Skepsis für die Skepsis – Heinz Budes „Abschied von den Boomern“

von Matthias Warkus

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Ich hasse das Wort »Boomer« mit Leidenschaft. Weniger den mehr oder minder unangenehm konnotierten Begriff für die geburtenstarken Jahrgänge ca. 1955 bis ca. 1970, den es bezeichnet, sondern wirklich das Wort: Ich kann mich nämlich daran erinnern, dass ich als Kind den Namen des Fernsehhundes aus der Serie »Boomer, der Streuner« schon nicht mochte. Keine guten Voraussetzungen eigentlich, ein Buch, das das Wort bereits im Titel trägt, zu rezensieren, aber man muss sich seinen Ängsten und Abneigungen eben auch stellen, und ich darf berichten, dass ich meine Hemmungen, das Wort »Boomer« zu schreiben, im Laufe der Entstehung dieser Rezension völlig abgelegt habe. Zumindest für mich hat es sich also schon jetzt gelohnt.

Heinz Budes Abschied von den Boomern (Hanser 2024) ist ein schmales Buch, eher ein Langessay als eine veritable Monographie. Netto hat es weniger als 125 Seiten, und die sind außerdem kleinformatig und eher locker bedruckt. Der essayistische Charakter wird noch dadurch betont, dass das zweite seiner beiden Motti (das erste ist von den Talking Heads) aus dem autobiographischen Roman Aufprall (Hanser 2020) kommt, den Bude zusammen mit seiner Frau Karin Wieland sowie Bettina Munk geschrieben hat. Es ist also kein Geheimnis, dass hier zugleich der Soziologe und der Romancier spricht. So ergibt sich eine ausgefeilt mehrdeutige Erzählposition: Mit »dem Boomer« meint Bude mal als generischen Singular die Generation allgemein beziehungsweise ihren soziologischen Idealtyp, mal das Westberliner 80er-Jahre-Milieu, in dem er als junger Erwachsener lebte, mal nur sich selbst.

Der Raffinesse dieses narrativen Kunstgriffs entspricht der auch sonst brillante Stil. Man liest dieses Buch in einem Zug weg, schlicht aus Bewunderung darüber, wie gut es geschrieben ist. Auf engstem Raum liefert Bude demographische und soziographische Rahmendaten, autobiographische Vignetten und ebenso lakonische wie apodiktische Befunde über die Boomer sowie die verschiedenen Generationen, die er mit ihnen vergleicht: vor allem die Wiederaufbaugeneration, die mehrheitlich ihre Eltern stellt, und die ihnen knapp vorangehenden 68er. Er geht dabei, und das ist für mich die erste Überraschung, davon aus, dass Generationen in einem bedeutsamen Sinne tatsächlich existieren, was inzwischen eher eine Minderheitenmeinung ist; näher am Konsens liegt heute jemand wie Martin Schröder, der gar keine prüfbaren Unterschiede zwischen Generationen sieht, die sich nicht durch andere Effekte erklären lassen. Bude bekennt sich explizit zu einem Begriff der Generation als Erlebnisgemeinschaft einer Alterskohorte im Anschluss an Karl Mannheim (26f.).

Die Boomer zeichnen sich in seiner Darstellung vor allem dadurch aus, dass sie »einfach immer zu viele« gewesen seien (18), sowie dadurch, dass sie als »erste Generation ohne direkte Kriegserfahrung« (23) inmitten eines gravierenden sozioökonomischen Strukturbruchs der gesamten westlichen Welt aufgewachsen seien. Warum die Jahrgänge zwischen 1945 und 1955, die ebenfalls keine direkten Kriegserfahrungen gemacht haben, separat betrachtet werden müssen, wird nicht immer ganz klar; die Geburtenziffer steigt schließlich schon direkt nach dem Krieg an.

Aus dem Charakteristikum der Boomer-Generation, besonders zahlreich gewesen zu sein, geht in Budes Modell unter anderem ein »nicht übertriebenes Wir-Gefühl« (25 u. 34) hervor: Die Boomer teilen idealtypisch die Erfahrung, kein Generationenprojekt zu verfolgen wie z.B. die 68er, dafür aber häufig einen Bildungsaufstieg zu vollziehen, an den sich die Schwierigkeit anschließt, adäquate Beschäftigung zu finden. Ebenfalls in Abgrenzung zu den 68ern, so Bude, lassen sich die Boomer weniger politisieren, halten skeptische Distanz zu den Theorien der traumatisierten »Ruinenkinder« (46) vor ihnen und sind insbesondere nicht geneigt, sich von ihnen erzählen zu lassen, dass das Ganze das Unwahre sei.

