(Re)Reading „Malina“ – Ein Dialog zu Ingeborg Bachmanns einzigem Roman

“Malina”, der einzige Roman Ingeborg Bachmanns, erschien 1971, zwei Jahre vor ihrem Tod. Eine Dreiecksgeschichte, erzählt in drei Kapiteln von einer namenlosen Ich-Erzählerin, einer Schriftstellerin in Wien.​​​​​​ Der Roman besteht aus Reflexionen, Traumsequenzen und Dialogen, die um ihr Dasein als Frau und Künstlerin kreisen, um ihren Vater, um Gewalt und Faschismus. Und um ihre Beziehungen: zu Ivan, der in derselben Straße wohnt, der Ungargasse, und zu Malina, einem Militärhistoriker, mit dem sie zusammenlebt. Der Verlag verkaufte “Malina” als Liebesroman, Bachmann selbst bezeichnete das Buch als Autobiografie, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne. Doch die Autorin ist für ihre öffentlichen Verwirrspiele bekannt, und das Buch lässt sich bis heute kaum einem Genre zuordnen. Über ein halbes Jahrhundert später widmet sich anlässlich des 50. Todestages der Autorin ein Lesekreis der “Digitalen Burg”, Teil des Center for Literature der Burg Hülshoff, dem Roman. Seit Oktober trifft sich der Kreis alle zwei Wochen unter dem Motto “Malina – Das ist kein Liebesroman” im virtuellen Raum, moderiert von je einer deutschsprachigen Autor:in, darunter zum Beispiel Evan Tepest, Monika Rinck, Simone Scharbert und Dorothee Elminger. Auch wir – zwei Literaturwissenschaftlerinnen ohne spezifischen Bachmann-Hintergrund – sind Teil der virtuellen Gruppe, kilometerweit voneinander entfernt, verbunden durch unsere Suhrkamp-Taschenbuchausgaben. 

(K)ein Liebesroman?

Wieso darf „Malina“ kein Liebesroman sein? Ich fühle mich ein wenig ertappt, sind mir doch von meiner ersten Lektüre des Buchs vor einigen Jahren vor allem die Beziehungen der Hauptfigur zu den zwei Männern, Ivan und Malina, in Erinnerung geblieben. Eingeprägt hat sich ein diffuses Gefühl von dunkler Sehnsucht, die dem Text innewohnt, ein Eindruck von verzweifeltem und scheiterndem Ringen mit den eigenen Gefühlen, und ein bitteres Ende. Ganz sicher hatte ich das Buch bisher als Liebesroman gelesen, oder vielmehr als Liebeskummerroman. Doch geht es in dem Buch denn wirklich um eine Liebesbeziehung?  Ivan und Malina seien gar keine ‚real existierenden’ Personen, wird im Lesekreis gemutmaßt, sondern personifizierte Stimmen im Inneren der Erzählerin, Abspaltungen ihrer Persönlichkeit. Daher könnten sie gar kein Objekt romantischen und fleischlichen Begehrens sein. Es gehe nicht um eine Liebesbeziehung, vielmehr um ein bewusstes Spiel mit Klischees, mit männlichen und weiblichen Stimmen, und natürlich mit uns, den Leser:innen. Was sind die Regeln dieses Spiels? Was sind seine Freiheiten? In den ersten Sitzungen des Lesekreises wird deutlich: der Roman soll in seiner ganzen politischen Dimension erfasst und nicht nur als Beziehungsgeschichte verstanden werden. Denn Bücher von weiblichen Autorinnen werden auch heute noch als ‚Frauenliteratur‘, als gefühlig, zu persönlich, seicht abgestempelt. Frauen können besonders gut Liebesromane schreiben, Männer besser politische Texte, so das althergebrachte sexistische Klischee.  

