Kategorie: Kolumne

Social-Media-Benimmkolumne: Schade, du hast den Alt-Text vergessen

von Franziska Reuter

Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass Twitter die Alt-Text-Funktion für alle Nutzer:innen sichtbar gemacht hat. Schon wieder so ein Satz, den nur versteht, wer Social Media benutzt. Für die Glücklichen, deren Aufmerksamkeitsbedürfnis oder Job sie nicht auf soziale Medien gezwungen hat: Alt-Text bietet die Option, jedes geteilte Bild mit einer Beschreibung zu versehen, die sehgeschädigte oder blinde Menschen sich vorlesen lassen können. Manchmal ist das entscheidend zum Verständnis des Tweets. Sichtbar zu machen, welche Bilder mit Alt-Text versehen sind und welche nicht, hat auf Twitter eine ganz neue Dimension von Konfliktpotential freigeschaltet. Aber dazu später.

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Geldgeschichten: „Dieses Mal ist alles anders!“

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

„Alle funktionierenden Banken funktionieren einander ähnlich, aber jede zusammenbrechende Bank bricht auf ihre eigene Weise zusammen.“ Irgendwo in den Weiten von Twitter bin ich letzte Woche über diese Abwandlung des berühmten Tolstoi-Zitats gestolpert, die als Kommentar zur Pleite der Silicon Valley Bank (SVB) gepostet wurde. Es fängt das Credo ziemlich gut ein, dem insbesondere viele marktliberale Interessengruppen innerhalb der USA anhängen: Wenn die Märkte funktionieren, ist das der Normalzustand, aber wenn eine Bank zusammenbricht, dann muss etwas Außergewöhnliches, Unvorhergesehenes passiert sein. Der Staat muss unbedingt eingreifen, denn dieses Mal, ja, dieses Mal ist alles anders!

Ich habe mich in den vergangenen zwei Wochen allerdings eher gefühlt, als hätte ich ein Déjà-vu. Zu vieles erinnert derzeit an die Jahre 2007 und 2008, als nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers das internationale Finanzsystem vor dem Kollaps stand und die schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg nach sich zog. Alle Buzzwords sind zurück: Too big to fail, Moral Hazard, Bank Runs. Was wurde nach der globalen Finanzkrise nicht alles versprochen? Nie wieder sollten die Finanzmärkte die Regierungen Europas und Nordamerikas in eine Situation zwingen können, in der sie Milliarden und Abermilliarden für deren Rettung aufbringen müssen.

Auch wenn sich die Pleite der SVB (und in deren Sog die kritische Lage, in der sich die zweitgrößte Schweizer Bank Credit Suisse befindet), (noch) nicht mit dem Ausmaß der Situation vor 15 Jahren vergleichen lässt, wissen wir heute: Nichts hat sich geändert. Oder wie schon Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff in ihrem Buch „This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly“ 2009 gezeigt haben: Ganz gleich, was uns die Interessengruppen aus dem Silicon Valley oder von der Wall Street glauben machen wollen – auch dieses Mal ist nichts anders.

Eine kurze Chronologie der Ereignisse

Aber wie konnte es soweit kommen, dass die sechzehnt größte Bank der USA quasi über Nacht pleite gegangen ist und zahlreiche andere Finanzinstitute in den USA und Europa wenn nicht mit in, so doch zumindest mit an den Rand des finanziellen Abgrunds gezogen hat? Alles fing damit an, dass am 9. März der Versuch der SVB scheiterte, eine Kapitallücke von etwas über zwei Milliarden US-Dollar auszugleichen. Was folgte, war ein sogenannter Bank Run, wie er im Buche steht: Kund*innen holen ihr Geld von der Bank, um es in Sicherheit zu bringen. Da Banken aus Prinzip so aufgebaut sind, dass sie nicht alle Kund*innen gleichzeitig auszahlen können, würde ein Bank Run jedes Kreditinstitut in Schieflage bringen. Im Fall der SVB kommt erschwerend hinzu, dass sie keine klassische Bank für Privatkund*innen ist, sondern vor allem Einlagen von kleinen und mittleren Unternehmen und Start-ups aus dem Silicon Valley hält.

Als sich innerhalb dieses relativ kleinen und untereinander gut vernetzten Kundenstamms die Liquiditätsprobleme herumsprachen, brach Panik aus und der Bank Run begann. SVB-Kund*innen versuchten reihenweise, ihr Geld aus der Bank abzuziehen, was damit endete, dass die US-Aufsichtsbehörden die Bank schließen musste, damit sich die Panik innerhalb des Bankensystem nicht weiter ausbreitete. Für einige kleinere Banken wie Signature Bank oder First Republic, die sich ebenfalls auf den Tech- und Krypto-Bereich spezialisiert hatten, war es da schon zu spät. Und weil die Finanzmärkte in Krisenzeiten wie scheue Tiere sind, reicht eine unvorhergesehene Bewegung, um die ganze Branche aus dem Konzept zu bringen. Kurz nach den Ereignissen rund um SVB gerieten auch Banken und Finanzinstitute unter Druck, die gar nicht unmittelbar betroffen schienen – allen voran die Credit Suisse.

Ist das ein Bail-Out oder ist das kein Bail-Out?

Kurz nachdem die massiven Probleme bei der SVB bekannt wurden, kamen Fragen nach der notwendigen politischen Reaktion auf. Das Weiße Haus um Finanzministerin Janet Yellen war schnell dabei zu versichern, dass es kein Bail-Out der betroffenen Finanzinstitute mit Steuergeldern geben würde. Technisch gesehen haben sie sich daran gehalten. Anders als 2008 wurden keinen Aktionär*innen ihre Anteile an den Banken abgekauft. Zumindest in diesem Fall wurden Verluste nicht von der Öffentlichkeit getragen. Dennoch wurden die Regeln zugunsten der SVB und ihren Kund*innen so angepasst, dass sie für eigene Fehleinschätzungen keinerlei Konsequenzen tragen mussten.

In den USA sind Einlagen bei Banken bis zu einem Betrag von 250.000 US-Dollar versichert. Ein solches System kollektiver Einlagensicherungen existiert auch in Europa (in Deutschland ist die Grenze bei 100.000 Euro). Das bedeutet vereinfacht, dass die Kund*innen dieser Bank, sollte sie pleitegehen, ihr Vermögen bis zu diesem Wert behalten. Alles darüber ist verloren. Finanziert wird diese Einlagensicherung durch einen Fonds, der von den Banken selbst getragen wird. Diese 250.000-US-Dollar-Grenze mag für Privatpersonen nach einer mehr als ausreichenden Schwelle klingen, für die Kund*innen der SVB, die zu einem überwältigenden Teil Unternehmen aus dem Silicon Valley sind, ist sie es allerdings nicht.

Was die US-Regierung also getan hat, um zu verhindern, dass sich die Panik auf den Finanzmärkten weiter ausbreitet, ist das Aufheben dieser Grenze für die SVB, um so die Sicherheit aller Einlagen zu garantieren. Ob es sich dabei um einen Bail-Out handelt oder nicht, ist am Ende eine Definitionsfrage. Es stimmt, dass (bisher) kein Steuergeld direkt geflossen ist, um die angeschlagenen Finanzmarktakteure zu retten. Allerdings werden Einlagensicherungsfonds zu einem großen Teil auch über Gebühren finanziert, die von Banken direkt an die eigenen Kund*innen weitergegeben werden. So tragen indirekt auch Menschen zur Rettung der SVB-Einlagen bei, die in ihrem gesamten Leben keine 250.000 US-Dollar auf dem eigenen Konto haben werden. Und begreift man die Definition etwas allgemeiner, indem man sagt, ein Bail-Out bedeutet nichts anderes, als dass die Regierung eingreifen muss, um die privaten Verluste von Banken und Unternehmen zu begrenzen, dann handelt es sich hier genau darum.

Ob Bail-Out oder nicht, ist aber gar nicht so entscheidend. Denn die Folgen der Maßnahmen der US-Regierung können langfristig gravierender sein, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Wieder einmal wurden bestehende Regeln gebrochen oder einfach aufgehoben, um selbstverschuldet in Schieflage geratene Akteure der Finanzmärkte zu retten. Die ursprüngliche 250.000-US-Dollar-Grenze der Einlagensicherung besteht nicht ohne Grund. Sie soll kleine Privatkund*innen schützen, die nicht selbst in der Lage sind zu überprüfen, ob ihre Bank stabil ist und verantwortungsvoll handelt. Anders sollte das bei den Unternehmen des Silicon Valleys aussehen. Es ist sicherlich nicht zu viel erwartet, dass die Verantwortlichen solcher Start-ups in der Lage sind einzuschätzen, bei welcher Bank ihr Geld gut aufgehoben ist – und das bevor es zu spät ist. Die Handlungen der US-Entscheidungsträger*innen haben nun aber eine katastrophale Signalwirkung: Wenn nur lange genug genug Unternehmen mit ausreichend Kapital schlechte Entscheidungen treffen, werden diese auf die eine oder andere Weise gerettet.

In der ökonomischen Theorie gibt es für dieses Prinzip einen Namen: Moral Hazard, was sich am ehesten mit Moralischem Risiko übersetzen lässt. Die Idee dahinter ist simpel. Wenn ich mich gegen ein bestimmtes Risiko abgesichert habe, habe ich einen Anreiz, weniger auf dieses Risiko zu achten. Das klassische Beispiel ist eine Brandschutzversicherung. Wer sich gegen Brandschäden versichert hat, ist tendenziell eher bereit, Kerzen in seiner Wohnung anzuzünden, weil man im Fall der Fälle vor den finanziellen Folgen eines Brandes geschützt ist. Genau das passiert gerade in den USA. Wenn ich als Unternehmen oder Investor*in merke, dass meine gesamten Einlagen bei meiner Bank, sollte es hart auf hart kommen, von der Politik gerettet werden – welchen Anreiz sollte ich dann noch haben, Ressourcen einzusetzen, um zu überprüfen, ob meine Bank verantwortungsvoll auf den Finanzmärkten agiert?

Und dabei hören die Probleme nicht auf. Die Ereignisse rund um die SVB zeigen einmal mehr, dass es sich für Banken lohnt, schnellstmöglich so groß zu werden, dass sie als Too big to fail gelten. Es lässt sich aktuell schon beobachten, dass viele größere Anleger*innen ihre Portfolios in den USA von kleineren Regionalbanken zu Großbanken hin umschichten, in der Gewissheit, bei einer etwaigen Finanzkrise würden diese Banken schon gerettet. Auf die Frage, wie die US-Zentralbank FED oder die Regierung diese Entwicklung stoppen will, hat Yellen in ihrer Anhörung im Senat vergangene Woche keine Antwort geben können. Anstatt dass die Finanzmärkte robuster werden, beobachten wir gerade, wie sich neue, systemische Risiken akkumulieren.

Wer hat Schuld an dem Desaster?

Wer trägt nun aber die Verantwortung für diese Entwicklung? Zum einen selbstverständlich die Führungsriege der SVB. In Zeiten der niedrigen Zinsen hat sie massiv in langfristige US-Staatsanleihen investiert. Mit der Zinswende der FED hat sich die ökonomische Situation grundlegend verändert. Es ist eine der wenigen verlässlichen Regeln der Finanzmärkte: Steigen die Leitzinsen, sinken die Preise für Wertpapiere, wozu auch Staatsanleihen oder Aktien gehören, relativ gesehen. Solange man nicht gezwungen ist, diese Wertpapiere zu verkaufen, ist das auch kein Problem, denn die Verluste werden erst in dem Moment realisiert, in dem die Anleihen zu diesem geringeren Preis tatsächlich verkauft werden müssen. Aufgrund der gestiegenen Nachfrage der Kund*innen nach ihren Einlagen bei der SVB trat genau dieser Fall ein und hat die ohnehin prekäre Lage der Bank dramatisch verschärft.