Nun wird das Buch episodisch. Die folgenden Kapitel, die man wie freistehende Feuilletonbeiträge unabhängig voneinander lesen kann, beleuchten verschiedene für Bude typische Facetten der Boomer-Biographie: wie sie verspätet, nämlich durch Film und Fernsehen der 70er und 80er, von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust verstört worden sei; oder welches Verständnis vom Platz des eigenen Staates in der Weltgeschichte, getrennt nach DDR und BRD, sie entwickelt habe, nämlich ein tragisches (Ost) bzw. ein ironisches (West). Es folgt ein Kapitel mit Reminiszenzen an die Berliner Hausbesetzermilieus, ebenfalls differenziert nach Ost und West. Allmählich wird ein weiterer Vorzug des Buchs klar – dass es sich bei der Betrachtung seiner Thematik nämlich nicht, wie man es leider auch heute noch von einem westdeutschen Akademiker tendenziell erwarten würde, auf die westdeutsche Perspektive beschränkt, sondern zumindest den Versuch unternimmt, auch die DDR mitzudenken. 

Zwei weitere Kapitel behandeln dann Beziehungsstile und Einstellungen zum Feminismus sowie den Umbruch der 90er Jahre, womit Bude einer Auseinandersetzung mit den gängigen Vorwürfen an »die Boomer« erstmals nahekommt, wenn er ihnen eine Hinwendung zum Neoliberalismus und Sympathien für die ökonomische Disruption, beispielsweise durch die digitalen Innovationen um die Jahrtausendwende, attestiert. Darauf folgt ein äußerst kurzes Kapitel, das auf wenig mehr als zwei Seiten den für Bude größten Unterschied zwischen den Boomern und ihren Nachfolgern umreißt: Während seine Generation aus den Untergangsängsten der 80er und der Auseinandersetzung mit den realen Katastrophen des 20. Jahrhunderts die Überzeugung, »dass man davonkommen kann« (114), mitgenommen habe, sähen die Folgegenerationen eine unausweichliche Katastrophe vor sich, vor der all dies verblasse. (Gemeint ist, auch wenn es nicht ausgesprochen wird, hier und an anderen Stellen die Klimaveränderung.)

Es folgen Überlegungen zum aktuell präsentesten Boomer-Thema des »Abschieds von den Eltern«, bis Bude im letzten Kapitel, zwei Seiten vor Schluss, endlich ans Eingemachte geht, nämlich an den Vorwurf, die Boomer hätten »als Vorfahren ihren Nachfahren die Zukunft gestohlen […] Wie konntet ihr einfach so dahinleben?« (132). Eine bündige Antwort bleibt er leider schuldig. Stattdessen folgen philosophische Überlegungen über Zeit und ein Verweis auf Derrida, dann wieder der Rückgriff auf die Westberlin-Erfahrungen der 80er. Bude beschwört die Boomer nach diesem kurzen Ausflug in postmoderne Metaphysik am Ende als ein Kollektiv pragmatisch Handlungswilliger. Die Schlussworte des Buchs lauten: »Sagen wir also als Formel für die Zukunft: Wirkungswille ohne Letztbegründung« (135).

Die eigentliche Quintessenz des Buchs findet sich schon vorher im drittletzten Kapitel, wo Bude »Das Denken der Boomer« charakterisiert als eine Art kritische, aber zugewandte Distanz zu »Leistung, Gemeinschaft, Technik, Fortschritt und Zukunft« (117). Wenn man ihm hier folgt, nimmt man ein sympathisches Bild mit. Aber, wie schon zu Anfang gesagt: Es ist nie ganz klar, wo Bude nun seine ganze Generation meint, wo bloß seine Hausbesetzer-Kumpels und wo am Ende vielleicht sogar nur sich selbst.

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Die Vermutung liegt nahe, dass ein so schmales und letztlich doch subjektives Buch große Auslassungen macht. Zur Korrektheit der vielen Makro-Befunde, die Bude in seine dichte Prosa packt, kann ich wenig sagen. Es gibt jedoch zumindest Anekdoten, die mir mit dem freundlich-melancholischen Gesicht, das er den Boomern zeichnet, nicht ganz zusammenzupassen scheinen. Nur eine davon: Die prototypische Boomerin Claudia Roth, mit Jahrgang 1955 fast exakt gleich alt wie Bude,  beschreibt seit mindestens 2010 immer wieder (zuletzt in einem ZEIT-Interview vergangenes Jahr) die Schlüsselszene ihrer Biographie, dass ihr nach zwei Semestern Germanistikstudium durch ihre Professoren ein Angebot der Städtischen Bühnen Dortmund vermittelt wurde, dort in der Dramaturgie zu arbeiten.