Ein erzählerisches Verwirrspiel

Buchmarkt und Literaturbetrieb haben Spielregeln: Bestimmte Autor:innen haben eine Bühne. Bestimmte Gattungen werden mit einem Geschlecht verknüpft, bestimmte Geschlechter mit einer Lesart. Beim Vermarkten eines Buchs soll Erwartbarkeit geschaffen werden, beim Lesen eine Sicherheit, wie ich mich als Leser:in zur Erzählung positionieren soll. Soll ich den Text nach autobiografischen Enthüllungen durchkämmen? Ist das jetzt ein Liebesroman oder nicht? Wo bewege ich mich gerade im Text: im Nachkriegswien, in einem Märchen, einem Traum oder doch in der Vergangenheit der Erzählerin? Sicher scheint bei der Lektüre von „Malina“ wenig zu sein. Manchmal bin ich genervt, wie viel mit diesem Text gerungen werden muss, wie viele Lesarten er eröffnet und wie wenig er irgendwelchen Regeln zu folgen scheint. Dann muss ich über diesen Anspruch an den Text lachen. Denn eigentlich mag ich es ja, wenn Literatur mich genau so fordert, und ein „detektivisches Lesen“ braucht – wie das in einer der ersten Sitzungen formuliert wird. Gut also, dass der Lesekreis zahlreiche Sitzungen hat, jede mit einem anderen Schlaglicht auf den Text. In einer der Sessions steigt die Lyrikerin Monika Rinck mit einem beeindruckenden, sprachgewaltigen Stream of Consciousness zu ihren 40 Seiten „Malina“ ein. Es geht um das Spiel in all seinen Facetten. Das erzählerische Verwirrspiel der Autorin: Sehen wir Bachmann beim Lesen vielleicht kichernd vor unserem inneren Auge, fragt sich Rinck. Freut sie sich diebisch über die Rätselhaftigkeit ihres Texts? Es wird diskutiert über das (Macht)Spiel zwischen den Geschlechtern. Denn wer eine Geschlechterrolle ausfüllt, sie performt, folgt oft unausgesprochenen gesellschaftlichen Spielregeln. Die Frau, die auf den Anruf des Mannes wartet. Der Mann, der kommt und geht, wie es ihm passt – der die Regeln schreibt, die sie befolgt? Und es geht um das Strategiespiel schlechthin: Schach. Wenn Ivan keine Lust auf Konversation hat, so die Erzählerin, zwinge er sie ans Schachbrett. Dort bestimmt ein ganzes Set an konkreten Regeln über die Bewegungsfreiheit der Figuren. Und die ist oft eingeschränkt. Lediglich die Figur der Dame scheint frei in ihren Zügen.
Das Spiel gegen Ivan bewegt sich zwischen Beschimpfung und Komik, Erotik und Macht: „Ivan sagt, du spielst eben ohne Plan, du bringst deine Figuren nicht ins Spiel, deine Dame ist schon wieder immobil.“ Was ist hier Spiel, was Ernst? Einige Wochen nach der Session blättere ich in einem Buchladen durch ein Buch mit Erinnerungen an Ingeborg Bachmann, aufgeschrieben von ihrem Bruder. Da gibt es ein Schwarz-Weiß-Foto, aufgenommen 1962 in Rom: die Autorin beim Schachspiel. Sie lächelt, trägt eine Bluse mit Paisley-Muster, die Haare schulterlang. In der Hand hat sie den weißen Springer – und ist kurz vor dem nächsten Spielzug.

Witz und Ironie

Was mich bei dieser Re-Lektüre von „Malina“ überrascht, ist genau dieses Spielen, oder eher das Verspielte, Momente von Leichtigkeit und der Humor, der dann durchblitzt. Nicht nur die Schachspiel-Szene ist voll von Komik. Auch andere Teilnehmer:innen des Lesekreises bekräftigen, wie lustig sie wider Erwarten den Text stellenweise fanden. Über mehrere Seiten hinweg wird ein Interview der Erzählerin mit einem Journalisten namens Mühlbauer beschrieben, das mich auflachen lässt. Die Erzählerin lenkt die einfältigen Fragen von Herrn Mühlbauer geschickt um, weicht ausführlich aus und spielt sie ihm wieder zurück. Der Ton während dieser Szene ist bissig und ironisch. So zum Beispiel spottet sie bei einer Frage zu ihrer Meinung über die ‚heutige Jugend‘: 

