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Dunkle Academia – Donna Tartts „Die geheime Geschichte“ und die Folgen

von Benita Berthmann

Eine Gruppe prätentiöser Student*innen an einem Elite-College in Vermont; ein Griechisch-Professor, der an einen Guru erinnert; eine ordentliche Menge erotischer Spannungen, Drogen und Mord. Das sind die Voraussetzungen für Donna Tartts The Secret History, dem Roman, den sie – so zumindest die Legende – ihren eigenen College-Erfahrungen nachempfunden hat. Und obwohl ihre Geschichte in den 1980er Jahren spielt, findet sie auch im Jahr 2023 immer neue Leser*innen. Das geschieht nicht zuletzt auf der Plattform TikTok, die die Autorin – 30 Jahre nach dem Erscheinen des Romans – zur Königin jener morbiden Ästhetik erhebt, die als Dark Academia bezeichnet wird. Die Nutzer*innen preisen nicht nur das Buch selbst an, sondern haben auch Empfehlungen für dazu passende Musikplaylisten, die Ästhetik widerspiegelnde Kleidung, Dekoration und weitere, in eine ähnliche Kerbe schlagende Romane und Filme wie Kill Your Darlings parat. Sie sollen die Vibes des verschworenen akademischen Freundeskreises evozieren, in den der Ich-Erzähler Richard Papen hineingezogen wird.

„Schönheit ist Schrecken“

Was genau macht dieses ästhetische Programm aus? Es stützt sich auf das Elitäre, Bildungsbürgerliche, auf die Romantisierung der akademischen Arbeit. Es geht darum, das Leben dem Lernen, Lesen und Schreiben zu widmen, ein Geistesmensch zu sein. Und das ganze bei Kerzenschein, vor einem Bücherregal voller Klassiker, auf dem Tisch ein überquellender Aschenbecher nebst weiteren Stimulanzien, die Kreativität, Innovation und Tatendrang fördern sollen. Ihre Anhänger*innen glorifizieren geschlossene Welten, Internate und Colleges, weit weg von (elterlichen) Einflüssen, von denen man sich zu emanzipieren sucht. Es geht um die Zurückgezogenheit, darum, sich ganz der geistigen Arbeit zu widmen – und vielleicht auch den dunklen Seiten der menschlichen Existenz, die den düsteren Teil des Lebens nach den Prinzipien der Dark Academia bilden.

Diese Verbindung von Dunkelheit, von Sünde und Schuld, nobler und feinsinniger Kultur verordnet der so seltsame wie mit seinem immensen Wissen und kulturellen Kapital beeindruckende Professor Julian Morrow programmatisch für das Leben seiner exklusiven Anhängerschaft. Neben Richard Papen besteht sie aus dem Anführer der Gruppe Henry Winter, den Zwillingen Charles und Camilla Macauley, dem reichen Bonvivant Francis Abernathy, und aus Edmund Corcoran, genannt Bunny, dessen gewaltsamer Tod durch seine Freunde herbeigeführt wird – ein Mord, der schon im ersten Satz des Romans offenbart wird.

„Schönheit ist Schrecken“, heißt es, „was immer wir schön nennen, wir erzittern davor.“ Und das funktioniert auch umgekehrt. Dem Schrecklichen wohnt eine Schönheit inne, die elektrisiert. Von Bunnys gewaltsamen Tod geht eine Faszination aus, der wir uns als Leser*innen nicht entziehen können. Wir finden Gründe und Entschuldigungen, warum Henry einen nahezu perfekten Plan ausheckt, wie er seinen früheren Freund Bunny aus dem Weg räumen kann. Wie verzeihen der Gruppe ihre Fehler – zumindest über ziemlich weite Strecken.

Einem Teil der Rezipient*innen scheint nicht klar zu sein, dass diese Romantisierung des zurückgezogenen Gelehrtendaseins, immer haarscharf am Abgrund des Bösen vorbeischrammend, nur bedingt trägt. Zu gerne lässt man – auch ich – sich vom ätherischen Charme der Figuren einlullen und vergisst dabei, die Klischees, die Vorstellungen, die der Roman entwirft, mit der Realität abzugleichen. Dabei ist es doch ziemlich offensichtlich, dass Tartt – sobald der perfide Mordplan an Bunny umgesetzt ist – auch die Dekonstruktion dieser Kulisse vornimmt, die Fehler und die Folgen einer solchen Tat offenbart. Enthüllungen wie Charles‘ Alkoholproblem sind als Demaskierung zu lesen, als klares Statement, dass weder der Geniegedanke funktioniert noch die Beschwörung eines engen Zirkels, den das gemeinsame Verbrechen vereint.

Diese Desillusionierung, die in der Struktur des Romans angelegt ist, wird aber nicht von allen gegenwärtigen Rezipient*innen wahrgenommen. Auf Tiktok kann vor allem Henry Winter, als Mastermind der Gruppe, weibliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er ist ein Mörder und breitet sein extremes Charisma trotzdem auch auf die Leser*innen aus. So wird der weniger charmante Teil seines Charakters überlesen und bewusst ignoriert „because he’s smart and hot.“

 Es ist cool und aufregend und erfüllt natürlich auch ein Bedürfnis danach, anders zu sein, wenn man die vielen Red Flags absichtlich übersieht, die Henry mit sich bringt – es ist ein bisschen gefährlich, Angstlust stellt sich ein, aber auch ein Gefühl von „I can fix him“: „He’s a ten but is a pathological liar, killed his best friend, refused to take the SAT because it didn’t match his aesthetic, performs rituals after murder, didn’t finish high school, plans  to live off his parents money, and speaks 8 languages.“

Vielleicht liegt der Reiz einer solchen Figur auch darin, dass man sich mit ihr einer Fiktion hingeben kann, die gerade deshalb so aufregend ist, weil sie sich unmöglich in die Realität übersetzen lässt. Henry kann sich – ohne jegliche Verpflichtung zu irgendeiner Glaubwürdigkeit – Dinge herausnehmen, die uns als Leser*innen verwehrt bleiben. Kein normaler Mensch kann sich entscheiden, die SATs, also das amerikanische Abituräquivalent, aus „ästhetischen Gründen“ nicht zu schreiben. Henry ist eine fiktionale Figur, auf die sich das Bedürfnis projizieren lässt, frei von schulischen oder notenbedingten Zwängen, vielleicht auch frei von Druck, den andere einem machen und nur durch eigenen Antrieb ein intellektuelles Leben zu führen.

Die snobistische Überheblichkeit, die er, auch im Vergleich zum Rest des Freundeskreises nochmal besonders überhöht, an den Tag legt, erscheint für einen Studenten unplausibel . Der Geniegedanke umfasst dabei nicht nur Henry, sondern auch die Autorin, die ebenso zurückgezogen lebt wie das Griechischseminar: Nur alle zehn Jahre kommt ein neues Buch von ihr, das macht auch sie rätselhaft und geheimnisvoll. Man kann sie idolisieren, weil man ihr gar nicht so nahekommen kann, dass man einen möglichen „fatal flaw“ bemerken müsste.