Die Vorstellung, dass jemand, der nicht Kind eines renommierten Theaterschriftstellers o.Ä. ist, nach zwei Semestern eines geisteswissenschaftlichen Studiums, ohne irgendeinen Abschluss, sich auf eine profilierte Stelle an einem großen Theater noch nicht einmal bewerben muss, sondern sie angeboten bekommt und danach in der Branche etabliert ist – das ist mir (Magisterabschluss 2008) so fremd, dass sich dieser Vorgang genauso gut 1775 im Herzogtum Sachsen-Weimar hätte ereignet haben können wie 1975 in der BRD. Nicht nur an der Hochschule waren die Verhältnisse für heutige Begriffe äußerst entspannt, da es noch Studiengänge gab, in denen die Promotion gleich der erste Abschluss war (für den mit etwas Glück eine Dissertation im Umfang einer heutigen Bachelorarbeit ausreichte, die man einer Institutssekretärin auf Band diktieren durfte), nach dem echte unbefristete Mittelbaustellen ohne jeden Evaluations- und Antragsdruck winkten. Auch im Kulturbetrieb und im sonstigen öffentlichen Dienst scheinen viele Prozesse wesentlich informeller gewesen zu sein als heute. Zudem expandierten Bildungs- und Kulturinstitutionen unablässig, mit als Schlusspunkt der Sonderkonjunktur durch die Neubesetzung nahezu der gesamten ostdeutschen Hochschullandschaft. Bude deutet hingegen lediglich die Schwierigkeiten an, die den Boomern auf dem Arbeitsmarkt durch ihre große Zahl entstanden seien.

An anderer Stelle ist wie so oft zu erkennen, dass nichts älter ist als das politische Buch (bzw. die politische Langessay-Sentenz) von gestern. Auf S. 42f. schreibt Bude über den Bundestagswahlkampf 1972: »Das Staatsvolk trat als Wahlvolk in Erscheinung. Es hielt sich nicht ängstlich im Hintergrund, es beschränkte sich nicht auf die Abgabe seiner Stimme, es bewies vielmehr in öffentlichen Versammlungen seine konstituierende Macht. Schließlich geht in der Demokratie alle Gewalt vom Volke aus. Dass sich dafür Menschen begeisterten, kann man sich heute erst recht nicht mehr vorstellen.« Das Buch, in dem diese Zeilen stehen, erschien am 29. Januar 2024. Allein am Vortag waren in Deutschland weit über 200 000 Menschen für die Demokratie und gegen den heraufdämmernden Faschismus auf die Straße gegangen. Weder hier noch anderswo im Buch tauchen deutsche Rechtsextreme überhaupt als Problem auf – auf S. 121 wird festgestellt, dass die Neunziger mit Berlusconi die Geburt des modernen Rechtspopulismus gesehen haben, aber als Galionsfiguren werden lediglich »Geert Wilders, Viktor Orbán, Sebastian Kurz oder Donald Trump« genannt. Im Kapitel zu den 90er Jahren hören die innerdeutschen Ost-West-Gegenüberstellungen denn auch auf. Von der Rolle, die rassistische Gewalt in diesem Jahrzehnt (und darüber hinaus) zu beiden Seiten der ehemaligen Grenze gespielt hat, spricht Bude genauso wenig wie von den biografischen Erschütterungen der Nachwendejahre, obwohl beides die Boomer in erheblichem Maße berührt hat.

