfte hatten mit Einbruch der Dämmerung zu schließen. Zum ersten Mal seit Anfang des Krieges gingen auch in Chicago wie in allen anderen großen Städten der nördlichen Hemisphäre die Lichter aus.

Lee Sandlin 1997, Übers. M.W.

Für den Fall einer Invasion der japanischen Heimatinseln rechneten die amerikanischen Streitkräfte mit Verlusten, die jene des gesamten bisherigen Krieges übertreffen konnten. Zudem war damit zu rechnen, dass Japan mit Beginn der Invasion alle ca. 100 000 amerikanischen Gefangenen töten würde.

In diese Stimmung hinein lauten die ursprünglichen ersten Verse von »Have Yourself a Merry Little Christmas« angemessen endzeitlich:

Have yourself a merry little Christmas
It may be your last
Next year we will all be living in the past.

Aber auch die auf Wunsch der Erstinterpretin Judy Garland aufgehellte spätere Textfassung beschwört, dass man sich bald wieder – wenn das Schicksal es erlaubt – treffen möge wie in alter Zeit:

Once again as in olden days
Happy golden days of yore
Faithful friends who were near to us
Will be dear to us once more
Someday soon, we all will be together
If the fates allow

Bis dahin gilt es, sich weiter irgendwie durchzuwurschteln:

Until then, we’ll have to muddle through somehow

»I’ll Be Home for Christmas« ist noch desolater, denn die Pointe seines Texts ist gerade die, dass das lyrische Ich nur davon träumt, zu Weihnachten zu Hause zu sein:

I’ll be home for Christmas
If only in my dreams

Man könnte es so sagen: Das global standardisierte, melancholisch rückwärtsgewandte Midcentury-Weihnachtsgefühl, das Berit Glanz vergangenes Jahr in ihrem Beitrag über Weihnachtslieder in der Popkultur umrissen hat, hat als seinen finsteren Kern, wie hoffnungslos unerreichbar in New York oder Chicago 1944 ein Weihnachtsfest scheinen konnte, für das alle nach Hause kommen und bei dem es so viel Licht, Wärme und Essen wie vor dem Krieg geben würde.

Dass das Schema so gut funktioniert, hat natürlich auch damit zu tun, dass es erstens im Zusammenhang von Advent und Weihnachten auf der Linie zwischen dem christlichen Ursprung des Fests (und seinen etwaigen heidnischen Substraten) und dem heutigen säkularisierten, kanonisch nostalgischen Weihnachten ein überall dichtes Kontinuum von etablierten Zeichen gibt, die mit Hoffnung, Erlösung, Fremdheit, Heimkommen, Licht im Dunkeln, Vervollständigung von Familie und so weiter zu tun haben.

Zweitens war die konkrete Situation der amerikanischen Kriegsweihnacht bereits mit langanhaltender Melancholie aufgeladen, da das Land erst mit dem Krieg aus der Großen Depression herauskam und man je nach persönlicher Situation nicht bloß zwei oder drei Jahre zurückgehen musste bis zu einem »Weihnachten, wie es früher einmal war«, sondern deutlich mehr als zehn. Auch wenn es vor »White Christmas« noch keine Produktion kanonischer amerikanischer Weihnachtssongs gibt, ist das Muster von melancholischer Sehnsucht, nach einem schwach verschlüsselten Prä-Depressions-Früher bereits verfügbar. Nicht zuletzt schlägt Judy Garland in ihrer Person selbst die Brücke von »Over the Rainbow« zu »Have Yourself a Merry Little Christmas«.

– Das amerikanische Kriegsweihnachten 1944 war darum so außerordentlich desolat, weil ihm der euphorische Sommer 1944 mit der Hoffnung auf eine baldige Kapitulation der Achsenmächte vorausgegangen war, sich nun aber die dystopische Vorstellung eines nie mehr endenden Krieges breitmachte. Die Pointe dabei, im Dezember 2021 darüber zu schreiben, ist so offensichtlich, dass es mir fast ein bisschen unangenehm ist, sie auszubuchstabieren.