In dieser Glorifizierung und Ästhetisierung von einer Art kollektiven Fehllektüre zu sprechen,  geht allerdings zu weit. Der Begriff „Fehllektüre“ impliziert ja schon, dass es eine korrekte Lesart geben könnte. Man muss sich aber fragen, ob man Menschen wirklich vorwerfen kann, dass sie falsch lesen. Wäre nicht auch das eine Art der Überheblichkeit, zu sagen, nur ich habe dieses Buch wirklich verstanden? Lesen ist ein individueller Prozess, aber es scheint sich hier doch eine Art kollektiv vorgegebene Lesart abzuzeichnen, wenn man auf die sozialen Medien schaut. Der soziale Einfluss gibt eine Rezeptionshaltung vor, man weiß schon, wie man zu lesen und was man zu erwarten hat. Man findet dort Einschätzungen wie diese: Bunny verdient es zu sterben und Henrys umfassende Bildung ist hot, die ästhetischen Werte sind wichtiger als die moralischen.

Damit wird ein Distinktionsbedürfnis erfüllt, das wiederum FOMO kreiert, die natürlich durch die Perpetuierung in den sozialen Medien noch gesteigert wird. Das Buch nur zu lesen, reicht nicht mehr, die Lektüre muss zu einer immersiven Sinneserfahrung werden, die von Musik, Kleidung und einer unbedingten Orientierung an den Geisteswissenschaften getragen wird. Das zeigt auch der Trend auf TikTok, der unter dem Signum „You forgot your Colleen Hoover book“ firmiert – es werden Bücherstapel gezeigt, die klarmachen sollen, dass die betreffende Person natürlich auf keinen Fall, niemals ein Buch von Colleen Hoover lesen würde, insinuierend, dass das selbstverständlich nicht den eigenen Ansprüchen und dem Niveau genügen würde. Stattdessen werden Tartt, Camus, Dostojewski in die Kamera gehalten, die zeigen sollen: Ich grenze mich vom Lesepöbel ab, ich bin klug genug, den schwierigen Kanon zu lesen, Romance Novels sind unter meiner Würde, ich bin belesen.

„I am nothing in my soul if not obsessive“

Darüber hinaus unterläuft Tartt Genrekonventionen. Ihr Roman widersetzt sich dem klassischen Schema eines Whodunnit. Sex und Mord finden größtenteils außerhalb der erzählten Handlung statt. Wir sind Richards Innenwelt und damit seiner doch eingeschränkten Sicht verpflichtet, die von Anfang an eine Außenseiterperspektive ist. Richard, der aus einer kleinbürgerlichen Familie aus Kalifornien stammt, und der seiner eigenen obsessiv-akademischen Natur gegen den erklärten Widerstand seiner Eltern folgt, stößt im ländlichen Vermont auf einen schon bestehenden Kreis aus Griechischstudierenden. Er wird zunächst widerwillig und auch nur oberflächlich aufgenommen: Die Gruppe verbirgt Geheimnisse und schließt Richard ständig aus. Dem Grund dafür kommen wir nur langsam auf die Spur.

Der Kreis der Fünf ist freundlich, doch ihre Reserviertheit tritt uns auf jeder Seite entgegen. Wir ahnen, zusammen mit Richard, dass etwas nicht stimmt. Dass die faszinierenden Philosophien, die sie mit ihrem Lehrer Julian teilen, nicht nur Gedankenspiele sind. Tartt führt uns in ihrem Roman Schritt für Schritt an die Schattenseiten dieser morbiden Ästhetik heran. Wir haben verstanden, dass der, der sich dem „fatal flaw“, der im Deutschen nicht so ganz treffend mit „Keim des Verderbens“ übersetzt wird, dem „morbiden Verlangen nach dem Pittoresken um jeden Preis“ verschreibt, diesen Weg auch bis zum Ende, bis zum Äußersten gehen muss. So wie Richard. „I am nothing in my soul if not obsessive”, gibt er uns schon von Beginn seiner Geschichte an zu verstehen, ein Satz, der sich in der deutschen Übersetzung so merkwürdigerweise nicht findet.

Die Autorin hat reiche Charaktere geschaffen, jede Figur hat eine eigene Story im Hintergrund, keine ist nur Komparse. Alle, die auftreten, haben eine Aufgabe in der Geschichte, noch die geringste Nebenfigur ist fast physisch greifbar, wie die heimliche Heldin Judy Poovey. Mit ihr zieht Richard einige Lines Kokain auf dem Burger-King-Parkplatz, sie ist die Trailer-Park-Princess, die das Gegenteil zur ätherisch-elitären Camilla darstellt und für ihn das Brückenstück zum restlichen, zumindest ein wenig normaleren College-Leben bildet. Hampden College wird so zu einem lebendigen Paralleluniversum, in dem wir uns verlieren, in dem wir an die Macht von Worten, von Literatur und an ihre berückende Kraft glauben können.

„Weil es gefährlich ist, die Existenz des Irrationalen zu ignorieren“

Wir wissen aber, dass dieses Märchen nicht gut ausgehen kann. Tartt verrät uns alles, was normalerweise die Spannung eines Kriminalromans, eines Whodunnit ausmachen würde. Und genau das ist die Stärke von The Secret History. Die Geschichte lässt sich nicht in ein Genre pressen, sie ist Krimi und Bildungsroman zugleich, enthält Elemente der griechischen Tragödie und der Nietzscheanischen Philosophie. Selten schaffen es Autor*innen, noch dazu mit ihrem Erstlingswerk, so eine eigenständige, wiedererkennbare und doch auch mitreißende Sprache zu entwickeln. Auf den etwa 700 Seiten gibt es auch nach mehrfacher Lektüre immer noch einen perfekten Nebensatz zu entdecken, der sich in neuem Licht offenbart. Vielleicht ist auch das ein Grund, weshalb sich das Buch nun schon dreißig Jahre halten kann.

Da kann die literarische Mode, die sich aus dem Hype spinnt, nur bedingt mithalten. Ein Buch wie If We Were Villains kopiert stumpf die Prämisse der Secret History, ist aber nicht in der Lage, die Rätselhaftigkeit und den sprachlichen und figürlichen Reichtum des ‚Originals‘ nachzuahmen. Dennoch funktioniert der Trend, vor allem für jene Leser*innen, die nach Schemata lesen: Comfort Reader wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie ein Buch kaufen, das als Dark Academia vermarktet wird. Der Buchmarkt freut sich. Ob die Nachahmer mit dem Blueprint in literarischer Hinsicht mithalten oder nicht, ist egal. Wenn es so vermarktet wird und dann auch noch auf einer TikTok-Empfehlungsliste für DA-Bücher auftaucht, wird es gekauft.