Das hat dazu geführt, dass die FED und ihre Zinspolitik von vielen Seiten als Hauptschuldige ausgemacht wurden. Getreu dem Motto: Was kann die arme Bank dafür, dass sich der Wert ihres Portfolios wegen der bösen Politik der Zentralbank verschlechtert? Diese Argumentation ist, um den fachlich korrekten Ausdruck zu benutzen, absolut Banane! Über ein Jahrzehnt dauerte die Nullzinspolitik der Zentralbanken an, und genauso lange gab es Diskussionen darüber, wann die Zinswende kommen würde. Dass eine der größten Banken der USA keinen Plan hat, um auf diese lang erwarteten Zinserhöhungen zu reagieren und die eigene Stabilität zu sichern, sagt nichts über die Politik der FED aus, aber alles über die Kompetenz innerhalb der Silicon Valley Bank.

Was in dem aktuellen Fall außerdem gerne vergessen wird; damit Zinserhöhungen die Inflation überhaupt bremsen können, müssen sie negative ökonomische Ereignisse nach sich ziehen (wie sinnvoll das in dem aktuellen Umfeld ist, sei an dieser Stelle mal dahingestellt, darüber habe ich beim letzten Mal geschrieben). Nur ist das anscheinend kein Ding, solange es die Arbeitslosigkeit der normalen Bevölkerung betrifft, aber ein Riesending, wenn die Start-ups des Silicon Valleys in Gefahr sind.

In den letzten Tagen kam, vor allem von Seiten der politischen Rechte in den USA um Ron DeSantis, zusätzlich der Vorwurf auf, die SVB sei „zu woke“ gewesen. Es ist richtig, dass die SVB, wie viele andere Finanzinstitute des Silicon Valleys, viel Wert auf ihre Diversity-, Equity- und Inclusion-Policies gelegt hat. Um daraus allerdings den Grund für den Crash abzuleiten, bedarf es einer speziellen intellektuellen Verrenkung. Insbesondere wenn man bedenkt, dass es die Republikanische Partei war, die 2018 den Bankensektor in den USA teilweise extrem dereguliert hat. Viele der Verschärfungen, die nach der Finanzkrise eingeführt wurden und die an sich schon unzureichend waren, wurden von der Trump-Regierung zurückgenommen. Die SVB selbst hat in den letzten fünf Jahren circa eine Million US-Dollar an Lobbygeldern ausgegeben, um sich gegen härtere Regulierungsvorschriften einzusetzen.

Bescheidene Boni und eine neue Superbank

Die Frage, die sich zuletzt stellt: Hatte die US-Regierung eine Alternative? Die Antwort darauf ist ganz klar – natürlich gab es Handlungsalternativen. Nur hätten diese wahrscheinlich unmittelbar dramatischere Folgen gehabt, die am Ende von dem Großteil der Bevölkerung ausgebadet worden wären, die keinen millionen- oder milliardenschweren Einlagen bei Großbanken haben. In der Logik des finanzkapitalistischen Systems, in dem wir uns bewegen, gilt aber immer noch, dass nur die reichsten Akteure der Märkte keinerlei Konsequenzen ihrer Fehlentscheidungen fürchten müssen. Mein Lieblingsdetail an den Geschehnissen rund um die SVB ist Folgendes, das meinen letzten Satz auf fast schon aberwitzige Weise illustriert: Nachdem die SVB ihre Insolvenz bekannt gegeben hat, haben Mitarbeitende des britischen Ablegers noch Bonuszahlungen erhalten. Insgesamt wurden zwischen 15 und 20 Millionen Pfund ausgeschüttet – aber keine Sorge, diese Boni wurden von den Banker*innen selbstverständlich als „bescheiden“ empfunden.

Um solche Entwicklungen in der Zukunft zu verhindern, müssten politische Akteure weltweit jetzt handeln. Insbesondere muss dafür gesorgt werden, dass Too big to fail kein Heilsversprechen mehr für Banken ist, sondern eine Drohung. Sollte es Finanzinstitute geben, die so groß und wichtig sind, dass sie nicht mehr nach marktwirtschaftlichen Regeln spielen, sie also nicht mehr bankrottgehen können, dann dürfen diese auch nicht mehr privatwirtschaftlich organisiert sein. Entweder müssten solche Unternehmen also zerschlagen werden, oder, wenn sie unabdingbar für das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems sind, unter direkte staatliche Kontrolle gestellt werden. Das könnte in Zukunft die Finanzsysteme nachhaltig stabilisieren. Wie realistische diese Option ist, mag jede*r selbst beurteilen.

Während ich diese Zeilen schreibe, wurde die zweitgrößte Schweizer Bank Credit Suisse durch eine Fusion mit ihrem größeren Pendant, der UBS, vor dem Kollaps gerettet. So wird mit Unterstützung staatlicher Garantien durch die Schweizer Regierung, also de facto mit Steuergeldern, eine neue Superbank geschaffen, die selbstverständlich Too big to fail ist. Darüber könnte ich an dieser Stelle einen eigenen Text schreiben. Der würde sich aber natürlich vollkommen von diesem hier unterscheiden. Ach, hatte ich erwähnt, dass nach Auffassung der Credit-Suisse-Führung geplante Bonuszahlungen und Gehaltserhöhungen von der Pleite und der staatlich finanzierten Zwangsfusion nicht betroffen sind und selbstverständlich wie geplant ausgezahlt werden? Immerhin scheinen die Verantwortlichen der Credit Suisse endlich ihre Lektion gelernt zu haben und suchen die Gründe für das Versagen der Bank bei sich. Auf die Frage, wer denn Schuld sei an der aktuellen Situation, antwortet Verwaltungschef Axel Lehmann Folgendes: “Last autumn we had a social media storm and this had huge repercussions […] And too much becomes too much.” 

Wie wir also sehen können: Dieses Mal ist wirklich alles anders! Ganz bestimmt!

In der Wirtschaftskolumne „Geldgeschichten“ ordnet der Ökonom Daniel Stähr jeden Monat aktuelle Phänomene aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzpolitik und Ökonomie ein

Social-Media-Benimmkolumne: Woran merke ich, wenn ich aufdringlich werde?

von Franziska Reuter

Seit es diese Kolumne gibt, wurde diese Frage mehrfach als Themenvorschlag genannt (herzlichen Dank dafür). Das lässt mich vermuten, dass viele Leute sich Sorgen machen, etwas zu intense zu wirken, während sie das tun, wofür die meisten auf Social Media sind: mit den Gedanken anderer zu interagieren und die eigenen zu teilen. Ich vermute außerdem, dass die Leute, die sich diese Sorgen machen, eher nicht jene sind, die anderen regelmäßig auf den Geist gehen. Aber wer weiß? Also der Reihe nach.

Es gibt fünf nennenswerte Dimensionen, wie jemand auf Social Media drüber sein kann. Nummer eins: Die Person postet alle fünf Minuten etwas und scheint auch nie zu schlafen. Auch wenn das kein weiches Licht auf ihr Aufmerksamkeitsbedürfnis wirft, halte ich das für komplett harmlos. Niemand muss folgen, alle können stumm schalten – immer raus damit, liebe Mitbewohner:innen des Internets! Wundert euch nur nicht, wenn die Interaktionsraten mit euren Posts irgendwann sinken. Das heißt dann, dass ihr wirklich von vielen eurer Follower:innen stumm geschaltet wurdet.

Nummer zwei: zu viel Offenheit. Sicher haben dazu alle sofort eine eigene Assoziation. In dieser Kolumne habe ich vor Oversharing in Twitter Circles gewarnt. Diese Warnung gilt natürlich noch viel mehr außerhalb. Details eurer Beziehungsprobleme, der Durchfall eures Hundes und die Intensität eurer Hassgefühle gegenüber euren Vorgesetzten sollten nicht zu viel Raum einnehmen. Schon mal einen langen Abend mit jemandem verbracht, der von einem eher unangenehmen Thema nicht abzubringen war? Und wie fandet ihr das? Eben.

Aber das sind noch die minder schweren Vergehen gegen den Anstand. Wer gegen beide verstößt, wird wahrscheinlich als etwas drüber bis obsessiv wahrgenommen. Die nächsten drei Dimensionen stoßen in Bereiche vor, in denen Aufdringlichkeit extrem unangenehm wirkt oder sogar zu Stalking werden kann.

Nummer drei: durchfaven, also auf jemandes Profil gehen und dann einfach alles liken, was die Person in letzter Zeit so gepostet hat. Auf Instagram kann das so etwas wie die Vorstufe zum Flirt sein, gerade wenn es um Selfies geht. Man sollte dabei aber nicht weiter zurückgehen als ein paar Wochen – 200 innerhalb einer Stunde gelikte Selfies wirken creepy. Auf Twitter wiederum kann es alles heißen von „Du bist so super schlau/witzig und ich will nichts davon verpassen!“ bis „Du sollst wissen, dass ich alles mitbekomme, was du hier tust.“ Und es gibt nur ein einziges Kriterium dafür: Das Verhältnis der beteiligten Personen. Kennt die Person dich gut genug, dass sie dich eindeutig nicht als Massenmörder oder Nervensäge abgespeichert hat? Dann los, fav sie durch. Wir loben eh immer alle zu wenig. Kennt ihr euch kaum und du versuchst mit dem Durchfaven ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen? Favst du etwa auch noch ihre Replys an andere Leute durch? Um Himmels Willen. Sofort aufhören.

Indem wir jemanden durchfaven, der unsere Intentionen dahinter nicht kennt, bringen wir ihn zumindest in Verlegenheit. Auch positives Feedback kann aufdringlich sein. Die meisten Frauen wissen das, weil Frauen immer noch zu oft schmierige Komplimente bekommen, die im Grunde ein verbaler Übergriff sind, für den die Frau sich auch noch bedanken soll. (Es sollte nicht nötig sein, aber als kleiner Exkurs: „Ah, das Kleid zeigt Ihre schönen Beine!“, ausgesprochen von jemandem, der der Angesprochenen nicht so nahe steht wie eine beste Freundin oder ein Familienmitglied, ist kein Kompliment.)

Nummer vier: ungefragte Kritik an Postings anderer Leute. Niemand mag Kritik besonders, keine Frage. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Menschen, die mit Begeisterung kritische Anmerkungen machen, auf Social Media häufig geblockt werden. Damit meine ich nicht, dass man alle sachlichen Irrtümer unkommentiert lassen muss. Aber im Idealfall umgibt man sich doch auf den sozialen Medien wie im echten Leben mit Menschen, die man nicht für Dummköpfe hält. Wenn du also das Gefühl hast, etliche Postings in deiner Timeline erfordern dein kritisches Eingreifen, hast du entweder die falsche Timeline oder bist sowieso immer der Überzeugung, die klügste Person im Raum zu sein. Im ersten Fall: Ändere deine Timeline. Im zweiten Fall: Wenn du wirklich die klügste Person im Raum wärst, wüsstest du auch, dass andere von deiner Selbstgerechtigkeit genervt sind.

Dabei ist es sogar minder schlimm, wenn jemand seine Besserwisserei großflächig über die Timeline verteilt. Richtig unangenehm wird es, wenn es immer dieselben ein bis fünf Personen sind, die es trifft. Wenn Durchfaven schon als aufdringlich wahrgenommen werden kann, wie sollte gezielte ständige Kritik als akzeptables Verhalten durchgehen? Es ist nicht akzeptabel. Es ist aufdringlich, und es wirkt creepy, weil man sich automatisch fragt, ob die Person irgendetwas bezweckt. Bei Pick-up-Artists und ihrer glücklicherweise aus der Mode gekommenen Ansammlung von Manipulationstechniken, um Frauen ins Bett zu bekommen, ist das eine etablierte Methode: Der Mann ruiniert das Selbstbewusstsein der Frau durch Kritik an ihrem Körper so weit, dass sie irgendwann erleichtert ist, dass er trotz ihrer Unzulänglichkeiten mit ihr ins Bett will. Es gilt im echten Leben wie auf Social Media: Gerade Menschen mit schwachem Selbstbewusstsein üben sich gerne darin, das der anderen zu untergraben.