Ich habe am Samstag vor dem dritten Advent mit einem kleinen Chor im Nieselregen auf einem Feld nördlich der Marburger Innenstadt Adventslieder gesungen. (In der Stadt für Publikum zu singen war nicht genehmigt worden, da befürchtet wurde, es könnten sich Menschenmengen bilden.) Zu Beginn der zweiten Strophe von »Die Nacht ist vorgedrungen« überflog uns ein Intensivtransporthubschrauber und mir kamen fast die Tränen. Es ist geradezu gespenstisch, wie kulturelle Muster und Sinnzusammenhänge, massenfabrizierte Atmosphären, die ihre Wurzeln in andere Zeitalter strecken, sich sofort und bereitwillig an dem festmachen, was wir nun seit bald zwei Jahren »die aktuelle Situation« nennen.

Es überrascht daher nicht, dass unsere »aktuelle Situation« eine Epoche ist, die vermutlich einmal auch dafür bekannt sein wird, dass in ihr zuvor nie gekannte Mengen an Weihnachten hergestellt und verbraucht wurden – allein die amerikanische Fernseh- und Streamingindustrie präsentiert in der aktuellen Saison die Rekordzahl von mindestens 146 neuen Weihnachtsfilmen. Im ersten Covid-Winter 2020 war bereits eine Steigerung der Serienfertigung von Weihnachtsfilmen zu beobachten gewesen, auch aufgrund von größeren Anstrengungen konkurrierender Medienunternehmen wie Hallmark und Netflix, den Markt zu erobern.

Nicht alles, was mit Weihnachten und historischen Ausnahmesituationen zu tun hat, landet auch im dauerhaften atmosphärischen Inventar. So sind beispielweise die deutschen Kriegsweihnachten beider Weltkriege mit ihrer eigenen Atmosphäre aus Durchhalterhetorik, selbstgefälliger Askese zugunsten der Front und Chauvinismus völlig weggeschoben und verdrängt worden. Vermutlich entscheidet sich zwischen jetzt und Weihnachten 2022, ob auch die Pandemiewinter mit ihren Einschränkungen, ihrem Leid und ihrer Frustration in den Bauch des allesverschmelzenden popkulturellen Melancholie- und Hoffnungsmonsters Weihnachten einverleibt oder doch eher als Ausnahme ausgeklammert werden.

Foto von Kieran White

Weiterleben müssen – Einige Gedanken über vier zuversichtliche Bücher

von Matthias Warkus

Texte, die damit beginnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, sind oft öde und anstrengend. Es ist nicht ohne Grund ein Klischee, dass schlechte Vorträge bei Poetry-Slams oder offenen Lesungen oft damit anfangen (oder sich gar darin erschöpfen), dass jemand vom Anruf mit der Aufforderung, etwas zum Thema des Abends zu schreiben, erzählt. Daher habe ich erhebliche Skrupel, diesen Text so einzuleiten, aber nachdem ich nun  fast drei Jahre lang daran gescheitert bin, es irgendwie anders zu machen, fange ich tatsächlich mit seiner Entstehung an. Weiterlesen

Ohne Helm und ohne Gurt – Ulf Poschardts ‚Mündig‘

von Matthias Warkus

Ulf Poschardt ist für die deutsche Social-Media-Landschaft das Paradigma des unangreifbaren Trolls. Es gibt viele, die im Netz eine eitle und lächerliche Figur abgeben, es gibt viele mit einer Biografie voller krachender Misserfolge, die im Medienbetrieb dennoch unaufhaltsam aufsteigen, es gibt viele Mächtige und Reiche, die kompromisslos öffentlich Partei für die Reichen und Mächtigen ergreifen, aber niemand vereint dies alles wie »Drulf«.

Ulf Poschardt: Mündig

Selbstverständlich macht es das nicht zu einem unmoralischen Akt, seine Bücher zu lesen. Im Gegenteil ist es eine horizonterweiternde Erfahrung, sich tief in sein Denken hineinzubegeben, gerade wenn man ihn vor allem als Verfasser grammatikalisch mangelhafter Einzeiler kennt, in denen das Wort »Moral« ausschließlich pejorativ gebraucht wird.