Warum hat diese Ästhetik des Gelehrten und gleichzeitig in Abgründe des Moralischen blickenden so viel Identifikationspotential? Und warum vor allem jetzt, wo die Geisteswissenschaften überall wenn nicht zusammengestrichen, so doch finanziell systematisch ausgehungert werden? Wahrscheinlich ist Wissen zum Selbstzweck weiterhin Sehnsuchtsziel – und was eignet sich dafür besser als eine tote Sprache, die dieses hehre Ideal vollumfänglich verkörpert und dem Ganzen eine gute Prise kribbelnder Angstlust hinzufügt? Hampden College ist eine Welt, in der dieser Niedergang zumindest zeitweise aufgehalten wird.

In der Freundesgruppe unterliegt einzig Richard dem neoliberalen Verwertungszwang, später einen ‚sinnvollen‘, das heißt in erster Linie Geld bringenden Job finden zu müssen, alle anderen können sich der Illusion hingeben, dass eine klassische geisteswissenschaftliche Bildung noch etwas zählt. Eine Illusion, der auch ich als Leserin mich nur zu gerne überlassen würde. Auch die Sehnsucht nach Bildung als Weltauslegung, die so nicht mehr vorgesehen ist, dürfte eine Rolle spielen: Eine umfassende (Aus-)bildung im Sinne historischer Bildungsideale ist so nicht mehr möglich, aber Tartt gibt einem den Funken einer Idee, wie es sein könnte.

Dass sich die Diskussion um Dark Academia dabei so sehr an Tartts Debüt aufhängt, liegt daran, dass es zum Kultbuch gediehen ist, das Distinktion und Identifikation verzahnt und auf mehreren Ebenen ermöglicht: Die Charaktere, besonders Francis, sind queer-coded, literaturaffin wie es ihre Leser*innen sind (oder zumindest sein wollen) und modebewusst. Sie tragen hochwertige, maßgeschneiderte Tweed-Anzüge, Bunny macht sich darüber lustig, dass Richards (ungebildete und ärmliche) Mutter wohl Polyester-Hosenanzüge trägt.

Gleichzeitig werden auch das Außenseitertum Richards und die damit verbundene Scham zum identifikatorischen Potential: Er gehört nie so ganz dazu, bekommt die abgelegten Anzüge von Henry und Francis oder kauft im Second-Hand-Shop der Heilsarme. Er traut sich nicht, den Freunden zu erzählen, dass er während der Semesterferien keinen Schlafplatz hat. Lieber erfriert er fast, als zuzugeben, kein Geld zu haben und nicht zu den Eltern zu können, für die er sich schämt. Tartt schafft Prototypen, die in ihrer Übersteigerung klare Orientierungspfeiler ausmachen in Zeiten, in denen vieles unklar, schwammig, orientierunglos erscheint. Dieses Orientierungs- und Weltauslegungsbedürfnis spiegelt sich denn auch in der gesamten Ästhetik wider, die hier bedient wird: Dorische Säulen sind so tradiert, in ihrer Schönheit so zeitlos wie die Nocturnes von Chopin, die Texte von Dostojewski und traditionsreiche Herrenausstatter wie Knize und Brandstetter. Und trotzdem bilden die Grundpfeiler kein strenges Korsett, sondern einen Möglichkeitsraum: Wer Shakespeare, Homer oder die Brontes gut genug kennt, kann sie queeren, kann die eigene Identität vor dieser Folie entfalten.

Das ist eine Entfaltungsoffenheit, die auch den Reiz des Buches ausmacht: Man muss die Desillusionierung der Geschichte nicht mitmachen, es gibt keinen Zwang, alle Stränge aufzuklären, die Rezipient*innen können sich dafür entscheiden, sich der Romantisierung hinzugeben – ob sie nun trägt oder nicht ist egal. Aus den Träumen der Fiktion muss niemand erwachen.

Wer schreibt die DDR? – Zu einer literaturpolitischen Debatte 

von Peter Hintz

Im gegenwärtigen Diskurs um die Erinnerung der DDR-Vergangenheit und die Bedeutung ihrer Nachgeschichte spielen die kulturellen Möglichkeiten literarischer Repräsentation, aber auch politische Ansprüche auf das kulturelle Feld, eine wichtige Rolle. So versuchen etwa ostdeutsche Autor*innen wie Hendrik Bolz oder Daniel Schulz, die im letzten Jahrzehnt der DDR geboren wurden, mit autobiografisch gefärbten Jugendfiktionen kollektive Erinnerungslücken über rechtsradikale Gewalt im Osten der Nachwendezeit zu füllen. Zugleich meinte der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in einem Sachbuch-Bestseller, anhand des angeblich randständigen Status von Schriftsteller*innen aus der DDR eine anhaltende Marginalisierung Ostdeutscher in der Kultur Gesamtdeutschlands nachweisen zu können.

In diesem Jahr waren nun ganze vier Romane auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, die zumindest teilweise in der DDR spielen: Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta), Angelika Klüssendorfs Risse (Piper) und Terézia Moras Muna oder die Hälfte des Lebens (Luchterhand). Hinzu kam außerdem der gerade erschienene Debütroman Gittersee (S. Fischer) von Charlotte Gneuß, dessen Publikationskontext die jüngere Debatte um ost- und westdeutsche Kulturpolitik neuerlich befeuert hat.

Nach eigener Aussage gab der Verlag vor Erscheinen ein Exemplar von Gittersee an den in der DDR aufgewachsenen Schriftsteller Ingo Schulze zur Lektüre, der ebenfalls für S. Fischer schreibt. Laut eines Interviews mit der SZ nahm Schulze dies als Aufforderung, ein “ungeplantes Außenlektorat” am Roman vorzunehmen und erarbeitete eine Liste von 24 Textstellen, die seiner Meinung nach sprachlich oder historisch nicht der Welt der untergegangenen DDR entsprechen würden. So bemängelte Schulze die in Dresden wohl eher weniger verbreiteten Ausdrücke wie “passt schon” und “lecker” oder Anglizismen wie “pink”. Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hatte Gneuß nicht um Korrekturen durch Schulze gebeten und ein Gespräch mit ihr dazu hatte er offenbar abgelehnt.

Es ist wenig überraschend, dass Schulzes Intervention größere mediale Beachtung bis hin zu einem halbwegs erfolgreichen Skandalisierungsversuch fand. Schließlich wurde Schulzes Liste auch der Jury des Deutschen Buchpreises zugespielt, die Gittersee bereits auf die Longlist gesetzt hatte und über die Nominierungen für die Shortlist beriet. Es lag nahe, eine spitzelhafte Beeinflussung der Preisvergabe zu vermuten. Schulze selbst hat die Anschuldigung der Übermittlung seiner Liste an die Jury zurückgewiesen.