Kommen wir zur fünften und letzten Dimension: wiederholte Versuche, über private Nachrichten Kontakt aufzunehmen. Landläufig: jemandem in die DMs sliden. Wobei das Sliden an sich nicht das Problem ist, sondern die Wiederholung. Dass man persönliche Kontakte knüpfen kann, gehört zu den Vorzügen sozialer Medien! Aber dieser persönliche Kontakt lässt sich eben nicht einseitig beschließen. Antwortet jemand gar nicht oder nur einsilbig auf deine Nachrichten? Nimm das als Absage. Die Wahrscheinlichkeit, dass deine Nachrichten übersehen werden oder die Person zu schüchtern zum Antworten ist, geht gegen null. Den Mangel an Interesse zu ignorieren und sie weiter mit Nachrichten zu bombardieren, in der Hoffnung, sie zu überzeugen: Das nennt man am Anfang Penetranz und ab einem gewissen Punkt Stalking.

Es hat natürlich seine Gründe, dass Social Media übergriffiges Verhalten verstärkt. Die parasozialen Beziehungen, die Menschen früher nur mit Berühmtheiten verbanden, gibt es nun auch mit ganz normalen Leuten im Internet. Wenn wir Günther Jauch auf der Straße ansprechen, verkennen wir, dass er uns zwar total vertraut vorkommt – aber wir ihm nicht. Unsere Beziehung ist asymmetrisch. Und genau so kann durch Social Media unsere Beziehung mit Claudia aus Stuttgart asymmetrisch sein, obwohl sie ein Normalo ist wie wir selbst. Dass wir schon vierzig Videos von ihren Katzen angeschaut haben, genau wissen, welches Buch sie gerade liest und wie sie ihren Kaffee trinkt, ändert nichts daran, was wir für sie sind: Fremde. Und dass sie diese Informationen über ihr Leben online preisgibt, berechtigt uns nicht dazu, uns mehr herauszunehmen, als wir das gegenüber Fremden täten.

Foto von Justin Veenema auf Unsplash

Geldgeschichten: Wer hat Schuld am hohen Preis?

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Preise in Deutschland nie so stark erhöht wie im vergangenen Jahr, und ein schnelles Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Wer trägt die Verantwortung dafür, dass gerade alles so viel kostet? Ist es die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer über ein Jahrzehnt andauernden lockeren Geldpolitik der niedrigen Zinsen und milliardenschweren Anleihekäufen? Ist es der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der die Energiepreise in die Höhe getrieben hat? Sind Unternehmen schuld, die die Gunst der Stunde nutzen, um ihre Preise über die Maßen zu erhöhen? Oder sind es am Ende die Angestellten, die durch ihre Lohnforderungen dafür sorgen, dass Preise weiter erhöht werden müssen? 2022 war das Jahr, in dem die Inflation als wirtschaftspolitisches Problem ihr unliebsames Comeback gefeiert hat, und da stellt sich die Frage: Wer hat Schuld daran – und was können wir dagegen tun?

Wenn wir über Inflation, ihre Ursachen, Gefahren und Möglichkeiten zur Bekämpfung sprechen, gibt es, so viel kann ich bereits hier vorwegnehmen, keine einfachen Antworten. Alle, die das Gegenteil behaupten, tun das mit einer politischen Agenda. Ich will diese Kolumne also nutzen, um die Komplexität des Themas ein wenig darzulegen.

Das Wesen der Inflation

Der Begriff beschreibt technisch nichts anderes als einen Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus. Es geht also nicht darum, dass einzelne Preise erhöht werden, sondern dass diese Preiserhöhungen in allen Bereichen eines Wirtschaftsraumes vorkommen. Nicht eine bestimmte Sache wird teurer, sondern alle. Dabei setzen sich Preise im Prinzip aus drei einfachen Komponenten zusammen: den Kapitalkosten, den Lohnkosten und dem Gewinnaufschlag der Unternehmen (sogenannte Mark-Ups). Ein Unternehmen muss für ein Gut mindestens den Preis verlangen, der den Kosten, also der Summe aus den Kapitalkosten für Materialien, Mieten, Energie usw., plus den Lohnkosten entspricht. Hinzu kommt der Aufschlag der Unternehmen, der über die reinen Kosten hinausgeht und als Gewinn verbucht wird. Diese drei Komponenten lassen sich von zwei Seiten beeinflussen: von der Angebots- und von der Nachfrageseite. Es stellt sich also die Frage, durch die Aktion welches Akteurs auf dem Markt die Preiserhöhungen ausgelöst werden. Sind es wir Konsument*innen, die durch gestiegene Nachfrage dafür Verantwortung tragen, dass die Unternehmen ihre Güter und Dienstleistungen zu höheren Preisen anbieten können (die sogenannte Nachfragesoginflation)? Oder sind es die Anbieter*innen, also die Unternehmer*innen, die ihre Preise aufgrund von gestiegenen Kosten erhöhen müssen, um rentabel zu bleiben (die sogenannte Kostendruckinflation)?

Der große Schock

Für die Eurozone lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass der Haupttreiber für die Preiserhöhungen des vergangenen Jahres die gestiegenen Energiekosten waren. Wenn die Preise für Energie erhöht werden, ist das für eine Volkswirtschaft besonders unangenehm, da sich diese Entwicklung auf quasi alle anderen Wirtschaftszweige durchschlägt. Eine Bäckerei ist auf Strom angewiesen, um Brot zu backen, für Event-Veranstalter stellen Energiepreise einen hohen Kostenanteil dar und selbst Paketlieferdienste müssen auf einmal die höheren Spritkosten kompensieren. Wir haben im Jahr 2022 also das erlebt, was Ökonom*innen als einen exogenen Schock bezeichnen. Eine drastische Veränderung der ökonomischen Umgebungen ohne direktes Zutun der Betroffenen – im vergangenen Jahr in Form des Energiepreisschocks. Es ist ein Bilderbuchbeispiel für eine angebotsgetriebene Inflation. Anders als viele Kritiker*innen behaupten, ist also nicht die EZB Schuld an der gegenwärtigen Lage. Es gibt für Europa schlicht und ergreifend keine empirischen Hinweise darauf, dass die lockere Geldpolitik der EZB in den 2010er Jahren und die damit größere Menge an Geld im Wirtschaftskreislauf Hauptursache für die derzeitige Inflation ist. Neue Untersuchungen der Bundesbank legen den Schluss nahe, dass die erhöhte Geldmenge zwar einen geringen Einfluss hatte, aber keineswegs den Großteil der Entwicklung erklären kann. 

Die reale Welt

Ein Buzzword, das in den vergangenen Wochen und Monaten vermehrt die Runde gemacht hat, ist die Lohn-Preis-Spirale. Vor allem bei Anhänger*innen der neoliberalen Schule ist die Warnung vor diesem Effekt auffallend beliebt. Dabei gibt es zwei Kanäle, über den hier Einfluss auf die Preise genommen werden kann. Der erste wurde weiter oben schon erläutert – höhere Löhne sind für die Unternehmen höhere Kosten. Es existiert aber auch noch eine zweite Theorie, wie die Lohn-Preis-Spirale funktioniert.* Die Idee dahinter ist recht einleuchtend und wirkt auf den ersten Blick auch plausibel. Wenn die Preise erhöht werden, müssen die Angestellten diese Preiserhöhung irgendwie kompensieren. Sie werden also in zukünftigen Lohnverhandlungen höhere Löhne fordern. Diese höheren Löhne führen dazu – so zumindest der Theorie nach – dass die Haushalte (also wir) vermehrt Produkte konsumieren und durch diese gestiegene Nachfrage Unternehmen in der Lage sind, ihre Preise weiter zu erhöhen. Woraufhin in den nächsten Lohnverhandlungen höhere Löhne gefordert werden und so weiter; ein Teufelskreis – oder eben eine Spirale. Der Punkt ist klar. Was bei dieser Art der Argumentation häufig vergessen oder je nach Intention willentlich weggelassen wird, ist, dass es einen eklatanten Unterschied zwischen zwei Betrachtungsweisen von Löhnen gibt: Real- und Nominallöhne. 

Nominallöhne, das sind die Löhne, die wir tatsächlich ausgezahlt bekommen. Wenn mein*e Arbeitgeber*in mir eine fünf-prozentige Lohnerhöhung gewährt, ist mein Nominallohn um fünf Prozent gestiegen. Der Reallohn hingegen betrachtet nicht einfach nur die reinen Zahlen, sondern schaut auf die Kaufkraftentwicklung meines Lohns. Hier geht es also darum, wie viel ich mir für meinen Lohn tatsächlich kaufen kann: Fünf Prozent mehr Lohn bedeuten nicht zwingend fünf Prozent mehr Kaufkraft. Der Reallohn also betrachtet den realen Wert, den die Lohnerhöhung hat, und setzt diese mit der Veränderung des Preisniveaus in Zusammenhang, sprich der Inflation. Wenn wir eine Inflationsrate von 10 Prozent haben, im Durchschnitt also alle Preise um 10 Prozent erhöht wurden, dann ist meine Nominallohnerhöhung um 5 Prozent am Ende eigentlich eine Reallohnsenkung um 5 Prozent.

Aber machen wir es mal konkret: Im dritten Quartal 2022 gab es in Deutschland eine Inflationsrate von ca. 8 Prozent und eine Nominallohnwachstumsrate von ca. 2 Prozent, was bedeutet, dass die Reallohnlöhne (und damit die Kaufkraft der Angestellten) um ca. 6 Prozent gesunken ist. Selbst wenn die Nominallöhne um 8 Prozent gewachsen wären, würde das nur dazu führen, dass sich die Menschen genauso viel von ihrem Lohn leisten können wie vor der Inflation. Die Lohn-Preis-Spirale ist aktuell also nichts weiter als ein neoliberales Schreckgespenst.

Von Rekordgewinnen und Rekordinflation

Ein anderer Zusammenhang fällt da schon eher ins Auge. 2022 ist nicht nur das Jahr, in dem Deutschland die höchste Inflationsrate seit Gründung der BRD aufweist, im dritten Quartal des vergangenen Jahres haben auch die im DAX notierten Unternehmen Rekordgewinne eingefahren. Auf den ersten Blick scheint eine einfache Schlussfolgerung also naheliegend – es sind die Unternehmen, die für die Preiserhöhungen verantwortlich sind, die das aktuelle ökonomische Klima ausnutzen, um ihre Gewinne zu maximieren. Wie so oft in ökonomischen Fragestellungen ist es leider nicht so einfach.

Für die USA gab es zu Beginn der aktuellen Inflationsphase tatsächlich empirische Hinweise darauf, dass bis zu 50 Prozent der gestiegenen Preise auf die erhöhten Gewinnanteile der Unternehmen zurückzuführen sind. Die Lage in den USA unterscheidet sich aber ganz elementar von der in Europa, weil die Vereinigten Staaten zum einen keinen so großen Energiepreisschock ausgesetzt waren, da sie weniger von russischen Energieexporten abhängig sind. Zum anderen gab es große Konjunkturpakete der Biden-Regierung, die tatsächlich die Kaufkraft der Menschen kurzfristig und unmittelbar erhöht haben und so den Unternehmen Spielräume gaben, ihre Preise über die gestiegenen Kosten hinaus zu erhöhen.

Für Europa lässt sich das nicht so einfach festhalten. Wie wir schon gesehen haben, sind es hier vor allem die Energiepreise, die im vergangenen Jahr die Inflation getrieben haben. Die Frage, ob Unternehmen die Inflation verursachen, lässt sich auch aus einem anderen Grund nicht so einfach beantworten. Es ist unglaublich schwer einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Sind die steigenden Profite der Unternehmen dafür verantwortlich, dass die Preise erhöht wurden, oder führt die Inflation dazu, dass auch die Gewinne der Unternehmen absolut wachsen, da sie eine feste prozentuale Gewinnmarge auf ihre Preise aufschlagen? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Fakt ist aber, und dabei spielt die Wirkungsrichtung keine Rolle, es sind vor allem die großen Unternehmen, die von der Inflation in Form höherer Gewinne profitieren.