„Die Abstraktion, wissen Sie, ist vielleicht nicht meine Stärke, ich sehe dann immer gleich solche Anhäufungen, zum Beispiel Kinder auf Kinderspielwiesen, zugegeben, eine Anhäufung von Kindern ist für mich etwas besonders Entsetzliches, auch ganz unbegreiflich ist mir, wie Kinder es unter so vielen Kindern aushalten können.“ 

Ihr Humor ist mir sympathisch. Plötzlich habe ich ein neues Bild der Erzählerin, die ich, trotz mehrfachen Abratens, den Text autofiktional zu lesen – von Lesekreismitgliedern ebenso wie von Bachmann selbst – im Geiste mit der Autorin gleichsetze. Die konnte ja auch durchaus gewitzt auftreten. Sie hat nie gerne Interviews gegeben und wollte nicht über Privates sprechen. Mir kommt das Autorinnenfoto auf dem Cover meiner Suhrkamp-Taschenbuchausgabe in den Sinn: Bachmann blickt verschmitzt zur Seite, die Hand hält sie vor den breit lächelnden Mund, als wolle sie ihr Lachen verbergen. Sie wirkt ein wenig schüchtern auf mich, gleichzeitig wach und beinahe frech. Wie passt dieses Bild zur gesellschaftspolitischen und -kritischen Wucht dieses insgesamt schwer verdaulichen Nachkriegsromans? 

Das Nicht-Verstehen akzeptieren

Ja, das Mühlbauer-Interview hat Witz. Genauso wie die Darstellung eines Aufenthalts der Ich-Erzählerin am österreichischen Wolfgangsee am Ende des ersten Kapitels. Beide Passagen lassen sich auch als Kommentar auf den Literaturbetrieb und die kulturbeflissene Schickeria lesen – und beide haben etwas Theater- oder Hörspielhaftes an sich. Und tatsächlich heißt es in einer unserer Sitzungen, “Malina” sei ein Text, der laut gelesen werden möchte. Das gemeinsame Lesen im digitalen Zoom-Raum, der Menschen versammelt, ist immer wieder etwas Besonderes. Und trotzdem habe ich mich selbst bisher kein einziges Mal zu Wort gemeldet. Warum? Irgendwie sind die Hemmungen zu groß. Alle wirken so sophisticated, sind sich in ihren intellektuellen Verweisen und in ihrem akademischen Sprechen so sicher – zumindest in meiner Wahrnehmung. Immer wieder muss ich in solchen Momenten an die erste Sitzung zurückdenken, als eine Teilnehmerin sagt, sie käme sich angesichts der vielen genannten Referenzen und dem schon vorhandenen Wissen zum Text etwas dumm vor. Ich fühl’s. 

Einmal melde ich mich dann doch. Es kostet mich einige Überwindung, aber ich schaffe es, mit ausgeschalteter Kamera zumindest ein paar spontane, unausgereifte Überlegungen in den Raum zu werfen. Mein Kommentar läuft ins Leere. Schon in vergangenen Sitzungen fiel auf, dass sich immer wieder dieselben Personen zu Wort melden, die sich auch schon untereinander zu kennen scheinen. Auch dieser Lesekreis hat seine Spielregeln, denke ich etwas frustriert. „Malina“ hat ein politisches Buch (und kein Liebesroman) zu sein. Spontane Wortmeldungen sind ausdrücklich erwünscht, aber dann vielleicht doch nur von bestimmten Leuten, mit einer bestimmten Art und Weise zu sprechen, gern gesehen. Da ist mir der Kommentar von Autorin Tanasgol Sabbagh umso lieber, wenn sie sagt, man müsse und könne sich diesen Text nicht untertan machen. Das Nicht-Verstehen akzeptieren, es produktiv machen. Oder eben nicht: am und mit dem Text rätseln, an und mit ihm verzweifeln, sich an ihm reiben. Dann wieder stoße ich auf Sätze, die direkt ins Mark treffen. Wo ein unmittelbares Verstehen, oder vielleicht ein Erkennen, im Körper stattfindet. Auf einen „Satz vom Grunde“, wie es im Text heißt, der aus den ozeanischen Tiefen des Unbewussten durch schriftstellerisches Können an die Oberfläche getrieben wurde. 