Darüber hinaus ließ sich ‘die Liste’ als Stimme einer älteren ostdeutschen Generation interpretieren, die qua ihrer Sozialisation in der DDR gegen jüngere Autor*innen ihre Deutungsmacht behaupten wollte. So hatte Schulze bereits Oschmanns Sachbuch geblurbt und rechtfertigte die Liste nun damit, dass “Jüngere[] vieles nicht aus eigener Erfahrung wissen können”. Zudem verstand er im SZ-Interview Empörung über seine Kritik als Beweis dafür, dass “der Osten” im deutschen Medienbetrieb “hin und wieder unterbelichtet” bleibe. Derartiges Besserwissertum über historische Faktizität mag bei einem Schriftsteller überraschen. Inzwischen hat es sich aber allgemein durchgesetzt, dass an Stelle der altbekannten DDR-Konsumgüternostalgie, den immer gleichen Knusperflocken-Verpackungen und Rotkäppchen-Flaschen, ein bildungsbürgerlicher Gedächtnispalast getreten ist, der kulturelle Eigenheiten des Ostens nicht ohne Stolz betont, selbst wenn er Unfreiheiten und Gewalt zur Kenntnis nimmt.

Was sich ereignet, ist nicht nur eine identitäre West-Ost-Debatte, sondern auch ein schwelender kultureller Konflikt zwischen ostdeutschen Generationen und Eliten, der seit einiger Zeit mit der fragwürdigen Indienstnahme von Rhetorik aus dem Postkolonialismus-Seminar einhergeht: Erklärte Oschmann den Osten zur “westdeutschen Erfindung”, unterstellte das Feuilleton der FAZ nun eine laufende Debatte über die Frage “Darf sie das? Darf eine Autorin, die 1992 in Ludwigsburg zur Welt kam und also nach der Wende tief im Westen sozialisiert wurde und die DDR-Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung kennt – darf sie einen Roman schreiben, der in den Sieb­zigerjahren in Dresden spielt?” Dabei stellte der FAZ-Artikel dann doch klar, dass die Familie von Gneuß aus dem Osten kommt, sie dort auch selbst gelebt hat und Schulzes Anmerkungen sowohl literarisch als auch historisch fragwürdig sind.

Der künstlerisch ausgeklügelte Roman von Charlotte Gneuß liest sich allerdings gar nicht so, als wollte er unmittelbar an dieser erinnerungspolitischen Debatte teilhaben. Statt auf eine autobiografisch legitimierte, kritisch zurückblickende Stimme aus der Gegenwart setzt der Roman auf einen ambivalenten historischen Realismus mit surrealen Zügen, der klare politische Zuordnungen schwierig macht. Gittersee erzählt die Geschichte einer Jugendlichen aus dem sächsischen Arbeitermilieu der 1970er Jahre, die innerhalb des DDR-Systems zwischen Opposition und Nähe zum Staat zerrissen wird.

Die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Karin wächst im Bergbauviertel Gittersee am Rande Dresdens auf. In Gittersee wurde während des Kalten Krieges durch die Aktiengesellschaft Wismut Uranerz für den Bau der sowjetischen Atombombe und später die Nuklearindustrie gewonnen. Ihr Freund Paul muss nicht mehr in die Schule, arbeitet stattdessen im Schacht und will in den Westen. Die Dresdner Kulturbürger, die man hinlänglich von Uwe Tellkamp kennt, tauchen nur ganz kurz auf, als Karin sich daran erinnert, dass ihre Mutter einmal in der Innenstadt zum Feiern war. 

Offenkundig wurde Gneuß durch Werner Bräunigs Roman Rummelplatz inspiriert, der in den 1960er Jahren in der DDR entstand und erst 2007 im Aufbau Verlag vollständig erschienen ist. Auch Bräunigs Buch ist ein Wismut-Roman, der im Uranbergbau im Erzgebirge spielt. Sein ungeschöntes proletarisches Panorama des Ostens in der unmittelbaren Nachkriegszeit stieß auf Ablehnung bei den DDR-Kulturbehörden. “[W]illst Du weiterhin im Schmutz über unsere Bergarbeiter und deren Frauen schreiben wie in ‘Rummelplatz’”, fragte damals das Neue Deutschland.

Das Biermann-Ausbürgerungsjahr 1976, das Gittersee implizit für seine Handlung auswählt, erscheint noch trister als die frühen 1950er, wenngleich auch in diesem Roman soziale Realität nur deshalb so deprimierend wirkt, weil persönliche und ideologische Hoffnungen gegen sie geprüft werden. Ständig wird gekehrt und Räume und Körper werden gesäubert, aber die Unordnung und der Dreck bleiben. Gleich im ersten Kapitel kehrt Paul von einem angeblichen Kletterausflug in der Böhmischen Schweiz an der tschechischen Grenze nicht zurück und die sitzengelassene Karin gerät ins Visier einer Stasi-Untersuchung wegen Republikflucht.

Während es sich auch bei Rummelplatz um einen Entwicklungsroman handelte, ist die weibliche Erzählperspektive in Gittersee deutlich kindlicher. Gesellschaftliche Kontexte tauchen mitunter in Details der Handlung auf, sollen wie das Schicksal von Karin und Paul aber nur nach und nach erschlossen werden. Als mitreißender Kriminalroman verwischt Gittersee so permanent scheinbare Gewissheiten über Schuld und Unschuld. Erst von der Staatssicherheit verhört, erklärt Karin sich trotz Minderjährigkeit dann doch zum Inoffiziellen Mitarbeiter. Im DDR-System der Erzählung wohnt jedem Opfer auch potenzielle Täterschaft inne.

Dabei gelingt es dem Roman allerdings, einzelne Figuren so sympathisch und glaubhaft zu halten, dass Fragen über letztendliche Loyalitäten nicht bloß lange offen bleiben, sondern vor scheinbar unauflösbaren gesellschaftlichen Widersprüchen eigentlich in den Hintergrund treten. Karin schuftet unter der Last, ihre kleine Schwester mehr oder weniger allein erziehen zu müssen. Gleichzeitig ist ihre Mutter aber in der Lage, eine eigene ‘Flucht’ vor der Tristesse ihrer Ehe und der Vorstadtsiedlung zu begehen. Am Gefühl des existenziellen Konflikts, der Kondensierung der Handlung wird der universelle Anspruch der DDR-Jugenderzählung deutlich.

Ironischerweise war es vor einigen Jahren Ingo Schulze selbst, der mit Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer, 2020) einen eigenen doppelbödigen Kriminalroman geschrieben hatte, der Ostdeutsche vor politischen Zuschreibungen in Schutz nehmen sollte. Es scheint so, als wolle auch der Stasi-Krimi von Gneuß sich sowohl von den Dresdner Bürgertumsromanen Tellkamps als auch von den scharf anklagenden ‘Baseballschlägertexten’ anderer jüngerer Schriftsteller*innen abgrenzen. Dazu gehören auch die versichernden Anklänge an ältere Literatur aus der DDR selbst.