Ein sich selbst anfachendes Feuer

Damit kommen wir zu der Frage, die mindestens genauso heiß diskutiert wird wie die nach der Ursache für die Inflation: Was können wir tun, um sie zu bekämpfen. Hohe Inflationsraten sind in erster Linie eine Belastung für Menschen mit geringem Einkommen. Das liegt daran, dass ärmere Menschen dazu gezwungen sind, ihr gesamtes Einkommen direkt auszugeben. Während in Deutschland die ärmste Hälfte der Menschen kaum Ersparnisse bilden kann, können die reichsten zehn Prozent ein Drittel ihres Jahreseinkommens sparen. Reiche Menschen können also auf die erhöhten Preise reagieren, indem sie etwas weniger sparen. Für Millionen Menschen in Deutschland ist das aber keine Option. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt und belaufen sich entweder darauf, sich zu verschulden, oder den ohnehin geringen Konsum weiter zurückzuschrauben. In zahlreichen Fällen bedeutet das, dass bereits vorhandene Existenzsorgen noch größer werden.

Aber auch neben diesem sozialen Verteilungsaspekt sind hohe Inflationsraten gefährlich, denn sie wirken wie ein Feuer, das sich selbst anfacht. Wenn Wirtschaftsakteure erwarten, dass die Inflation weiter anhält, sie also davon ausgehen, dass ihr Geld weiter an Wert verliert, weil sie sich morgen weniger davon leisten können als heute, haben sie einen Anreiz, es auszugeben. Das kann dazu führen, dass wir tatsächlich eine steigende Nachfrage erleben, weil Menschen ihren Konsum in die Gegenwart verlagern. Dadurch können die Preise potentiell weiter erhöht werden und die Inflation sich selbst anfeuern.

Das Dilemma der EZB

Es gibt in der Eurozone eine Institution, deren Aufgabe es ist, die Inflation zu kontrollieren: Die Europäische Zentralbank. Nach über zehn Jahren, in denen die Zentralbanker*innen versucht haben, die Inflationsrate auf die Zielrate von 2 Prozent anzuheben, müssen sie nun eine in der Geldpolitik einmalige Kehrtwende vollbringen und versuchen, die Preissteigerungen einzufangen. Dass das in der gegenwärtigen Situation eine (fast) unmögliche Aufgabe ist, wird klar, wenn wir uns anschauen, wie die Inflationssteuerung der Zentralbank im Normalfall funktioniert.

Das Hauptinstrument der EZB ist der Leitzins, mit dem sie die Entwicklung des Preisniveaus indirekt steuern kann. Der grundlegende Ablauf sieht dabei wie folgt aus: Die EZB kontrolliert den Zins, zu dem sich die Geschäftsbanken finanzieren, also jene Banken, bei denen die Haushalte und Unternehmen sich Geld leihen. Erhöht die Zentralbank den Leitzins, dann werden die Geschäftsbanken reagieren, indem sie wiederum den Zins erhöhen, zu dem sie selbst Kredite vergeben. Das führt dazu, dass die Finanzierungskosten für Unternehmen und Haushalte steigen. So müssen beispielsweise Menschen, deren Hauskredite an den Leitzins gekoppelt sind, höhere monatliche Raten zahlen und haben weniger Geld zum Konsumieren zur Verfügung. Auf Unternehmensseite steigen die Finanzierungskosten und es werden Investitionen teurer und damit weniger lukrativ. Plakativ gesagt führt eine restriktive Geldpolitik, so der Fachbegriff für eine Politik, die Leitzinsen erhöht, zu einer Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Situation, was wiederum dazu führt, dass die Konsum- und Investitionsnachfrage zurückgeht und die Preise gesenkt werden müssen. Oder etwas provokanter ausgedrückt: Preisstabilität wird mit einem gesamtwirtschaftlichen Abschwung erkauft.

Das Zauberwort dieses Zinskanals der Geldpolitik ist „Nachfrage“. Wie oben festgestellt, ist die derzeitige Inflation der Eurozone aber vom Angebot getrieben, insbesondere durch die Energiepreise. Diese kann die EZB aber gar nicht beeinflussen. Ihr schärfstes Schwert, die Erhöhung der Leitzinsen, gleicht derzeit also eher einem Buttermesser. Theoretisch ist es denkbar, dass die EZB die Zinsen soweit erhöht, bis die wirtschaftliche Situation in der Eurozone so schlecht wird, dass die einbrechende Nachfrage tatsächlich den erwünschten Effekt auf die Preise hat. Dieses Szenario würde allerdings mit Abermillionen zusätzlichen Arbeitslosen und zahlreichen Unternehmensinsolvenzen einhergehen.

Daran lässt sich die spannende Frage anschließen, wieso die EZB an ihren Zinserhöhungen festhält, obwohl sie nur wenig Wirkung zeigen. Dazu gibt es zahlreiche Theorien, die von Reputationsfragen und der politischen Legitimation der Zentralbank, deren oberstes Ziel die Preisniveaustabilität ist, über Erwartungssteuerung der künftigen Inflationsraten bis hin zur Stabilisierung des Euros im Vergleich mit anderen Währungen reicht. Fakt bleibt aber: Sollte die EZB nicht gewillt sein, eine extreme Rezession in Kauf zu nehmen, wird sie die Inflation, wie sie sich 2022 und wohl auch noch 2023 präsentiert, nur bedingt eindämmen können.

Lasst die Gewinner*innen zahlen!

Was können wir also tun? Die Antwort auf diese Frage scheint so trivial wie einleuchtend. Der Staat muss eingreifen, um die schlimmsten Folgen abzufangen, bis die gegenwärtige Inflationsphase hinter uns liegt. Auch wenn Finanzminister Christian Lindner gerne von seinen Sparzwängen erzählt, ist es ein Fakt, dass sein Ministerium zu den größten Inflationsgewinnern gehört. Steuern werden in Deutschland prozentual erhoben. Das heißt, wenn die Preise erhöht werden, dann steigt auch der absolute Betrag, den der Staat davon als Steuern erhält. Allein zwischen 2023 und 2026 werden ca. 125 Milliarden Euro an Steuermehreinnahmen erwartet – auch verursacht durch die hohe Inflation. Dieses Geld muss eingesetzt werden, um insbesondere Menschen mit geringem Einkommen zu unterstützen, vor allem so lange die Nominallohnsteigerungen deutlich unter den Inflationsraten liegen. Entsprechend ist es ein politisches Totalversagen, dass Studierende noch immer auf ihre 200 Euro Energiepauschale warten, und Empfänger*innen von Sozialleistung keinen unmittelbaren Inflationsausgleich erhalten.

Das Problem an der gegenwärtigen Situation, so schwierig und komplex sie ist, ist nicht, dass es in einem Land wie Deutschland nicht genug gäbe, damit alle Menschen möglichst unbeschadet durch die Krise kommen. Wie so oft lässt die Politik nur zu, dass einige Wenige sich auf Kosten der Mehrheit bereichern. Während die Gesamtvermögen der privaten Haushalte insgesamt im Jahr 2022 gesunken sind, konnten die reichsten 10 Prozent ihren Anteil daran auf atemberaubende 67,3 Prozent steigern. Die ärmste Hälfte der Bevölkerung zum Vergleich besitzt nur 1,3 Prozent am deutschen Gesamtvermögen. Würden wir die Vermögen der Superreichen und die Rekordgewinne der Unternehmen stärker belasten, beispielsweise durch Vermögensabgaben oder branchenübergreifende Übergewinnsteuern, ließen sich die negativen Folgen der Inflation spielend leicht ausgleichen. Es fehlt nicht an Handlungsoptionen, sondern lediglich am politischen Willen, das Notwendige zu tun. 

* in einer ersten Fassung war die Darstellung der Lohn-Preis-Spirale etwas verkürzt. Sie wurde entsprechend ausgearbeitet.

In der Wirtschaftskolumne „Geldgeschichten“ ordnet der Ökonom Daniel Stähr jeden Monat aktuelle Phänomene aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzpolitik und Ökonomie ein


Social-Media-Benimmkolumne: Müssen Freund:innen die größten Fans sein?

von Franziska Reuter

Natürlich sind deine Freund:innen blitzgescheit und unterhaltsam, keine Frage. Oder zumindest dachtest du das, bis sie diesen Newsletter über peruanische Nackthunde gelauncht haben, den du aus Solidarität abonniert hast. Jetzt kommt jede Woche eine neue Ausgabe. Dir dämmert allmählich, dass du eher ein Katzenmensch bist. Und der Newsletter wiederholt regelmäßig die Bitte, ihn auf Social Media weiterzuempfehlen. Weil du weißt, dass die Ersteller:in die Öffnungsrate des Newsletters sehen kann, öffnest du ihn immer kurz, um ihn dann mit schlechtem Gewissen zu löschen.

Vielleicht ist so etwas gemeint, wenn Leute klagen, Freundschaften wären im digitalen Zeitalter schwieriger geworden? Zumindest in den sozialen Medien ist Aufmerksamkeit eine Ressource, die knapper ist, als viele es sich eingestehen wollen. Selbst wer seine Freund:innen beim Streben danach unterstützen will, muss hier und da eine Grenze ziehen. Zumal, wenn die Interessen auseinanderklaffen – wie im Fall der peruanischen Nackthunde.

Dabei ist es normal und richtig, wenn unsere Freund:innen Unterstützung erwarten, auch auf Social Media. Die Frage ist, wie diese Unterstützung aussieht. Reicht ein Like? Soll es ein Repost sein? Ein eigener Post?  Manche Menschen kuratieren ihre Accounts so liebevoll und wohlüberlegt, dass sie jedes Posting schmerzt, das nicht genau in ihre Linie passt. Wer sich auf Social Media ausschließlich mit Pflanzen beschäftigt, wird dort wahrscheinlich nicht verkünden, dass ein guter Freund gerade ein Buch über Panzer im Wandel der Zeit veröffentlicht hat. Und das ist völlig in Ordnung. Freundschaft und Unterstützung bedeuten nicht automatisch, dass man Werbung für alles mögliche machen muss. 

Andere posten und reposten selbst so viel und so wild durcheinander, dass für Panzer und Pfingstrosen gleichermaßen Platz ist. Bei ihnen ist die Bereitschaft höher, auch noch das Weihnachtsvideo des Schulchores der Nichte eines Freundes zu teilen. Ist das reizend? Ja. Darf man es erwarten? Auf keinen Fall.

Die Faustregel für alle Aktivitäten sollte sein: Es muss sich auch ohne die Unterstützung von Freund:innen lohnen. Wenn also 100 Fremde den Nackthund-Newsletter abonniert haben und das der Verfasser:in genügt, prima. Wenn 50 Freund:innen und 10 Fremde ihn abonniert haben und die Verfasser:in permanent unzufrieden ist mit dieser Anzahl, halten nur die Freund:innen ihn am Leben – und das in unserem Beispiel nicht aus Interesse, sondern aus latent schlechtem Gewissen. Gleichzeitig fühlen sie sich in dieser Situation oft gefangen, weil sie nicht auch noch abbestellen wollen, wenn die Zahlen ohnehin schon so niedrig sind.

Das lässt nur zwei Empfehlungen zu. Erstens: Egal wie gut ihr befreundet seid, überlegt euch sehr, sehr gut, ob ihr den Newsletter abonnieren oder dem Nackthunde-Account folgen wollt. Ihr könnt stummschalten, aber ihr kommt nie wieder so richtig raus. Zweitens, und dieser Rat richtet sich an die Gegenseite: Wenn eine Aktivität, die sich eigentlich an eine breitere Öffentlichkeit richtet, zu 80 Prozent von Freunden unterstützt wird, dann seid zufrieden mit den 20 Prozent, macht es nur für euch selbst oder lasst es bleiben. 

Das fängt im Kleinen an. Zu den großen menschlichen Rätseln auf Twitter gehören für mich die “Ich wünsche mir so sehr x Follower:innen”-Tweets. Sie richten sich an die, die ohnehin schon folgen, und bitten sie, mehr Leute zu animieren. Einerseits ist der Vorgang nicht ungewöhnlich, andererseits stellen sich doch Fragen: Wozu willst du mehr Follower:innen? Und warum soll ich sie dir beschaffen? Was spricht gegen organisches Wachstum? Und was hast du dann vor? “Ich wünsche mir x Follower:innen” ist so viel inhaltsleerer als ein schlichtes “Hallo, ich bin der Mike und interessiere mich für Batik und Mountainbikes, würde mich freuen, hier ein paar Gleichgesinnte zu finden”. Niemand sollte sich verpflichtet fühlen, so etwas zu retweeten.