Man muss davon ausgehen, dass Poschardt, der einer der paar mächtigsten Medienmenschen in Deutschland ist und seine Macht doch stets konsequent herunterspielt, sein Gehabe durch sein intellektuelles Gewicht legitimiert sieht. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich habe Mündig (Klett-Cotta, 271 S.) gelesen, um die Rück- bzw. Innenseite des Twitterclowns Poschardt kennenzulernen, und ich habe es nicht bereut. (Am Rande bemerkenswert: Der Rücken des – sehr schönen – Buchs ist so gestaltet, dass man nach gängiger Konvention davon ausgehen müsste, hier habe jemand namens Mündig eine Biographie über Ulf Poschardt geschrieben. Honi soit qui mal y pense.)

Der Band ist eine lose Sammlung teils bereits veröffentlichter Texte, die Poschardt an die kantische Tradition des »Sapere aude« angeschlossen sehen will. In den schlaglichtartigen Betrachtungen auf locker bedruckten Seiten geht es der Reihe nach um Intellektuelle, Pädagogik, Demokratie, Konsum, Mediennutzung, Digitalisierung, Unternehmertum, Autorennen, Liberalismus, Partykultur, Linke, Männer, Frauen, Künstler*innen und Leben insgesamt. An diesen Themen möchte Poschardt aufzeigen, was Mündigkeit bedeutet, immer im Gegensatz zu einem angeblichen Zeitgeist, in dem (seit irgendwann zwischen 1980 und 1990) freiwillige Unmündigkeit gesellschaftlicher Trend sein soll.

Das Kapitel über Motorsport (130–141), das weitgehend vom Tod Ayrton Sennas 1994 handelt, darf dabei als Schlüssel gelten:

Natürlich ist es gut, dass […] niemand mehr tödlich verunglückt, aber der Formel 1 wurde damit ihre existenzielle Beglaubigung genommen, es mit der Fortschrittserzählung radikal ernst zu meinen. (138)

Poschardt, der sich gerne auf Heidegger bezieht und Senna fast zur Christusfigur hochstilisiert, sieht Mündigkeit in ihrer höchsten Ausprägung dort, wo man »in der Gefahr nicht umkommt, sondern in ihr das Rettende erkennt« (140). Sie ist für ihn letztlich eine gelebte Gesinnung: eine praktische Disposition zur Veränderungsbereitschaft, zur Offenheit, zum existenziellen Risiko, zur Erkenntnis- und Erlebnisfreude. Verschiedene Genusspraxen wie etwa exzessives Feiern und spontaner Sex (158–168), Skaten (143 ff.) oder das Wohnen in Lofts (93–97) gelten hierfür als paradigmatisch, vor allem aber das schnelle und riskante, aber souveräne Autofahren. Beständiges Raunen, das unverantwortliche Fahren als Inbegriff der Freiheit könnte im Zuge der angeblichen allgemeinen Bewegung hin zur Unmündigkeit verboten werden, ist ein Leitmotiv des Buchs und ergänzt sich gut mit den Autometaphern (v.a. »Drift«), die ebenso durchgehend die Sprache prägen.

Die Trennwand zum voluntaristischen Wahnsinn ist da natürlich dünn. Der Mündige, wie Poschardt ihn (und sich in ihm) imaginiert, ist jemand, der nicht nur kein idealer Verkehrsteilnehmer sein will (12), sondern der »aus Lust mehr riskieren« will als andere, »Panikmacher und Angsthasen« (18) verachtet und sich in der Verweigerung um der Verweigerung willen gefällt: »Ich glaube nicht, dass es eine Angst davor geben sollte, etwas nicht zu machen, von dem man glaubt, man müsse es machen« (17f.; nebenbei bemerkt kein Ruhmesblatt für das Lektorat bei Klett-Cotta, dass ein so ungeschlachter Satz durchgekommen ist). Die para-epikureischen Vorüberlegungen dazu, dass man sich aus Gründen der Genussoptimierung und »Abweichungsverstärkung« halt auch mal zurückhalten müsse, statt immer nur aufs Gas zu drücken (18), wirken wie eine nachträgliche verlegene Ergänzung, die zudem von Poschardts enthusiastischer Übernahme der Parole »Never lift«, die gerade dazu auffordert, niemals den Fuß vom Gas zu nehmen, am Schluss wieder konterkariert wird (254).