Dabei kommt auch das Buch von Gneuß nicht umhin, am Rande die nur mangelhafte Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR zu thematisieren, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wiedererstarkens der Rechten eine große Rolle in der jüngeren Ostliteratur spielt. So erzählt Gittersee anhand der Großmutter der Protagonistin fortwährende NS-Affinitäten in der DDR der 1970er Jahre, die dem antifaschistischen Selbstbild des sozialistischen Staats widersprachen. Zugleich ist diese Großmutterfigur in Gittersee aber auch so gestaltet, dass sie sich im Vergleich zu den anderen Erwachsenenfiguren fürsorglicher verhält. Wiederum wird damit ein fast übervorsichtig wirkendes literarisches Abwägen von historischen Mehrdeutigkeiten offenbar, das am Ende nicht verhindern konnte, dass der Roman trotzdem zum Gegenstand eines übergeordneten kulturpolitischen Konflikts gemacht worden ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Konflikt häufig in und anhand von Texten ausgetragen wird, die Kindheit, Jugend und Familie im Osten thematisieren. Im Bereich des scheinbar Privaten oder Persönlichen treffen eigene Erinnerungen auf neuere kritische Erzählungen ostdeutscher Vergangenheit, die häufig kulturhistorisch oder selbst autobiografisch beeinflusst sind. So werden kritische Fragen über das Verhältnis von autoritärer Erziehung zu rechtsradikaler Gewalt, die etwa Anne Rabes Roman Die Möglichkeit von Glück aufgeworfen hat, damit abgeschmettert, dass es im Westen auch nicht besser gewesen sei.

Die kurz vor der Wende in Brandenburg geborene und in England lehrende Historikerin Katja Hoyer versuchte jüngst, Widersprüche zwischen ostdeutschen Erinnerungen, kritischem öffentlichen Diskurs und Geschichtsschreibung durch eine oral history der DDR aufzulösen. Auf Basis von äußerst selektiven Zeitzeugeninterviews stellte sie die These auf, dass der DDR-Staat eben im Privaten individuelle Freiheit ermöglicht habe. Letztlich lieferte Hoyer damit lediglich eine nicht ausreichend von anderen Quellen und existierender Forschung gedeckte Apologie ostdeutscher Nostalgie, die sich vom Autoritären im Alltag, im Kleinen und Individuellen nicht nur freisprechen will, sondern gerade dort nach kultureller Identität sucht. Impliziert wird damit eine Deutung der Nachwendejahre als Geschichte westlicher Kolonialisierung statt als Fortsetzung ostdeutscher Gewaltgeschichte, Untergang des Ostens statt Rassismus. Für die Leserschaft von Hoyers und Oschmanns Büchern spielt es keine Rolle, dass diese gesellschaftliche Selbsterzählung die realen Erfolge der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die heute im Osten alle Parteien bis zur AfD für sich vereinnahmen wollen, erstaunlich schmälert.


Eine breite Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Gedächtnis steht in Ostdeutschland derzeit also noch aus, zumal auch viele Angehörige der Nachwendegeneration lieber auf die Erzählungen ihrer Eltern hören. Es scheinen aber gerade verschiedene Formen kritisch prüfender literarischer Gegenerinnerung zu sein, die dazu beitragen können, diese Auseinandersetzung zu fördern, indem sie neue Öffentlichkeiten für Verdrängtes schaffen.

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Wettlesen bei Susi’s Backhendlstation – Der Bachmannpreis 2023

von Eva-Sophie Lohmeier

Die Unterkunft lag in einem Dreieck aus Polizei, Laufhaus und Friedhof, und hinter dem Friedhof war Susi’s Backhendlstation, mehr braucht man im Leben und im Sterben nicht. Vielleicht noch die Konditorei unten im Haus. Vielleicht noch den See bei der Hitze im Sommer, aber dann ist wirklich Schluss. Hier könnte man in Ruhe existieren und jeden Tag diese unfassbaren Berge an Backhendl essen, die aufgetischt werden. Danach wahlweise einen monströsen Eisbecher oder einen Zirbenschnaps. So könnte es gehen in Klagenfurt, der kleinen Stadt in Kärnten, die von einem regiert wird, der einmal Jörg Haiders Tennislehrer war. Auch das könnte man herrlich ignorieren, kämen nicht ab und zu Stadtschreiber:innen, die einen in aller Öffentlichkeit daran erinnerten.

Die Stadtschreiber:innen sind ein Kollateralschaden des jährlich ausgetragenen Bachmann-Wettlesens, das offiziell „Tage der deutschsprachigen Literatur“ heißt beziehungsweise „Ingeborg-Bachmann-Preis“ nach dem höchstdotierten der Preise, die stets Ende Juni, Anfang Juli vergeben werden. Daneben gibt es ein ganzes Rahmenprogramm, das etwas despektierlich „Häschenkurs“ genannte Förderstipendium, Lesungen, Konzerte, ein Quiz und einen Empfang beim ehemaligen Tennislehrer, der nun als Bürgermeister arbeitet und sich auch dieses Jahr sehr große Mühe gab, wie jemand zu wirken, dem die schöne Literatur am Herzen liegt. Außerdem kann man in der Stadt kaum einen Schritt tun, ohne versehentlich in einen Autor oder zumindest Verlagsmenschen zu rumpeln. Und dann geht es sofort los: Wie fand man die Rede, wie war der Lesetag, wer war gut, wer weniger, was hat die Jury wieder abgelassen und wer hat es verdient, zu gewinnen? Nicht einmal auf der Buchmesse wird so viel über Literatur und Texte gesprochen, und dort betreibt man einen erheblich höheren Personalaufwand als das kleine ORF-Landesstudio Kärnten mit seiner dauerüberforderten Kantine, der ständig die Semmeln für die Leberkässemmeln ausgehen. 

Alles beginnt also am Mittwoch Abend mit vielen Reden. Diese Reden, wie sie unter anderem in Klagenfurt gehalten werden, beschwören regelmäßig Gründe, die Literatur gegen irgendeinen Feind von außen zu verteidigen. Gern lauert dieser Feind im Internet, er besteht in Schnelllebigkeit, in Geschwätzigkeit, in Seichtheit und Dauerverfügbarkeit. Im Internet ist alles billig und doof, und die Literatur wird diesen Zeitgeisterscheinungen entgegengehalten. Denn man kann, in den unvergessen kryptischen Worten des einstigen Juryvorsitzenden Hubert Winkels, das „Numinose“ nicht einfach so unters Volk schleudern. Und jetzt sollen auch noch KI und ChatGPT Texte produzieren? Da ist es gut, schon einmal prophylaktisch zu dem Schluss zu kommen, dass richtige Literatur natürlich auch dazu wieder ein Gegenentwurf ist und künstliche Intelligenz die menschliche Kreativität nicht ersetzen kann. 

Hätten wir das also schon einmal geklärt. Und sogar schon in der ersten Rede bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur – gehalten von der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard, unterstützt von einem animierten Avatar ihrer selbst. 