Das Phänomen setzt sich fort in den DMs. Es gibt tatsächlich Menschen, die etwa ein Panzer-Buch veröffentlicht haben und danach private Nachrichten schreiben mit der Bitte, das zu promoten. Auch an Leute, die nur mit sehr viel Fantasie als Freund:innen zu bezeichnen sind. Sollte jemand, der das hier liest, so etwas für akzeptables Benehmen halten: Du liegst falsch. Lass es bleiben. 

Das bringt uns zur Masterclass: Geld. Geld und Freundschaft werden völlig zu recht traditionell auseinander gehalten, und dass es manchmal keine Probleme gibt, wenn man sie vermischt, darf keine Ermunterung sein, es zu tun. In meinem Bekanntenkreis gibt es Menschen, die sich am Crowdfunding für die künstlerischen oder publizistischen Aktivitäten von Freund:innen beteiligen und damit sehr gerne aufhören würden, wenn sie wüssten, wie sie das kommunizieren sollen. 

Diese Situation muss man von vornherein vermeiden. Denn es ist nun mal so: Wenn ich ein Steady-Abo für den Nackthunde-Newsletter abschließe und jeden Monat 2 Euro dafür zahle, meine ich das vielleicht als nette Starthilfe für ein Jahr. Aber die Verfasser:in denkt womöglich: Ach guck, die ist auch Nackthundefan! Und wenn ich ein Jahr später kündige, führt sie das nicht auf mein generelles Desinteresse gegenüber Nackthunden zurück, sondern denkt, ihr Newsletter gefällt mir nicht.

Natürlich haben wir alle Freund:innen, die absolut cool sind in solchen Situationen und von sich aus sagen: “Hey, es ist nett, dass du das Abo abgeschlossen hast, aber kündige das ruhig, von Freund:innen nehme ich doch kein Geld dafür.” Aber wegen dieser Freund:innen, selbst wenn sie die erfreuliche Mehrheit bilden, liest ja niemand diesen Text. Es gibt eben auch die anderen.

Deshalb lautet die dringendste Empfehlung für solche Situationen, sich gar nicht erst hinein zu begeben. Auf direkte Aufforderungen, unentgeltlich Werbung für jemanden zu machen, muss man meiner Meinung nach nicht mal antworten. Da gilt die Faustregel: “Wenn du nichts Nettes zu sagen hast, schweig.”  Man kann seine Freund:innen übrigens auch unterstützen, indem man ihnen freundliche Nachrichten schreibt und zu ihren Aktivitäten gratuliert – ihr wisst schon, so wie vor Social Media. 

Wenn man aber nun schon mal in einer solchen Situation drin steckt, würde ich raten, offensiv damit umzugehen. Indem man zum Beispiel schreibt: “Ich freue mich, dass es gut läuft mit den Nackthunden. Du brauchst meine Starthilfe offensichtlich nicht mehr, aber ich bin stolz, deinen Aufstieg verfolgt zu haben!” Notfalls ein freundliches Emoji dran. Und dann kündigen. 

Foto von Ryan ‚O‘ Niel auf Unsplash

Geldgeschichten: Let’s talk about Tax, Baby

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

Ungläubiges Kopfschütteln, aufrichtiges Staunen oder euphorischer Jubel – die Reaktionen auf die überraschendste Wirtschaftsnachricht der vergangenen Monate waren vielfältig. Am Ende aber lief es auf eine Frage hinaus: Kann ein milliardenschwerer Unternehmer Gutes für den Kampf gegen den Klimawandel tun, oder ist das bloßes Greenwashing?

Worum es geht? Der Gründer des Outdoor-Konzerns Patagonia, Yvon Chouinard, kündigte an, dass er, seine Frau Malinda Pennoyer und die beiden Kinder ihr Unternehmen einer wohltätigen Organisation überschreiben werden. Das bedeutet, zukünftig sollen die jährlichen Gewinne des Bekleidungsherstellers, die sich auf schätzungsweise 100 bis 200 Millionen US-Dollar belaufen, dem Kampf gegen den Klimawandel zugutekommen.

In den sozialen Medien war der Applaus groß für die Patagonia-Inhaber*innen und ihre Art des „neuen Kapitalismus“, wie es Chouinard (83) in der offiziellen Begründung nannte. Endlich gebe es Kapitalist*innen, so der Tenor, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind! Uneingeschränkt gute Nachrichten also, oder? Ganz so einfach ist es leider nicht. Der Fall Patagonia bietet aber den perfekten Anlass, sich intensiver mit einem Thema auseinanderzusetzen, das für die meisten wohl eher lästig und trocken daherkommt – Steuerpolitik.

Patagonia und die Demokratie

Die zumindest vordergründig philanthropische Entscheidung der Familie Chouinard-Pennoyer, die Zukunft ihres Unternehmens auf diese Art zu regeln, kann man nämlich durchaus kritisieren. Der Ansatz, die Gewinne des Unternehmens zu 100 % dem Kampf gegen den Klimawandel und dem Schutz von unberührten Naturräumen zukommen zu lassen, ist sicherlich ein Zweck, hinter dem sich die meisten Menschen versammeln können. Wie so oft bei solchen Fragen steckt der Teufel aber im Detail. Um zu verstehen, was problematisch an dieser großzügigen Spende ist, müssen wir einen etwas genaueren Blick auf das Konstrukt werfen, mit dem Patagonia seinen Besitzer wechselt.

Der Großteil der Unternehmensanteile (98 %, um genau zu sein), die einen Wert von ungefähr drei Milliarden US-Dollar haben, gehen an eine gemeinnützige Non-Profit-Organisation – das Holdfast Collective. Das Kollektiv wird in Zukunft sämtliche Gewinne erhalten, die nach Abzug aller Kosten und Investitionen in Forschung und Entwicklung im Geschäftsbetrieb anfallen. Diese 98 % umfassen alle Non-Vote-Anteile, also die Unternehmensbeteiligung, die die Eigentümer*innen nicht berechtigen, in die Geschicke des Unternehmens einzugreifen. Damit handelt es sich bei Patagonia um die größte Spende an eine gemeinnützige Vereinigung in der Geschichte der USA.

Die verbleibenden 2 % sind sogenannte Voting-Shares. Das sind die Unternehmensanteile, die dazu berechtigen, Entscheidungen über die Ausrichtung und das operative Geschäft zu fällen. Diese Stimmanteile gehen in einen eigens dafür gegründeten Trust-Fund – den Patagonia Purpose Trust. Dieses juristische Gebilde wird in Zukunft dazu genutzt, um die Geschäfte von Patagonia zu leiten. Es setzt sich aus Familienmitgliedern und deren Berater*innen zusammen. Im Kern bleibt Patagonia also weiterhin ein privates, gewinnorientiertes Unternehmen – nur dass dieses Entscheidungsgremium nicht an den Gewinnen des Unternehmens beteiligt wird und somit nicht direkt davon profitiert. Was ist also das große Problem mit dem Vorgehen, das insbesondere Yvon Chouinard forciert hat, um die Nachfolge für sein Unternehmen zu organisieren?

“There were no good options available. So, we created our own.”

Die Art und Weise, wie die Familie ihre Unternehmensanteile weggibt und neu organisiert, führt dazu, dass sie eine enorme Summe an Steuern spart. Und wir reden hier nicht von Peanuts – den USA entgehen mindestens 700 Millionen US-Dollar Steuereinnahmen. Das liegt an der juristischen Form des eben erwähnten Holdfast Collective. Bei dieser Ausgestaltung einer gemeinnützigen Organisation (mit dem schönen Fachausdruck 501(c)(4)) handelt es sich um ein Vehikel, mit dem es möglich ist, finanzielle Werte zu spenden, die dann für politische Zwecke genutzt werden können. Auf diese Spenden entfällt nicht die klassische staatliche Erbschafts- und Schenkungssteuer. Dadurch muss die Familie statt der 700 Millionen US-Dollar, die bei einer klassischen Weitergabe aller Unternehmensanteile anfallen würde, lediglich 17,5 Millionen US-Dollar an Steuern zahlen.

Der vermeintliche Nachteil besteht darin, dass diese Art der Spende nicht gegen die eigene Einkommensteuer angerechnet werden kann. Viele Menschen kennen das – die Spenden, die wir im Laufe des Jahres an gemeinnützige Organisationen wie SOS-Kinderdorf, Brot für die Welt oder andere leisten, können wir bei der Steuererklärung geltend machen und darauf die Einkommensteuer zurückbekommen. Diese Möglichkeit entfällt in dem konkreten Fall. Dass das aber auch aus einem Vermögensaspekt heraus nicht allzu schlimm ist, werden wir später noch sehen.

Halten wir fest: Anstatt von mindestens 700 Millionen US-Dollar zahlt die Familie nur 17,5 Millionen an Schenkungssteuer, lenkt weiterhin die Geschicke der Firma, hat aber keinerlei Zugriff auf die Gewinne. Die Frage lautet also: Handelt es sich bei dem Vorgehen der Patagonia-Inhaber*innen um eine der größten Wohltaten in der US-amerikanischen Geschichte – oder aber um einen der größten Steuervermeidungs-Coups? Ohne die altruistischen Motive der Familie anzuzweifeln, bleibt das Vorgehen problematisch, weil es zutiefst undemokratisch ist. Das lässt sich an einem anderen Beispiel illustrieren.

Der Anti-Chouinard

Barre Seid ist ein US-amerikanischer Geschäftsmann und wohl selbst nur wenigen Wirtschaftsexpert*innen ein Begriff. Einige Wochen vor der Nachricht rund um Patagonia wurde bekannt, dass er auf ganz ähnliche Weise seine Anteile des Elektronik-Herstellers Tripp Lite an eine gemeinnützige Organisation überschrieben hat – den Marble Freedom Trust. Im April 2020 spendete er dem Trust 100 % der Unternehmensteile. Dieser verkaufte sie ein Jahr später für rund 1,6 Milliarden US-Dollar an den irischen Energie- und Maschinenbau-Giganten Eaton. Wie im Fall von Patagonia entfiel durch das Design der Schenkung auch hier die Zahlung der Schenkungsteuer (in diesem Fall rund 400 Millionen US-Dollar). Der große Unterschied liegt in dem Zweck, für den der Marble Freedom Trust die Gewinne des Unternehmens verwendet – vornehmlich, um die Republikanische Partei zu unterstützen. So gilt Seid als einer der größten Financiers der politischen Kampagne, die gegen legale Abtreibungen in den USA vorgeht. Auch durch Seids finanzielle Zuwendung konnte dieses Jahr das Abtreibungsgesetz gekippt werden.

Beim Vergleich dieser beiden Fälle wird das Problem deutlich. Wenn wir Unternehmer*innen durch legale Steuerpraktiken erlauben, ihr Vermögen am Staat vorbei in die gewünschten politischen Kanäle zu lotsen, werden demokratische Prozesse ausgehebelt. Wir müssen dann hoffen, dass die Unternehmer*innen Ziele verfolgen, die möglichst vielen Menschen zugutekommen und die nicht bereits bestehende Probleme verschärfen.

Dabei ist es schwer, Patagonia-Gründer Yvon Chouinard dieses Vorgehen direkt vorzuwerfen. Die Frage, warum er sein Unternehmen nicht auf konventionellem Wege verkauft hat, lässt sich einfach beantworten: Niemand hätte garantieren können, dass die neuen Inhaber*innen das Unternehmen in seinem Sinne weiterführen, also nachhaltig und im Einklang mit ökologischen Grundprinzipien statt auf die kurzfristige Gewinnmaximierung fixiert. Oder, um es mit Chouinards Worten zu sagen: „ Instead of ‘going public,’ you could say we’re ‘going purpose.’ Instead of extracting value from nature and transforming it into wealth for investors, we’ll use the wealth Patagonia creates to protect the source of all wealth.” [1]

Millionaires for Humanity

So trocken das Thema auf den ersten Blick klingen mag – die Beispiele zeigen: Wir müssen uns intensiver mit Steuergesetzgebung auseinandersetzen. Denn nicht nur in den USA, auch in Europa und Deutschland sind gerechte Steuergesetze der einfachste und effektivste Weg, um ökonomische Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu bekämpfen.