„Ich werde Ihnen ein furchtbares Geheimnis verraten: die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen und in ihr müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer Schuld.“ 

Solche bleischweren Sätze scheinen die Traumata einer ganzen Generation in sich zu tragen, der (nicht-jüdischen) Generation, die wie Bachmann selbst das Nazi-Regime und den Krieg miterlebt hat, und sich nach dessen Niedergang mit Fragen nach Verantwortung und Schuld quält. Diese Traumata verarbeitet die Autorin auch immer wieder in der Form surrealer und brutaler Traum-Szenen, in denen das Buch zu einem Buch der Hölle wird, wie sie schreibt. Ja, mit einem Liebesroman hat der Text in solchen Momenten nur noch wenig zu tun. 

„Ein Wahnsinns-Repertoire“

„Malina“ als Trauma-Archiv: Diese Lesart schlägt Autor:in Evan Tepest in der ersten Lesekreissitzung vor. Ein Vorschlag, der am Anfang der Lektüre vielleicht noch ein bisschen in der Luft hängt, mir aber beim Abschluss des zweiten Textteils wieder in den Sinn kommt. Denn darin spielt die träumende Ich-Erzählerin ihre Todesarten, ihren Selbstverlust, Missbrauch und Inzest in immer neuen Szenen und Abhandlungen durch, in denen der eigene Vater zum Mörder wird. Das sind wort- und bildgewaltige Seiten, in denen weder der eigene Körper noch die Literatur oder die Landschaft der Erzählerin Schutz bieten. Eine Ansammlung von Traumata im Traum, abgespeichert und aufbewahrt. Doch sollte man vorsichtig sein, die Erzählerin hier lediglich als Opfer und Traumatisierte wahrzunehmen. Denn obwohl der Vater machtvoll und unberührbar erscheint, werden die Träume auch zu einem Ort, an dem ein momenthaftes Auflehnen gegen ihn möglich wird. Das Buch als Trauma-Archiv – vielleicht eine weitere Lesart des Texts. Genauso wie „Malina“ als Liebesroman eine Fährte ist, die die Erzählerin uns Leser:innen legt. Ein in der Literatur ausgetretener, da bekannter Pfad, auf den man sich gut und gerne begibt. Aber auch das Triangle of love-Narrativ ist nur eine Ebene des Texts, der allein Bachmanns Literatur nicht gerecht werden kann. „Sie hat ein Wahnsinns-Repertoire“, wie es in einer der Sitzungen heißt. Obwohl der Lesekreis in den kommenden Wochen enden wird – denn auch „Malina“ neigt sich dem Ende zu – kann die Lektüre dieses Werks wohl nie als abgeschlossen gelten. Ich stelle mir vor, dass je nach Alter oder Lebensphase sich uns als Leser:innen im Text immer wieder neue kleine oder große Türen öffnen werden. Nach dem Re-reading ist also vor dem Re-re-reading. Vielleicht kann, als ich dieses Buch zuschlage, nur eines ganz sicher sein: Dass das gemeinsame Sprechen über Literatur, das gemeinsame Ringen mit Sprache, und die Frage, wie sie unsere individuelle oder gesellschaftliche Wirklichkeit (nicht) abbildet, in Bachmanns Sinne ist.

Beitragsbild von Damir Kopezhanov

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