Im Deutschen gibt es kein Wort für »contrarianism«, was schade ist, weil dies einen wichtigen Zug von Poschardts Denken beschreibt. Er ist im Zweifel für und gegen alles. Er bringt Adorno mit der Inneren Führung der Bundeswehr zusammen (66ff.), lobt und kritisiert das klassische Preußentum, weil es irgendwie sowohl zur Mündig- als auch zur Unmündigmachung des Bürgers tendiert (45ff./253), oder teilt flammend gegen Bildungsungerechtigkeit aus, um genau an dem Punkt, wo er tatsächlich etwas über die traurige Realität des archaischen gliedrigen Schulsystems sagen müsste, zu einem Angriff auf die hessische Bildungspolitik nach 1970 überzugehen (57). Rassistische Antidemokrat*innen wie Ayn Rand und Peter Thiel sind für Poschardt ebenso positive intellektuelle Bezugspunkte wie der Antisemit Jean-Luc Godard, sogar noch nationalsozialistischer Black Metal hat seine kulturelle Berechtigung (231f.): »Schönheit ist wichtiger als die Moral, wenn es der freie Weg sein soll. Und alles kann schön sein« (255).

Das Stakkato von Popkulturphänomenen, auf die reflektiert wird, wirkt allerdings über weite Strecken merkwürdig angejahrt. Poschardt fällt schon online damit auf, deutsche Mentalitäten der Gegenwart hartnäckig an Kulturprodukten zu messen, von denen schon Mittdreißiger heute wenig bis nichts mehr wissen (z.B. die ZDF-Serie Diese Drombuschs). Auch in Mündig orientiert er sich gern an Phänomenen der 80er- und 90er-Jahre: Kirchentagsrhetorik, Holger Börner (178), Guido Westerwelle, Rennfahrer der Zeit vor Michael Schumacher, Marxistische Gruppe (174), Unser Lehrer Doktor Specht (58), Sex and the City, immer wieder Popmusik der frühen 80er. Bei aller zwangscoolen Aufgedrehtheit haben Poschardts Überlegungen daher etwas merkwürdig Antiquiertes (er selbst würde vielleicht das Wort »überholt« bevorzugen). Die Passagen, die sich dann geballt an Fernsehserien von 2011 oder Hip-Hop und Autowerbung von 2018 abarbeiten, wirken bemüht und haben etwas von Sichbeweisenwollen eines Gealterten.

Das Ziel der ganzen Übung der »Mündigwerdung« ist letztlich eine Form der Lebensführung, zu deren Beschreibung Poschardt im Schlusskapitel auf vier Seiten nicht bloß Kant, sondern gleich auch noch Xenophanes, Sokrates, Descartes, Wittgenstein, Camus, Popper, Jeffrey Young und Ignatius von Loyola mobilisiert (245–248). Hier wird keine Abhandlung geschrieben, hier wird »gedriftet«, zwischen Feuilletonismus und Unternehmensberater-Lingo (»VUCA-Welt«, 250). Es ist aber relativ einfach, auf den Punkt zu bringen, was den hier gefeierten und geforderten Lebensstil ausmacht: Er bietet Individuen die Möglichkeit, an eigenständig dosierten Unvernunfterfahrungen in radikal subjektiver Weise zu wachsen. Dabei gibt es prima facie keine moralischen oder ästhetischen Grenzen, alles ist erst einmal erlaubt oder kann zumindest ausnahmsweise einmal ausprobiert werden, sofern das in einem Rahmen von bedeutsamer Selbsterfahrung geschieht. Dies verteidigt Poschardt gegen einen imaginierten, protestantisch-grünen Megatrend hin zum Sichbeugen ins moralische Diktat, in dem die Subjekte die Möglichkeit, sich frei für die Vernunft zu entscheiden, mit der Kenntnis anderer Optionen aufgeben, also in eine selbstverschuldete spießige Unmündigkeit marschieren (und dafür das Auto, »das dynamische Etui des Einzelnen und seiner Freunde und Familie« stehen lassen, 13).

Dieser Blick auf die Conditio humana ist natürlich nur möglich, solange es nicht irgendwelche echten existenziellen Bedrohungen gibt, die von der Menschheit gemeinschaftlich bewältigt werden müssen. Das Bewusstsein bestimmt hier das Sein. Die Notwendigkeit etwa, die Zivilisation als solche je wieder in einem kollektiven Existenzkampf verteidigen zu müssen, wie es im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, kommt nicht vor. Das verwundert, da Poschardt doch die geistigen Wurzeln der Nachkriegs-BRD so wichtig scheinen und er sich immer wieder kompromisslos gegen die AfD stellt. Es erklärt aber, warum er keine Probleme damit hat, immer wieder mit hart rechten Intellektuellen zu kokettieren. Dabei ist er selbst alles andere als »rechts«, sondern tut über lange Strecken seine Bewunderung für ausgewählte Ausschnitte des linken theoretischen Erbes sowie insbesondere den Linksliberalismus der Bundesrepublik vor 1982 kund und plädiert für zahlreiche klassisch sozialdemokratische Politikziele.