Eine der bekanntesten Stimmen im deutschsprachigen Raum, die sich für eine progressive und radikalere Besteuerung von Superreichen einsetzt, ist die Österreicherin Marlene Engelhorn. Die 30-Jährige ist eine Erbin des BASF-Gründers Friedrich Engelhorns. Das Vermögen der Familie wird auf über vier Milliarden Euro geschätzt. Marlene Engelhorn selbst wird mindestens einen zweistelligen Millionenbetrag erben. Für ihr Anliegen ist Engelhorn mit anderen Millionen-Erb*innen in Gruppen wie Millionaires for Humanity und #taxmenow organisiert.

Dass es eine Gruppe mit dem Namen Millionaires for Humanity überhaupt braucht, um einen minimalen Teil des Vermögens der Superreichen zurück in die Gesellschaft zu verteilen, ist ein Armutszeugnis. Die Philanthropie des Patagonia-Gründers Yvon Chouinard ist kein Zeichen dafür, dass unser Wirtschaftssystem am Ende doch irgendwie funktioniert, sondern im Gegenteil ein Zeichen für sein katastrophales Versagen.

Im September erschien Engelhorns erstes Buch mit dem Titel Geld (Kremayr & Scheriau), in dem sie aus philosophischer, soziologischer und ökonomischer Sicht über die Rolle von Geld in unserer Gesellschaft nachdenkt. Wie auch Chouinard will Engelhorn einen Großteil ihres Vermögens weggeben, 90%, wie sie sagt, und reflektiert zumindest in Ansätzen die undemokratische Natur dieses Vorgehens. „Wer also von individueller Verantwortung bei Überreichen spricht, verschweigt, dass damit die gesellschaftliche Machtfrage kaschiert wird“, heißt es an einer Stelle in ihrem Buch. Superreiche, so altruistisch sie sich verhalten mögen, dienten nicht als Vorbild.

Das wird auch bei Engelhorn selbst deutlich, die sich ebenfalls nicht vollständig ihrer Verantwortung stellt. An zwei Stellen im Buch, an denen sie konkret auf die Vergangenheit des Familienunternehmens eingeht (zum Beispiel die Rolle der BASF während des Zweiten Weltkriegs), entzieht sie sich der Diskussion mit dem Verweis, sie persönlich habe das nicht zu beurteilen.

Wenn in Deutschland allerdings über Steuerfragen diskutiert wird, dann dreht es sich dabei häufig um die klassische Einkommensteuer. Jüngst wurde beispielsweise intensiv um die Ausgestaltung der kalten Progression, also der Anpassung der Einkommensteuersätze an die Inflation, gestritten. Die Fragen nach einer gerechten Besteuerung von Arbeitseinkommen sind auch nicht unwichtig, aber die Vehemenz, mit der sie geführt werden, verstellen den Blick auf das Wesentliche: Superreiche verdienen ihr Geld nicht durch ihre eigene Arbeit.

Sag mir, wie du Geld verdienst, und ich sag dir, wie reich du bist

Grundsätzlich lassen sich zwei Arten unterscheiden, wie Menschen Geld verdienen – aus geleisteter Arbeit oder durch Kapitaleinkünfte. Unter diese Kapitaleinkünfte fallen Einkommen aus Dividendenzahlungen, erhaltene Zinsen oder der Verkauf von Wertpapieren. Allgemein lässt sich folgende Daumenregel festhalten: Je reicher die Menschen sind, desto höher ist der Anteil ihres Einkommens aus Kapitalanlagen. In diesem Zusammenhang fällt häufig der Ausdruck „das Geld für sich arbeiten lassen“, was nichts Anderes bedeutet, als von der Arbeit anderer Menschen zu profitieren. So liegt der Anteil, den die ärmste Hälfte der Menschen in Deutschland aus klassischem Arbeitseinkommen bezieht, bei ca. 90 %, während es beim reichsten Prozent nur 25 % sind. Der Rest besteht aus den Einnahmen aus Kapitalanlagen.

Und hier fängt das große Problem an: Während in Deutschland die Steuern, die auf Arbeitseinkommen gezahlt werden müssen, progressiv sind, besteht auf Kapitaleinkünfte ein fester Steuersatz von 25 %. Progressiv bedeutet, dass Menschen, die ein höheres Bruttogehalt beziehen, relativ gesehen mehr Steuern zahlen. Jemand, der monatlich ca. 3.000 € netto verdient, hat bereits durchschnittlich 25 % Einkommensteuer auf den entsprechenden Bruttolohn gezahlt. Das heißt, er zahlt auf sein Einkommen, das er erarbeitet hat, genauso viel Prozent an Steuern, wie jemand, der sein “Geld für sich arbeiten lässt”. Was in Wahrheit bedeutet, dass er andere für sich arbeiten lässt. Das Problem ist also nicht, dass wir Arbeitseinkommen progressiv besteuern, sondern dass wir das bei Kapitaleinkünften nicht tun. Das wäre eine Steuerdebatte, die Wahlkämpfe dominieren sollte. Eine progressive Besteuerung von Kapitaleinkommen könnte ein erster Schritt sein, um gegen die steigende ökonomische Ungleichheit anzukämpfen.

Das größte wirtschaftliche Problem, das Deutschland im Jahr 2022 hat, ist die eklatante Ungleichverteilung der Vermögen. Während die ärmsten 50 % des Landes lediglich 3,5 % des Gesamtvermögens haben, viele also de facto über kein Vermögen verfügen, vereinen die reichsten 10 % fast zwei Drittel auf sich! Die 800.000 reichsten Menschen besitzen also mehr als das 14-Fache im Vergleich zu den ärmsten 40 Millionen zusammen. Diese extreme Polarisierung von Armut und Reichtum kann auf Dauer weder funktionieren. Häufig wird dabei das Bild vermittelt, gerade von vielen Gegner*innen des kapitalistischen Systems, diese Entwicklung sei zwangsläufig Teil des modernen Finanzkapitalismus. Dabei hat der Staat das effektivste Mittel, um diese Entwicklung zu stoppen, längst in der Hand – Steuern auf Vermögen.

Wir müssen Vermögen besteuern – auch die von Unternehmen!

Es ist eigentlich recht einfach. Vermögen in Deutschland werden größtenteils durch Erbschaften weitergegeben. Die reichsten 10 % erhalten pro Jahr ziemlich genau die Hälfte aller Erbschaften, die in Deutschland anfallen – die ärmste Hälfte der Bevölkerung lediglich 7 %. Wir haben zwar eine Erbschaftssteuer, laut der auch Erb*innen von sehr reichen Menschen in der Theorie einen relativ hohen Satz zahlen müssten – bei Erbschaften über 26 Millionen Euro entspräche der aktuell 30 %. Das Problem ist aber, dass dieser Satz quasi nie gezahlt wird, da es zahlreiche Ausnahmeregelungen gibt. Die größten davon betreffen die Vererbung von Unternehmensvermögen.

Und hier schließt sich der Kreis zu Yvon Chouinard und Marlene Engelhorn. Unternehmen gehören Menschen, und wenn Unternehmen Gewinne machen, dann landen diese Gewinne bei ganz realen Personen. In den nächsten zehn Jahren werden Schätzungen des französischen Ökonoms Thomas Piketty zufolge bei den reichsten 10 % mehrere Billionen Euro an Erbschaften in Europa und Nordamerika anfallen. So wird das über 24 Milliarden Euro umfassende Vermögen des kürzlich verstorbenen Red-Bull-Gründers Dietrich Mateschitz (so gut wie) steuerfrei an seine Erben weitergehen. Der Grund dafür? Seit 2008 gibt es in Österreich keine Schenkung- und Erbschaftsteuer mehr. Wird das Erbschaftsteuer-System nicht radikal reformiert, zirkuliert eine unvorstellbar große Summe innerhalb der Kreise der Reichsten nahezu unversteuert weiter. Welche Folgen das mittelfristig auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat, kann man sich vorstellen. Es wird Zeit, dass diese Fragen die öffentlichen Debatten bestimmen.

[1] Das lässt sich frei wie folgt übersetzen: “Man könnte sagen, wir gehen nicht an die Börse, wir gehen auf ein Ziel zu. Anstatt der Natur Werte wegzunehmen und sie in Werte für Investoren zu verwandeln, nutzen wir das Vermögen, das Patagonia erzeugt, um die Quelle allen Reichtums zu schützen.”

In der Wirtschaftskolumne „Geldgeschichten“ ordnet der Ökonom Daniel Stähr jeden Monat aktuelle Phänomene aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzpolitik und Ökonomie ein

Social-Media-Benimmkolumne: Warum Drükos peinlich sind

von Franziska Reuter

Es kommt vor, dass ganze soziale Systeme ein Verhalten kennen, das eigentlich alle falsch finden — außer bei sich selbst. Normalerweise funktioniert das über Entschuldigungen: Ja, ich hätte an der Kasse sagen sollen, dass ich fünf Euro zu viel rausbekommen habe, aber ich war irgendwie gestresst oder pleite oder sauer, weil die Kassiererin unhöflich war. Bei einem selbst gelten diese Entschuldigungen. Für welchen Struggle sollte man auch mehr Verständnis haben als für den, den man selbst erlebt? 

Weiterlesen: Social-Media-Benimmkolumne: Warum Drükos peinlich sind

Bei anderen betrachtet man dieses Verhalten schon strenger. Vor allem, wenn man selbst, um im Bild zu bleiben, die Kassiererin ist, die am Abend die Abrechnung machen muss und feststellt, dass die Zahl nicht stimmt.

Auf Twitter ist dieses Verhalten der Einsatz von Drükos. Für Nichttwitterer*innen: Das sind Drüberkommentare, im Unterschied zu Drukos, also Drunterkommentaren. Niemand weiß, warum sich diese beknackte Nomenklatur eingebürgert hat, die sich auf den Apps oder auf der Website überhaupt nicht wiederfindet. Drükos sind einfach Zitattweets und Drukos einfach Antworten. Aber so ist es jetzt nun mal. Drükos entstehen, indem jemand auf das Retweet-Symbol tippt, „Tweet zitieren“ auswählt und dann oberhalb des Zitats eine eigene Anmerkung schreibt.

Nun gibt es durchaus ein paar harmlose Anwendungsbeispiele. Sie sind nur in der Minderheit. Wenn man durch einen fremden Account scrollt, der einem neuerdings folgt, und dort sehr viele Drükos findet, sollte man einen Softblock zumindest in Erwägung ziehen. Drüko-Ultras zeichnen sich meist durch eine Mischung aus aggressiver Rechthaberei und Feigheit aus. Lediglich das Verhältnis dieser beiden Eigenschaften differiert. Klingt das wie eine Persönlichkeit, mit der Kommunikation Spaß macht? 

Fangen wir mit den harmlosen Beispielen an. Sogenannte Mitmachtweets laden zum Drüko geradezu ein. Wenn der Ausgangstweet lautet „Dein Superhelden-Name ist die Farbe deiner Socken und der Name deines ersten Haustier“ und jemand zitiert das mit den Worten „Blue Bello“, hat das mit Drüko-Ultras nichts zu tun. Dasselbe gilt für die meisten affirmativen Drükos. Angenommen, jemand postet ein Foto eines Buches, wäre der Drüko „Das habe ich neulich auch gelesen und fand es toll!“ sozial völlig verträglich.