Wodurch Literatur aber wirklich gefährdet wird, das erfuhr man erst später. Zum Beispiel von Tanja Maljartschuk, der ukrainischstämmigen Bachmannpreis-Gewinnerin des Jahres 2018, die in ihrer Rede zur Literatur zugab, eine ehemalige Schriftstellerin zu sein, denn ihr versagten die Worte angesichts des Angriffskrieges, unter dem ihr Land und, ganz konkret, ihre Familie leidet. Ein angefangenes Buch über das Schtetl, das sich einst im Dorf ihrer Eltern befand, wird wohl niemals zu Ende geschrieben werden. Gefährdungen anderer Art sprach Jacinta Nandi an, die in diesem Jahr unter den lesenden Autor:innen im Wettbewerb war. Kinderbetreuung für die Beteiligten gebe es keine, und am Ende war die Reise, so berichtet sie auf Instagram, finanziell ein Minusgeschäft. Auch das ist Literaturverhinderung, aber eine, die sich nicht für Eröffnungsreden eignet. Die hat mit diesem Ding namens Alltag zu tun, was sich da draußen abspielt, weit außerhalb des ORF-Gartens, zwischen Laufhaus, Polizei, Friedhof und Susi’s Backhendlstation.

Umso dankbarer war man Insa Wilke, der Jurypräsidentin, der nach der Lesung von Laura Leupi dann doch kurz der Kragen platzte. Leupi las, nein, sie trug vor, und zwar „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Der Text handelt von Gewalt, einem Ich wurde Gewalt angetan, und es setzt sich nun neu zusammen. Wer jedoch dachte, man könne über diesen Vortrag sprechen, der eine Performance war, über die Textstruktur, über Listen als Stilmittel, über Schlagworte und wie sie auf die zarteren, subtileren Teile des Textes wirken, über die Ansprache an das Publikum, dem etwas zu pauschal unterstellt wurde, all das nicht zu kennen, und über die Sprache, die einem bleibt, wenn einem nach einer Vergewaltigung eigentlich eher nach Schreien oder Schweigen zumute ist, der wurde durch die Jurydiskussion eines besseren belehrt. Juror Philipp Tingler war es, der sagte, der Text sei nicht feministisch, der Text betreibe, was er kritisiere, er leide an einem Moralisierungsüberschuss und verwende Sprache totalitär. 

Drunter macht er’s wohl nicht, diese Suada einer gebrochenen Frau verwendet also totalitäre Sprache, und sofort bleiben einem angesichts dieser Geschütze sämtliche Einwände stecken und man seufzt und sieht ein, dass es anscheinend noch immer nicht möglich ist, bestimmte, weiblich besetzte Themen halbwegs sachlich zu verhandeln. Noch immer, so schließlich Insa Wilke, sei die Literaturkritik patriarchal geprägt und es sei schwer, da Durchlässigkeit zu schaffen. Umso dankbarer muss man sein, dass die Jurypräsidentin das sieht und ausspricht, und auch dem Jury-Neuzugang Thomas Strässle, dass er die Qualitäten in diesem Text gesehen und Laura Leupi eingeladen hate. Dennoch, man fühlte sich ungut an die frühen Jahre des Literarischen Quartetts erinnert und an die genervten bis abwehrenden Reaktionen der männlichen Kritiker, sobald ein weiblicher Alltag verhandelt wurde wie etwa in Marlene Streeruwitz’ Roman „Verführungen“, oder gottbewahre, weibliche Körperfunktionen, die nicht dem männlichen Amüsement dienen.

Nicht jeder Text ging in diesen Tagen in Klagenfurt so sehr ans Eingemachte wie der von Leupi, aber vielen merkte man an, dass sie sich an persönlichen Erfahrungen und Biographien entlanghangeln. Jayrôme C. Robinet, eingeladen von Mithu Sanyal, erzählt die Geschichte eines französisch-sizilianischen Mädchens, das zu einem deutschen Mann wurde, eingebettet in eine traumatische und anrührende Familiengeschichte. Er bekam viel Applaus und Zustimmung, am Ende aber keinen Preis. Jacinta Nandi erzählt mit bösem Humor von einer Mutter, die sich einredet, die Beziehung zu ihrem Mann sei keine Gewaltbeziehung. Deniz Utlu und Yevgeniy Breyger hadern mit Vätern mit Schlaganfall, allerdings in sehr unterschiedlichen Stilregistern.

Martin Piekar hadert sehr laut mit seiner polnischen Mutter, und überlässt ihr den zweiten Teil des Textes, in dem sie in ihrem eigentümlichen Deutsch zu Wort kommt. Ein Deutsch, so wird Piekar später in der Pause erklären, das in Millionen Haushalten gesprochen wird und es verdient, endlich Eingang in die Literatur zu finden. Seine Mutter fand es selbst nicht literaturwürdig, obwohl sie immer schrieb. All diese Geschichten handeln von Einwanderung, von Anpassung und Selbstfindung und zeigen, dass dieses Thema noch sehr, sehr lange nicht auserzählt sein wird. Oder, wie Sanyal in der Diskussion zu Robinets Text bemerkte: „Es gibt doch mehr als eine von uns.“ 

Zwei der Siegertexte, der von Valeria Gordeev (Bachmannpreis) und Anna Felnhofer (Deutschlandfunkpreis) berichten in sehr subtiler Weise von Gewalt. Felnhofer, die als Psychologin arbeitet, erzählt von einem Opfer von Schulhof-Mobbing, das sich in seine Rolle zu fügen beginnt, und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Auch Gordeevs Protagonist, der die Zumutungen des Alltags nur im Putzwahn übersteht, weist über seine kleine enge Bakterienwelt hinaus. Bei beiden Lesungen verstummte das Publikum, nur das gelegentliche Geraschel des Seitenblätterns war im Garten unter den Pavillons zu hören und ab und zu das Heulen einer Sirene, weil die Freiwillige Feuerwehr gleich nebenan ist. 

Aber ist ein Text dann ein guter Text, wenn er einen aufwühlt? Mithu Sanyal sprach sich energisch dafür aus. Mara Delius und Philipp Tingler waren die Vertreter der objektiven Kriterien, die sie an einen Text anlegen wollten wie ein Maßband. Insa Wilke wiederum beharrte darauf, dass jeder Text nur aus sich selbst heraus zu beurteilen sei. Leider sprach gegen Tingler und Delius, dass sie die konsequent langweiligsten Autoren eingeladen hatten. Ist Langeweile ein objektiv messbares Kriterium? Sicher nicht, aber irgendetwas in einem anstoßen darf ein Text dann doch, und sei es ein ganz unaufwühlender Denkprozess. Mara Delius lud zum einen Andreas Stichmann ein, der das Publikum mit einem Mann in Midlife-Crisis konfrontierte, der an Nesselsucht leidet und Menschen miteinander verwechselt. Ein „mittelalter Mann mit Männerkrise“, so formulierte es Insa Wilke, die an dieser Stelle noch ein wenig Restmitleid mit dem Patriarchat aufbringen konnte. Mittelprächtig genervt war die Jury bei Delius zweiter Autorin, Anna Gien, und ihrem somnambulen Traumtagebuch einer Erzählerin mit Thomas-Bernhard-Fetisch. Ja, das ist exakt so unangenehm wie es klingt. 