Vor allem aber ist es für Poschardt denknotwendig, dass es keine tatsächliche existenzielle ökologische Bedrohung gibt, weil dies seine Wertehierarchie umstieße. Windkraftanlagen (die immerhin mehr als ein Fünftel des deutschen Stromverbrauchs decken) sind für ihn nur »großgewordene[] Kindergartenpropeller[]« (13) und die vermutlich unabwendbare Unbewohnbarwerdung der Erde durch die Klimakatastrophe taucht bei Poschardt nur im Konditional und als Zweitmotivation ohnehin wünschenswerter Veränderungen im Konsumverhalten auf. Als lebensbedrohliche Realität ist sie für ihn lediglich ein Popanz der Grünen, eine »Angstreligion« (251).

– Wenig ist so alt wie das politische Buch von vorletztem Monat. Poschardts Buch wurde sichtlich vor der Pandemie geschrieben, und etwa die Behauptung, in jeder Krise würde »als Erstes die Freiheit des Einzelnen problematisiert, um dann im nächsten Schritt die Entmündigung als wohlwollende Einschränkung der Freiheit vorzubereiten« (16) wirkt heute, da an jeder Ecke, ob nun von Spitzenpolitikern, reichen Zeitungsherausgebern oder kleinen Facebooknazis, gefordert wird, Einschränkungen der individuellen Freiheit aufzuheben, und wenn es noch so viele Todesopfer fordert, noch antiquierter und formelhafter als ohnehin schon.

Die zentrale Prämisse ist der schon mehrfach genannte angebliche regressive gesellschaftliche Zug hin zur freiwilligen Unmündigkeit, zur Staatsgläubigkeit und zum Paternalismus. Woher Poschardt diesen Befund genau nimmt, ist unklar; er wird nie hergeleitet, sondern von der ersten bis zur letzten Zeile vorausgesetzt. Möglicherweise hat er vor allem mit seinen persönlichen Geschmacksurteilen zu tun; böse gesagt: Wer als Werkzeug nur ein Gaspedal hat, sieht in jedem Problem ein Tempolimit. Ich halte Poschardts optimistische Prämissen ansonsten für genauso falsch wie seine gesellschaftspolitische Voraussetzung. Die westliche Zivilisation und die Menschheit als ganze sind beide akut bedroht und große Kraftanstrengungen zu ihrem Erhalt sind notwendig. Knappe Ressourcen, zuvörderst Zeit und das winzige verbliebene Klimagasbudget, müssen notwendigerweise prioritär für diese Anstrengungen eingesetzt werden.

Selbstverständlich stimmt es, dass eine Welt ohne Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung auch nicht mehr lebenswert wäre, aber Poschardts Implikation, dass bereits eine Welt, in der es nicht mehr möglich ist, aus freier Entscheidung mit einem benzingetriebenen Auto lebensgefährlich schnell zu fahren, so wenig lebenswert wäre, dass sie auch genauso gut gleich untergehen kann, ist nicht nur spleenig, sondern mindestens ebenso nihilistisch wie die transgressiven Kulturprodukte, die dieses Buch feiert. Die wenigen Augenblicke, die der Menschheit welthistorisch gesehen noch bleiben, sind sicherlich besser darauf verwendet, ihr Ende abzuwenden oder es (was wahrscheinlicher ist) zumindest etwas hinauszuschieben und palliativ auszugestalten, als zur persönlichen Sinnstiftung von 911er-Fahrern beizutragen.