Auf gefährlicheres Terrain kommen wir dort, wo dem Ausgangstweet nicht wirklich eine Information hinzugefügt wird. So wie manche Meetings E-Mails hätten sein können, könnten manche Drükos einfach Retweets sein. Das ist besonders peinlich bei Gags, die dann noch einmal anders formuliert zitiert werden. Man kann lange diskutieren, was dahinter steckt: Die Überzeugung, es besser zu können? Reine Gedankenlosigkeit? Das Verlangen nach Likes für einen selbst? Letzteres ist natürlich Selbstbetrug — wenn mir jemand ein Kompliment macht für die Hose, die ich trage, geht das Kompliment im Grunde immer noch an den Hersteller und nicht an mich. Es sei denn, die Leistung soll hier das Finden und Erkennen des Qualitätstweets sein. Aber wie gesagt, ein Retweet täte es dann auch.

Ebenfalls gutartig, aber sinnlos: Affirmative Drükos, die eigentlich Drukos sein sollten. „Ja, genau“ ist schon als Druko nur mittelgeistreich. Unter dem Ausgangstweet ist es womöglich hilfreich oder zumindest gut aufgehoben, aber den anderen Follower*innen je nach Relevanz des Themas vielleicht völlig egal. Wenn ich mich mit einem Freund prima und ausdauernd über die Herstellung von Mango Chutney unterhalten kann, heißt das nicht, dass mein ganzer Bekanntenkreis auch für dieses Thema zu begeistern ist. Manchmal ist es besser, wenn ein Gespräch dort weitergeführt wird, wo es herkommt. Zumal ein Drüko sicher vieles ist, aber keine Einladung zum weiteren Gespräch. Man bricht die Kommunikation ab, um sie woanders hinzutragen.

Das bringt uns zu den Drüko-Ultras. Genau das ist nämlich ihr Ziel: Sie wollen kein Gespräch, sondern die Diskussion gewinnen, und zwar so schnell und stressfrei wie möglich. Also begeben sie sich an einen Ort, an dem sie erstens Widerspruch technisch blocken können, wenn es ihnen zu bunt wird, und wo zweitens ihre eigenen Follower*innen sind, von denen sie sich Unterstützung erwarten. Ein solcher Drüko entspricht also mindestens einer von zwei Verhaltensweisen, die wir von Kindern kennen: die eigene Meinung laut rauszubrüllen, während man sich selbst die Ohren zuhält, oder Streit mit Stärkeren vom Zaun zu brechen und sich dann von seinen älteren Geschwistern verteidigen zu lassen.

Die Erfahrung zeigt: Es gibt Leute, die es für sophisticated halten, einen Tweet direkt und ohne vorherige Kommunikation mit den Worten „Was für ein Unsinn“ zu zitieren. Wenn es sich um den Tweet einer Politiker*in handelt: Geschenkt. Die würden sowieso nicht antworten. Aber bei Privatpersonen heißt es im Grunde: „Ich diskutiere nicht mit der Person, die das getwittert hat, denn ich halte sie nicht für satisfaktionsfähig. Aber auf meinem eigenen Account, wo mir viele Gleichgesinnte folgen, wäre ich unter Umständen zu einer kleinen Diskussion zum Thema bereit, falls jemand anderer Ansicht sein sollte als ich. Die Tatsache, dass dieser Jemand mir folgt, zeigt schließlich seinen ansonsten guten Geschmack und qualifiziert ihn zum Gesprächspartner. Und wenn es schiefgeht, wird mich schon jemand von meinen anderen Follower*innen raushauen.“ Narzissmus mag ein Modewort sein, aber das nicht als narzisstisches Verhalten zu sehen, fällt schon schwer. 

Ansonsten entstehen die Drükos aber häufig aus der verzweifelten Situation, dass jemand schon dabei ist, die Diskussion in einem Thread unter dem Ausgangstweet zu verlieren. Also antwortet ein Drüko-Ultra dort irgendwann nicht mehr, sondern zitiert stattdessen. Ab sofort geht es nicht mehr ums Reden, sondern ums Rechthaben. Daran erkennt man, ob es sich hier um einen Austausch handelt, den beide sportlich nehmen, oder um einen eitlen Schaukampf der Beteiligten. 

Auf manchen Accounts sieht man die Überreste dieser sinnlosen Schlachten: Mehrere Tweets hintereinander, die auf diese andere Diskussion verweisen und um Unterstützung betteln. Besondere Genies zitieren dabei nicht nur die Tweets ihrer Gegner, sondern auch ihre eigenen Diskussionsbeiträge. Wahrscheinlich liegt ihnen am Herzen, dass ihre Followerschaft keinen einzigen ihrer brillanten Gedanken versäumt.

Paradoxerweise finden alle solche Drükos unverschämt, wenn es sie selbst trifft. Manche werfen auch schnell mit dem Wort Shitstorm um sich, wenn sie plötzlich mehrere fremde Accounts in ihren Antworten haben, die ihre abweichende Meinung mehr oder minder wertschätzend kundtun. Aber wenn sie dasselbe tun, finden sie stets einen Grund, zumindest moralisch im Recht zu sein. Oft ist es das Gefühl, von Andersdenkenden umgeben zu sein. Das kommt aber nun mal schnell auf, wenn man unter dem Tweet einer anderen Person eine Diskussion beginnt. Das heißt nicht, dass man es grundsätzlich lassen soll. Manche Dinge erfordern Widerspruch. Aber bei den meisten Themen, die einem durch erboste Drükos in die Timeline gespült werden, wird eine Twitterdiskussion uns gesellschaftlich nicht voranbringen. 

Was also tun? Ehrlichkeit wäre eine Lösung. Mir ist in mehr als zehn Jahren auf Twitter kein einziger Drüko begegnet, der das Offensichtliche zugegeben hätte: „Ich bin da in eine Diskussion geraten und jetzt gehen mir die Argumente aus, weiß jemand von euch noch eins?“ Das wäre ein Drüko, der Respekt verdient hätte. Oder auch: „XY und ich führen gerade eine Diskussion, die vielleicht auch manche von euch interessiert.“ Oder: „Wie seht ihr das?“ Alles deutlich weniger passiv-aggressiv gegenüber den Kontrahenten und höflicher gegenüber den eigenen Follower*innen, die sich ernst genommen und nicht als Like-Lieferanten missbraucht fühlen wollen.

Drükos sind ein Eskalationsmittel und sollten deshalb ausgesprochen sparsam eingesetzt werden. Da sind wir wieder beim Beispiel mit der Kassiererin: Egal wie gestresst oder genervt man gerade ist — man muss sich trotzdem fragen, ob man nicht unter Umständen doch am längeren Hebel sitzt und dem Gegenüber mittelfristig viel mehr Ärger verursacht, als man selbst gerade empfindet. Und was bringt die Eskalation einem schon am Ende? „Hat seit 2015 keine Diskussion mehr auf Twitter verloren“, ist nichts, was man sich in den Lebenslauf schreiben kann. Oder sollte.

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Social-Media-Benimmkolumne – Was soll das mit den Twitter Circles nun wieder?

von Franziska Reuter

Twitter hat ein neues Feature ausgerollt: Circles. Damit können Nutzer*innen bei ihren Tweets einen kleineren Personenkreis festlegen, der sie exklusiv sehen können soll. Dieses neue Feature hat weite Teile des Netzwerks in Aufregung versetzt, was für Außenstehende unter anderem deshalb schwer zu verstehen sein dürfte, weil Facebook schon seit mehr als zehn Jahren eine viel avanciertere Variante davon anbietet. Aber der Reihe nach: Wo ist das Problem? Und wozu das alles überhaupt?

Weiterlesen: Social-Media-Benimmkolumne – Was soll das mit den Twitter Circles nun wieder?

Bis zu 150 Menschen erlaubt Twitter in einem Circle. Dass die Tweets exklusiv sind, erkennt man sofort an einem grünen Zeichen und einem Texthinweis. Man muss nicht lange nachdenken, um auf sinnvolle Verwendungszwecke zu kommen: Wenn jemand etwa seine gesundheitlichen oder mentalen Probleme nur mit Vertrauten teilen möchte, wenn jemand über seinen Job schimpfen möchte, ohne dass der Arbeitgeber davon Wind bekommt, wenn jemand in einem Sorgerechtsstreit Unterstützung und Rat braucht – wirklich viele gute Gründe sprechen für die Nutzung dieses Features. 

Die Idee ist wie erwähnt nicht neu. Facebook bietet schon seit Ewigkeiten die Kategorien „Enge Freunde“, „Bekannte“ und „Eingeschränkt“ an und lässt Nutzer*innen weitere Gruppen selbst erstellen. Aber Facebook war auch schon immer ein soziales Höllenloch, das von privaten Details lebte und gleichzeitig dazu ermunterte, die Kontaktliste immer mehr zu erweitern. Als noch fast alle ihre Posts ausschließlich für „Freunde“ sichtbar gestellt hatten, ergab sich dadurch ein trügerisches Gefühl der Intimität.

Twitter hingegen lebt davon, dass die Nutzer*innen ihre Meinungen und Erlebnisse gar nicht laut genug in die Welt hinausschreien können. Privatheit ist eher nicht vorgesehen. Deshalb gibt es auf Twitter auch so kostbare Cringe-Momente – etwa wenn man jemandem gerade erst gefolgt ist und der plötzlich einen detaillierten Thread darüber absetzt, warum seine letzte Beziehung gescheitert ist. Das Circle-Feature stellt eine Abkehr von Twitters Cocktailparty-Prinzip dar, bei dem die Gäste durcheinander reden, mit Fremden ins Gespräch kommen und irgendwie alles von allen mitbekommen. So erklären sich auch die Nöte, in die manche Nutzer*innen nun gestürzt wurden. Zuvorderst: FOMO, fear of missing out. Was bekomme ich nun nicht mehr mit, ohne davon auch nur zu ahnen? Nutzt diese Person Circle einfach nur nicht oder gehöre ich nicht dazu?

Aber es stellen sich eben auch Fragen der Höflichkeit. Wenn mich jemand in seinen Circle aufnimmt, muss ich das dann umgekehrt auch tun? Kann ich jemandem sagen, dass ich nicht in seinem Circle sein möchte, weil mir das alles zu privat ist und wir uns so gut nun auch nicht kennen? Darf ich meine engeren Freund*innen fragen, ob sie das Feature nutzen, und dann nervös durch ihre Profile scrollen und schauen, ob ich ihre Circle-Tweets sehen kann?

Einfache Antworten gibt es auf diese Fragen nicht, komplizierte aber schon. Zu ersten Frage: Wenn wir davon ausgehen, dass ein Circle wirklich so etwas ist wie ein Freundeskreis, dann wissen die Personen, die darin sind, im Idealfall von dieser Freundschaft und empfinden sie ebenso. Darf man das Gegenüber dann ausschließen? Wir alle kennen Menschen, die nie etwas Persönliches von sich erzählen, sich aber gerne von anderen mit privaten Geschichten unterhalten lassen. Das finden ihre Gesprächspartner*innen auf Dauer meist unangenehm. Wenn man sieht, dass man bei jemandem im Circle gelandet ist, sollte man also zumindest in Erwägung ziehen, die Person auch in den eigenen aufzunehmen. Ein Vertrauensvorschuss von einer Seite bringt ja manchmal die schönsten Freundschaften hervor.

Der zweite Punkt, Oversharing im Circle, ist besonders knifflig. Es gibt wie immer die friedvolle Lösung, die Person einfach stumm zu schalten. Aber dann entgehen einem alle ihre Tweets. Den Kontakt weiter zu pflegen wird dadurch fast unmöglich. Deshalb ist es keine schlechte Option, anzusprechen, dass einem die Circle-Tweets zu intim sind. Der Inhalt der Tweets spielt hier eine große Rolle. Bei allem, was nach landläufiger Auffassung eine Triggerwarnung bräuchte, würde ich sogar dringend dazu raten, es zu artikulieren. Wir überfallen auch unsere Bekannten nicht mit Horrorgeschichten, bei denen wir keine Ahnung haben, ob sie alte Wunden aufreißen. Und so verständlich es ist, dass jemand etwa nach dem Tod von Angehörigen Trost auf Twitter sucht, so sehr braucht es den Konsens aller Beteiligten, mehrmals täglich mit medizinischen Details und Trauer konfrontiert zu werden. Vor allem, da sie einen beim Scrollen durch die Timeline völlig unvorbereitet treffen können.