Philipp Tingler hat eine Vorliebe für Gesellschaftsromane, er hat selbst welche geschrieben, und nun lud er zwei Autoren ein, die ungefähr das lieferten. Sophie Klieeisen mit einem Hauptstadtevent im Humboldtforum, in dem neben Polit- und Kulturschickeria auch der leibhaftige Teufel auftritt, wenn man ihn germanistisch zu enträtseln vermochte. Zudem Mario Wurmitzer mit dem jährlichen, obligatorischen Beitrag zur Kritik modernen Dienstleistungswesens, in dem ein Mann in einem Tiny-House-Musterhaus lebt und sich dabei zuschauen lässt, das Modell muss schließlich verkauft werden Das klingt recht witzig, bleibt aber letztlich brav und harmlos. Oder, um ein Reizwort der diesjährigen Debatte einzubringen: konventionell. Darunter allerdings verstand jeder etwas anderes. Geklärt wurde dieser Komplex in diesem Jahr nicht, das wurde vertagt und lieber in der Schlussrunde noch ein wenig ausgekeilt. Weil die Jurysitzungen zur Ermittlung einer Shortlist abgeschafft wurden, finden letzte brachiale Überzeugungsarbeiten nun anscheinend vor den Kameras statt. 

Am Sonntag wurden die Preise vergeben und in allen Nachrichtensendungen vermeldet. Valeria Gordeev und Anna Felnhofer bekamen Preise, dazu Laura Leupi einen und Martin Piekar gleich zwei. Sie packen die Preise ein und verlassen noch am selben Tag die Stadt. Nur der Stadtschreiber darf im Sommer mehrere Monate in der Künstlerwohnung verbringen und daran erinnern, dass die Stadt von Jörg Haiders ehemaligem Tennislehrer regiert wird. Diese Aufgabe fällt im nächsten Jahr Martin Piekar zu. Er ist Lehrer von Beruf, er wird es den Einwohnern sicherlich pädagogisch behutsam beibringen. 

Foto von Eva-Sophie Lohmeier

Zwischen Würdigung, Banalisierung und Identifikation – NS-Opfer auf Instagram

von Antonia Kruse

Viele kleine Sterne, drei Herzen und ein Zitat: „Wie wunderbar ist es, dass niemand auch nur einen Moment zu warten braucht, bevor er beginnt, die Welt zu verbessern.“ Der Account ergänzt die Zitatkachel mit einer kurzen Kontemplation über ein glückliches Leben und heile Herzen. Mit 19 Hashtags findet der Beitrag seinen Weg in Instagrams dichte Bilderwelt, darunter: #erfülltesleben, #liebeliebeliebe, #heilwerden – und #annefrank. Das Zitat stammt aus dem berühmten Tagebuch jenes Mäd­chens, dessen Leben zu einem der bekanntesten Symbole für die Millionen Opfer des Holocaust wurde.

Auf der Weltbühne des Aktivismus

Von Anne Frank ist viel auf Instagram zu lesen. Folgt man dem Hashtag #annefrank, findet man, Stand 9.05.2023, insgesamt 353,035 Beiträge. Eine ver­gleichbare Präsenz, insbesondere auf deutschsprachigen Accounts der Social-Media-Plattform, hat der Name der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl mit 15,489 Beiträgen. Mehr als 300 Beiträge mit dem Hashtag #sophiescholl wurden allein an­lässlich des 80. Jahrestags der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probst am 22. Februar 2023 auf Instagram veröffentlicht. Geschichtsvergessenheit scheint demnach eigentlich kein Thema mehr zu sein.

Angesichts solcher Zahlen feiern Medienwissenschaftler*innen wie Diana Popescu oder Mark Deuze, dass in den sozialen Medien eine neue Form der Teilhabe kultiviert werde, von der auch die Erinnerungskultur profitieren könne: um vernachlässigte Perspektiven sichtbar zu machen und ein vielstimmiges Korrektiv zu den klassischen memory agents wie Journalist*innen, Filmemacher*innen oder Gedenk­stätten zu bilden. Das Anne Frank Haus in Amsterdam findet die Fülle an Reaktionen, die von Anne Frank inspiriert werden, „lehrreich“. Und die Macher*innen des aufsehenerregenden Instagram-Projekts @ichbinSophieScholl sehen in der Plattform gar die neue „Weltbühne des Aktivismus“. Rettet Instagram also unsere Erinnerungskultur?

Zweifel erscheinen angemessen: Es gibt sie zwar – die gut recherchierten und gemäß wissenschaftlicher Standards aufbereiteten Informationen im Kachel-Format Instagrams – Accounts, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Wissen über historische Persönlichkeiten, Prozesse und Zusammenhänge in die sozialen Netzwerke zu übersetzen und dort zu diskutieren. Doch wenn man sich mithilfe der Hashtags #sophiescholl oder #annefrank auf die Suche begibt, fällt auf: Der Großteil der Inhalte gibt lediglich Zitate der beiden Frauen wieder. @mit_petra_neuewegegehen ist nur ein Account von vielen, der Anne Franks und Sophie Scholls Worte nutzt, um sie im Rahmen der Feel-Good-Ästhetik Instagrams zu teilen. Blumen, liebliche Naturbilder, Weichzeichner und Pastellfarben sind das visuelle Umfeld, in dem diese Zitate stehen.

Carpe Diem mit Anne Frank

In den sozialen Medien zählt der Moment, ein Like ist in erster Linie intuitiv und erfordert im besten Fall kein großes Engagement der Nutzer*innen. Wer auf die Beiträge reagieren soll, hat nur begrenzte Aufmerksamkeit – und bekannte Namen helfen. Sophie Scholl und Anne Frank sind fest im deutschen kollektiven Gedächtnis verankert, allein ihre Namen garantieren Assoziationen wie ‚Holocaust-Opfer‘ oder ‚Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus‘. Das erklärt ihren praktischen Nutzen für die sozialen Medien. Die Namen strecken Deutungsschwere und ein Ansehen vor, das die Nutzer*innen nur noch für ihre Anliegen verwerten müssen.

Eine ausführliche Darstellung der konkreten Lebensgeschichte oder gar der Bedingungen der nationalsozialistischen Verbrechen wird durch Entkontextualisierung obsolet gemacht, die Feel-Good-Ästhetik der Beiträge ist ungebrochen. Anne Frank und Sophie Scholl werden der Geschichte enthoben und ihre Selbstzeugnisse in ein Archiv zeitloser Weisheiten in willkürlicher Nachbarschaft zu Zitaten von Winston Churchill, Mahatma Gandhi oder Muhammad Ali überführt. Eine naheliegende Antwort auf die Frage, warum gerade die Worte dieser beiden historischen Frauen so häufig auf Instagram auftauchen, lautet also: der hohe Bekanntheitsgrad Anne Franks und Sophie Scholls und ihre Verankerung im kollektiven Gedächtnis.