Mündig ist ein Buch, das Fahrlässigkeit predigt. Das ändert jedoch nichts daran, dass es immerhin diskutabel ist, also: einen Beitrag darstellt und nicht etwa desinformiert. Die Ungenauigkeiten, die man darin findet (so impliziert Poschardt, die Idee der Presse als »vierter Gewalt«, die zu Balzac, Carlyle und Burke zurückreicht, sei irgendwie spezifisch für die Nachkriegsbundesrepublik, 102; seine Falschschreibung von Dirk Roßmanns Namen lässt erkennen, dass Poschardt weitgehend ohne Recherche aus dem Kopf schreibt, 123), sind im Vergleich zu anderen politischen Büchern, die ich in den letzten Jahren in Händen gehalten habe, harmlos; ich habe Poschardt insgesamt mit erheblich mehr Gewinn gelesen als etwa Richard David Precht oder Thea Dorn. Dass er einer essayistischen Tradition angehört, in der sich an Phänomenen abgearbeitet wird, denen man Allgemeinheit und Wirkmacht einfach unterstellt, ohne sie je mehr als anekdotisch zu belegen, wirkt heute, da man selbst zu komplexen Trendfragen mit drei, vier einfachen Google-Eingaben wenigstens empirische Anhaltspunkte gewinnen kann, veralteter denn je. Aber ihm als Einzelperson kann man nicht vorwerfen, dass er das alte Spiel weiterspielt.

Zum Schluss verdient die sprachliche Manieriertheit des Buchs noch ein paar Sätze. Der vielfach karikierte Poschardt-Stil enttäuscht auch im Buchformat nicht. Der unbedingte Wunsch, auf Teufel komm raus allem größtes Gewicht zu geben, wenn beispielsweise aus dem deutschen Finanzminister mal eben ein »Schatzkanzler« wird (151), paart sich mit dem unwiderstehlichen Willen zur überraschenden Phrase und bringt Blüten hervor, die sich selbst eine Poschardt-Parodie der TITANIC nicht trauen würde (vgl. Anhang). Poschardts »Drift«, im ganzen Buch die Leitmetapher für »mündiges« Denken und Leben, geschieht ganz buchstäblich stets kurz vor dem Abriss seiner eigenen intellektuellen Bodenhaftung.

Was aber vielleicht das Allerwichtigste ist: Das alles ist komisch, aber es ist nicht unfreiwillig komisch. Auch wenn Poschardt als Person im realen Leben ungeheuer steif und linkisch sein kann, weiß er doch zumindest als Schriftsteller um das Groteske seiner Pose, ja forciert es sogar, weil für ihn »die Existenz eben auch ein Karneval ist, das Denken eine Clownerie, das Schreiben ein Gezappel« (33). Da kann dann auch das Lehrer- und Predigerkind Poschardt über andere »Lehrer- und Pfarrerskinder[]« herziehen (106) – denn:

Darum geht es: lachend zur Witzfigur zu werden. (196)

qed 🤡

Anhang: Die zehn größten Quatschsätze in Mündig

  1. »Der Türsteher vergibt die Mündigkeitshouseaufgaben.« (161)
  2. »In rhizomatisch geführten Betrieben sind die unterschiedlichen Tentakel eben auch Wahrnehmungsassistenten.« (125)
  3. »Heideggers Dystopie von der Herrschaft des Gestells ist als eine Art infames Entlastungs-Spa mächtig geworden.« (12)
  4. »[Jürgen] Klopp weiß, dass er nur mehr eine Anti-Aging-Cremetube entfernt ist von seinem kulturellen Schatten.« (196)
  5. »Godard hat den Linksradikalismus als Bi-Turbo für seine Überlegungen stets missbraucht.« (37)
  6. »Je feiner es [das Fahrwerk des mündigen Intellektuellen] justiert ist, umso besser die Straßenlage in den Debatten und die Traktion aus den Argumentationskurven hinaus.« (32)
  7. »Im Nachtleben wären mehr Kontrollen tödlich, zumindest für den freien Geist des Nachtlebens, jene Mischung aus Balz, Bordeaux und Petting.« (160)
  8. »Das belegen Jay-Z und Dirk Rossmann, Dr. Dre und Nicola Leibinger.« (123)
  9. »Teile des Buches bestehen aus einer Consommé von Texten, die in der ›WELT-Gruppe‹ erschienen sind.« (4)
  10. »Pop ist jetzt staatstragend, geht ein und aus im Weißen Haus (reimt sich)« (223).

Beitragsbild (unverändert): Lothar Spurzem (CC BY-SA 2.0 de)