Kommen wir zur dritten Frage: Darf ich auffällig-unauffällig recherchieren, ob meine engen Freund*innen mich womöglich nicht in ihren Circle aufgenommen haben? Ja, selbstverständlich darfst du das, aber bitte tu es trotzdem auf keinen Fall. Du rufst auch nicht deine Freund*innen zum Geburtstag an und fragst, ob sie wirklich nicht feiern oder dich nur nicht eingeladen haben. Freundschaften sollten nicht von der Angst geprägt sein, ausgeschlossen zu werden, und wenn sie das aus guten Gründen doch sind, ist es Zeit für ein ernstes Gespräch, in dem die Worte Twitter und Circle nicht vorzukommen brauchen. Wenn es sich hingegen nur um anlasslose Unsicherheit handelt, sollte man ihr nicht so viel Raum geben, sondern lieber mal wieder ein Treffen, ein Telefonat oder einen längeren Chat initiieren. Im Zweifelsfall fühlt man sich der Person danach deutlich näher, als ein Twitter Circle das jemals schaffen könnte.

Eine vierte Frage stellen sich vielleicht gerade nicht so viele, aber sie ist ausgesprochen wichtig: Was soll das überhaupt, was macht Twitter da? Zum einen scheint die Plattform endlich begriffen zu haben, dass ihre Nutzer*innen sich mehr Schutz wünschen. Noch vor ein paar Jahren wurde sogar strafrechtlich relevantes Verhalten auf Twitter kaum verfolgt, weil das Unternehmen die Ermittlungen nicht unterstützte. Dann kamen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und mit ihm auch bessere Möglichkeiten, sich gegen Hassnachrichten zur Wehr zu setzen. Nur möchte man sich nicht immer zur Wehr setzen müssen. In der Hinsicht ist das neue Feature eine gute Sache für die Nutzer*innen.

Twitter selbst könnte jedoch auch tiefer liegende Interessen haben. Die Übernahme der Plattform durch Elon Musk wurde abgesagt, angeblich weil die Zahl der Nutzer*innenkonten und die Zahl der wahren Nutzer*innen zu weit auseinander lägen. Nun gibt es etliche Gründe, warum eine Nutzer*in mehrere Accounts haben könnte. Die meisten davon sind vollkommen ehrenwert und haben mit politischer Hetze oder Shitposting nichts zu tun. Viele Menschen unterhalten neben ihren Hauptaccounts kleine Dark Accounts, die mit einem Schloss versehen sind und nur eigens bestätigte Follower*innen aufnehmen. Ein solcher Dark Account ist nicht mehr nötig, wenn man den Circle einrichtet. Das bedeutet, Twitter könnte mit der Zeit mehr Überblick über die Anzahl seiner Nutzer*innen gewinnen. Gleichzeit erhöht es das Risiko für die Nutzer*innen im Fall eines Datenlecks: Die heiklen Tweets wären zweifelsfrei zuzuordnen. Ob das nur leicht peinlich wäre oder existenzbedrohend, und ob man der Datensicherheit genug vertraut, um das Risiko einzugehen, muss jede selbst entscheiden.

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Geldgeschichten: Die Sünden, die wir erben

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

Haben Sie sich schon den neuen Survivalguide für unseren Planeten vom Club of Rome besorgt? Nein? Haben Sie vielleicht davon gehört? Die ein oder andere am Rande? Vielleicht. Seltsamerweise handelte es sich auch um keine große Nachricht, sie ging unter, wie so vieles untergeht in der selektiven Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Nachrichten. Einem anderen Thema aus der Wirtschaftspolitik, das mich interessiert, konnte man hingegen nicht entkommen: Die Diskussion um die Energiepreise in Deutschland und das dritte Entlastungspaket der Bundesregierung dominierte die Nachrichten. Dahinter verschwand der eindringliche Appell des Club of Rome  – vielen Medien war er nur eine Randnotiz wert. Dabei könnte der neueste Bericht des Expert*innen-Gremiums über die Zukunft unserer Erde nicht alarmierender sein und hat mit der verheerenden Flutkatastrophe in Pakistan auch ein tragisches, aktuelles Beispiel. Betrachtet man diese beiden Themen genauer, stellt man zudem schnell fest, wie eng sie miteinander verzahnt sind. Aber der Reihe nach.

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Social-Media-Benimmkolumne: Ist es unhöflich, nicht zurückzufolgen?

von Franziska Reuter

Auf sozialen Netzwerken zerfällt die Menschheit in drei Kategorien: echte Freunde, völlig Fremde und solche, die man doch irgendwie ein bisschen kennt. All diese Menschen könnte es vor den Kopf stoßen, wenn sie einem folgen und man das nicht erwidert. Aber heißt das automatisch, dass man zurückfolgen muss?

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Schauen wir auf die Fakten. Meta hat jüngst Facebook und Instagram umgestellt auf Timelines, die dem TikTok-Prinzip ähneln: Nicht mehr die Urlaubsfotos von Schulfreund*innen und Jobwechselankündigungen von ehemaligen Kolleg*innen sollen uns dort begrüßen, sondern beliebter Content, egal von wem. Ob das nun eine wirklich gute Idee war, sei dahingestellt – schließlich gilt Facebook als Medium zur Kontaktpflege und hat mit diesem Konzept die meisten Nutzer*innen gewonnen. Fragt sich, ob die Leute nicht unzufrieden wären, wenn sich plötzlich herausstellte, dass ihre jahrelang als solche genutzte Bratpfanne in Zukunft nur noch als Tennisschläger zu benutzen ist. Und ob der Vorsprung, den TikTok darin hat, eine nahezu perfekte Timeline zu kuratieren, jemals aufzuholen ist.

Es zeigt aber doch, wohin es geht. Meta wird diese Entscheidung aufgrund von Daten getroffen haben, wie das Unternehmen das immer tut, und diese Daten sagten offenbar: Die Freund*innen unserer Nutzer*innen sind langweilig, deshalb müssen wir ihnen andere Inhalte zeigen. Und es stimmt! Meine Freund*innen sind langweilig, deine Freund*innen sind langweilig. Im echten Leben können sie nette Menschen sein. Aber Social Media ist eine Kunstform, und viele verwechseln sie mit einem Selbstgespräch. Wer noch nie jemanden stummgeschaltet hat, weil der zum dritten Mal so etwas wie „Ich mache mir jetzt einen leckeren Salat“ oder ein merkwürdiges Selfie mit einem Paulo-Coelho-Zitat gepostet hat, möge mir widersprechen.

Für echte Freund*innen machen wir da natürlich eine Ausnahme. Wenn man eng mit jemandem befreundet ist, interessiert einen auch der dritte Salat in Folge. Daher ist es keine Frage der Höflichkeit: Wenn einem jemand auf Social Media folgt, mit dem man richtig befreundet ist, will man natürlich zurückfolgen. Und wenn man den Impuls hat, das nicht zu tun, könnte das ein guter Anlass sein, sich zu fragen, wie gut es mit dieser Freundschaft im echten Leben derzeit bestellt ist.

Das bringt uns zur zweiten Kategorie: fremde Menschen. Auch wenn man das IRL anders empfindet, so sind fremde Menschen auf sozialen Netzwerken das Allerbeste. Wenn einem Fremde folgen, kann man sich gemütlich durch ihr Profil wühlen. Manchmal ist es amüsant, manchmal ähnelt es einem Autounfall, und manchmal findet man das Ganze so interessant, dass man zurückfolgen will. Der ganze Prozess ist herrlich, und am Ende steht eine freie Entscheidung, für die man niemandem Rechenschaft schuldig ist. Wer bei fremden Menschen beleidigt ist, wenn sie nicht zurückfolgen, hat Social Media nicht verstanden, und wenn man mit Leuten diskutieren will, denen dieses Verständnis fehlt, kann man auch einfach mal wieder seine Eltern anrufen.

Der ganze Charme fremder Menschen im Internet ist bisher tatsächlich am ehesten auf TikTok auszumachen, wo neben professionellen Content Creators haufenweise Normalos einfach ihren Hobbies nachgehen und sich dabei filmen. Wer beschlossen hat, auf einen Handstand hinzuarbeiten, findet dort ebenfalls Videos von Gleichgesinnten wie jemand, der wissen will, wie man einen verdeckten Reißverschluss näht oder seinem Hund beibringt, Pfötchen zu geben. Dabei geht es nicht unbedingt um Anleitungen oder Perfektion – man sieht andere auch scheitern. Eine Sache aber hat TikTok frühzeitig verstanden: Wenn jemand in Düsseldorf sitzt und sich für Obertongesang interessiert, müssen wir ihn mit den Leuten in Idaho und Ulaanbaatar zusammenbringen, die sich auch damit beschäftigen. Nicht mit Leuten aus Köln, deren Karnevalsvideos drei Millionen Views haben.

Wirklich kompliziert wird es erst in der dritten Kategorie: Menschen, die man ein bisschen kennt. Das können Kolleg*innen oder Bekannte aus dem echten Leben sein, aber auch solche, deren richtige Namen man kaum weiß, denen man aber schon mal bei Veranstaltungen oder Treffen begegnet ist – zusammengebracht durch einen Hashtag oder ein gemeinsames Interesse. Oder Online-Freund*innen von Online-Freund*innen. Nehmen wir an, diese flüchtigen Bekannten folgen uns, und wir finden ihre Profile nicht so interessant, dass wir ihnen auch zurückfolgen würden, wenn sie Fremde wären. Muss man hier höflich sein?

Der beste Rat, den ich dazu geben kann, lautet: Nein, bloß nicht. Höflichkeit kann einem die Timeline komplett ruinieren. Auf Twitter gibt es immerhin einen Geheimtipp: Wenn man der Person folgt, aber ihre Retweets ausblendet, hält sich der Schaden zumeist in Grenzen – außer bei Leuten mit außergewöhnlichem Sendungsbewusstsein und zu viel Freizeit, vor denen hier ganz besonders nachdrücklich gewarnt werden muss. Folg diesen Accounts nicht, wenn es dich nicht brennend interessiert. Du kommst sonst nicht mehr so leicht da raus.

Dann gibt es noch Menschen, die zwar einen Account haben, aber kaum posten. Eigentlich sehr angenehme Fälle: Offenbar ist ihnen Social Media nicht so wichtig, dass sie Affekte entwickeln würden, wenn man ihnen nicht zurückfolgt. Außerdem sieht man, selbst wenn man ihnen folgt, nur einmal im Monat ihre Posts – das ist zu verschmerzen, auch wenn es sich um Liebeserklärungen an die Scorpions handelt.

Ansonsten lautet ein wichtiger Punkt, den man in Erwägung ziehen sollte: Treffe ich diese Person regelmäßig im echten Leben in einem Ausmaß, dass es irgendwann peinlich wird, wenn ich ihr doch noch folge, gefühlt viel zu spät? Das sortiert alle Menschen aus, die eigentlich schon zur Vergangenheit gehören.

Bei den anderen muss man eine Entscheidung treffen, die stark von der eigenen Persönlichkeit abhängt. Schämt man sich mehr vor sich selbst, wenn man aus Höflichkeit eingeknickt ist, oder schämt man sich mehr vor der anderen Person, wenn die mehr oder minder dezent darauf hinweist, man folge ihr ja immer noch nicht? Letzteres, das sollte man unbedingt bedenken, würde bedeuten, dass man selbst höflicher ist als die Gegenseite. Es ist nicht besonders elegant, Leute darauf aufmerksam zu machen, dass sie einem ja immer noch nicht folgen. Social Media ist keine Polonaise. Deshalb gilt die Faustregel: im Zweifel nicht zurückfolgen. Früher wurde Twitter oft mit einer Cocktailparty verglichen. Und wer auf einer Cocktailparty mit allen reden muss, verpasst die ausführlicheren Gespräche mit den Menschen, die man sich selbst ausgesucht hat.

Photo von Prateek Katyal auf Unsplash