Die größte Leerstelle scheint mir aber bei einem Thema zu klaffen, das zumindest im sozialmedialen Klischee des Boomer-Nachfolgegenerationen-Konflikts größten Raum einnimmt, nämlich soziale, insbesondere wirtschaftliche, Ungleichheit. Erstens intragenerationell: Bude schreibt recht detailliert über die spezifischen Erwerbsbiographien der Boomer, unterschlägt aber den Übergang von der Vollbeschäftigung zur Massenarbeitslosigkeit als generationenprägendes Ereignis – allmählich zwischen 1973 und 1983 im Westen, schlagartig und traumatisch um 1990 im Osten. Auf S. 109f. schreibt Bude: »Viele Boomer haben in den 1990er Jahren ihre Arztpraxis eröffnet oder ihr Architekturbüro gegründet, ihren Industriemeister gemacht oder sind als leitende Angestellte eine Stufe in der Unternehmenshierarchie nach oben geklettert, haben als Geistes- oder Sozialwissenschaftlerin noch eine Festanstellung ergattert oder sind als Ungelernte aufgrund einer betrieblichen Anlernkarriere in einem Unternehmen relativ sicher untergekommen.« Dies scheint mir doch ein recht sonniger Blick auf die Dinge. So egalitär ist es eben nicht zugegangen, sonst wäre die Gesellschaft, was Ungleichheit, Vermögenskonzentration und verfestigte Deprivation der Unterschichten angeht, nicht wo sie heute ist. Warum gibt es denn die Bildungsaufstiege und die erfolgreichen Anlernkarrieren nicht mehr massenhaft, obwohl doch ein gewaltiger Arbeitskräftemangel einem Reservoir von immer noch über dreieinhalb Millionen Arbeitslosen und Unterbeschäftigten gegenübersteht? Haben die Boomer damit etwas zu schaffen? Könnte es beispielsweise etwas damit zu tun haben, dass sie in den 80ern und 90ern dabei mitgewirkt haben, die Eliten habituell zu schließen und die Inanspruchnahme sozialstaatlicher Rechte als etwas Verächtliches einzufärben? Dazu würde man die Meinung des Makrosoziologen eigentlich gerne hören.

Zweitens intergenerationell: Der populärste Vorwurf an die Boomer neben der Behauptung, sie hätten die Klimakatastrophe maßgeblich zu verantworten, ist sicher, sie hätten zwar ihre eigenen Schäfchen (Gehälter, Führungspositionen, Rentenansprüche, Immobilien) ins Trockene gebracht, aber zugleich versäumt dafür zu sorgen, dass es ihrer Folgegeneration genauso gut gehen möchte, oder diese gar bewusst im Interesse des eigenen Fortkommens schlechter gestellt. Das Klischee sieht die Generationen nach den Boomern als ökonomisch gestrandet, irgendwo zwischen unbezahlbaren Wohnungen, stagnierenden Reallöhnen und einem immer stärker prekarisierten und dualisierten Arbeitsmarkt. Es gibt zwar zu Recht eine lebendige Diskussion darüber, wie legitim und objektiv diese Vorwürfe sind. Nicht nur in den USA, wo zuletzt unter dem Schlagwort der »Vibecession« debattiert wurde, dass die pessimistische Wahrnehmung der wirtschaftlichen Situation (der eigenen und der des ganzen Landes) sich von den realen Befunden entkoppelt hat. Auch in Deutschland sind viele landläufige Vorstellungen über finanzielle Generationenunterschiede fragwürdig. Eine Küchenhypothese von mir dazu ist, dass die öffentliche Meinung zum Thema in erheblichem Maße durch Angehörige von Milieus mit besonders fragilen Erwerbsbiografien (Journalismus, wissenschaftlicher Nachwuchs) in besonders teuren Städten gemacht wird. Zudem sind viele der ökonomischen Unterschiede zwischen z.B. Boomern und »Generation Z« sicherlich keine Generationeneffekte, sondern hängen damit zusammen, dass die Jüngeren schlicht noch nicht so viel Zeit zum Geldverdienen hatten. Und generell ist es mit dem wirtschaftlichen Allgemeinwissen der Deutschen nicht so weit her. Aber, ich wiederhole mich: Man würde sich wünschen, dass Bude wenigstens ein paar Worte zu alledem verliert.

Abschied von den Boomern ist ein kurzweiliges und ausgesprochen gut geschriebenes Buch, dessen Lektüre sich trotz der genannten Lücken auf jeden Fall lohnt. Man kann angesichts von Budes nachdrücklich wiederholten Zuschreibungen von Skepsis, Distanz und Pragmatismus zu seinen Altersgenossen höchstens den Eindruck bekommen, dass da jemand uneingestanden das Projekt betreibt, sie gegen die berühmte »skeptische Generation« (Habermas, Kohl, Dahrendorf, Enzensberger etc. etc.) stark zu machen. Im Wettbewerb um den Status als »Greatest Generation« der deutschen Nachkriegsbevölkerung gelten jene sicher als die Favoriten. Folgt man Bude, gehören die Boomer mit aufs Treppchen. Das kann man, selbst wenn man das ganze Generationengetue nicht rundweg ablehnt, getrost ein bisschen skeptisch sehen.

Foto vom Verfasser (Gebäudeensemble am Kurpark von Bad Rothenfelde)

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