Es sind nur eine Handvoll Zitate der beiden Frauen, die in den Beiträgen immer wieder auftauchen. Neben Instagram findet man sie auch auf Sprüche-Seiten wie BrainyQuotes.com oder auf der Online-Pinnwand Pinterest. Die Zitate mögen sich wiederholen, doch die Kontexte, in die sie gesetzt werden, könnten vielfältiger kaum sein. So iso­liert ein Zitat vermittelt wird, so universell und möglichst widerstandsarm kann es vereinnahmt werden. Abstrakte und allgemeine Aussagen von Anne Frank und Sophie Scholl erfreuen sich daher besonders großer Beliebtheit. Fühlen sich viele Nutzer*innen angesprochen, steigt die Chance auf Likes. Erinnerung über Instagram wirkt zwar interaktiv, eine profunde Auseinandersetzung garantiert sie aber noch lange nicht.

Gerne tauchen Zitate von Frank und Scholl in gänzlich entpolitisierten Beiträgen auf, in denen es um ‚Lifestyle-Improvement‘ geht: Ihre Worte werden zur Selbsthilfe, zur Inspiration oder zum „Mutmachen“ bemüht. „Einfach mal zum Nachdenken“ entlässt der Account @highersoulmate ein Zitat Anne Franks in die digi­tale Welt und lädt dazu ein, „deine Selbstheilungskräfte✨“ zu entfalten und „deinen spirituellen Weg“ zu finden. Dieser Feel-Good-Charakter der Beiträge erscheint auf erschütternde Art unangemessen.

Die Beiträge wirken, als wäre ihr makabres Motto: ‚Diese Frauen konnten ihrem ‚Schicksal‘ nicht entrinnen, doch du kannst so viel aus deinem Leben machen – nimm es in die Hand und genieße es!‘ Und optional: ‚Kaufe dafür unser Produkt!‘ Denn natürlich lässt sich auf Instagram mittlerweile fast jeder Inhalt auch zu Geld machen. Kein Anlass scheint zu ernst, um zu einer Werbeanzeige zu werden. So fordert uns Sophie Scholls Ausruf „Schluss. Jetzt werde ich etwas tun!“ zu Weinkonsum und Frauenpower auf. Mit Anne Franks Satz „Papier hat mehr Geduld als Menschen“ wird uns die Verwendung von nachhaltigem Papier nahegelegt. Und dank ihrer Worte „Niemand ist je durch Geben arm geworden“ haben wir die Chance auf ein kostenloses Coaching zur „Förderung meiner Existenzgründungs­beratung“. Sophie Scholl und Anne Frank werden zu kontextoffenen Zitatspenderinnen, die Spuren ihrer Vergangenheit von Selbstdarstellung und Werbung aus dem Bild gedrängt.

Ikonen der Erinnerung

Um zu verstehen, wie Anne Frank und Sophie Scholl zu ihrem Platz im kollektiven Gedächtnis gekommen sind, lohnt sich noch ein kurzer Blick zurück. Der Holocaust-Forscher Oren Baruch Stier geht davon aus, dass das kulturelle Gedächtnis an den Holocaust von mehreren verdichteten symbolischen „Icons“ getragen wird. Als kon­krete Anknüpfungspunkte ermöglichen sie eine erleichterte Annäherung an die Komplexität der Vergangenheit, insbesondere an die Unvorstellbarkeit des Holocausts.

Fotografien, Statistiken, Relikte und eben auch Personen können diese Funktion einnehmen – sie sind prägnant, zugänglich und nicht überwältigend. Gleichzeitig stehen sie sinnbildlich für eine komplexere Konstellation von Ereignissen und Erzählungen. Wie etwa die Aussage der Widerstandskämpferin: „Steh zu den Dingen, an die du glaubst. Auch wenn du alleine dort stehst“, oder die Worte der im Versteck lebenden Jüdin: „Rad fahren, tanzen, in die Welt schauen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin, danach sehne ich mich.“ Für Baruch Stier bietet sich gerade Anne Frank als eine solche Ikone an: Ihre Erfahrung in der Zeit des Holocausts ist persönlich in ihrem Tagebuch vermittelt, der Einblick in ihr alltägliches Leben besonders nahbar für die Lesenden. Eine Möglichkeit, „das Fremde näher zu rücken“, wie der Historiker Wolfgang Hardtwig die Personalisierung von Geschichtsdarstellung nennt.

Das Fremde kann aber auch umso leichter zum Eigenen gemacht werden. Die geteilten Zitate von Anne Frank und Sophie Scholl nehmen höchstens Bezug auf einzelne Aspekte ihrer facettenreichen Persönlichkeiten. Sophie Scholl gilt als Antikriegsaktivistin und Verfechterin von Meinungsfreiheit, Anne Frank inspiriert als frühreifer Geist, als Tagebuchschreiberin oder als Optimistin. Wahlweise werden beide als Feministinnen bezeichnet. Das Problem dabei: Wo solcherlei Details hervorgehoben werden, werden andere Aspekte zwangsweise vernachlässigt. Diese hohe Selektivität ist für sich genommen schon ein Element der Fiktionalisierung, weiter verzerrt durch Perspektiven der Gegenwart.

Jana kommt nicht nur aus Kassel

Gerade aktuelle politische Zuschreibungen stecken den Deutungsrahmens der Zitate neu ab. Besonders deutlich lässt sich das an Jahrestagen beobachten: Anlässlich der Hinrichtung Sophie Scholls vor 80 Jahren wird ihr Widerstand von verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen unterschiedlich ausgedeutet: Die SPD München betont Scholls „Kampf gegen den Faschismus“, während die Allgemeine Deutsche Burschenschaft das „bürgerlich-studentische[] Umfeld“ des Widerstands hervorhebt und Scholls „christlichen Glauben“ und „ihre Aufopferungsbereitschaft“ in Erinnerung hält. Die AfD Hochsauerlandkreis nimmt ein – Sophie Scholl fälschlicherweise zugeschriebenes – Zitat zum Anlass, um klarzustellen: „Der wichtigste Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur kam nicht von der politischen Linken, wie man uns heute glauben machen will. […] [D]ie ‚Weiße Rose‘ um die Geschwister Scholl war vor allem konservativ-patriotisch geprägt.“

Die Feel-Good-Beiträge auf Instagram mochten noch für eine Banalisierung stehen, die man je nach Kontext als geschichtsvergessen oder harmlos abtun könnte, um dann zum nächsten Beitrag zu scrollen. Die politische Vereinnahmung hingegen benutzt die Zitate Anne Franks und Sophie Scholls nicht nur wegen des Prestiges. Sie dienen einer moralischen Legitimation, wie Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, sagt. Die Nutzer*innen stärken die Aussagekraft ihrer Beiträge einmal mehr durch die erinnerungspolitischen Ikonen Frank und Scholl.

Ihren traurigen Höhepunkt erreichte diese Instrumentalisierung in der Hochphase der Corona-Leugnung. Besonders das Andenken an Sophie Scholl wurde dem Zweck geopfert, auf der richtigen Seite im beschworenen politischen Gefecht zu stehen. Jana aus Kassel und ihr berühmter Sophie-Scholl-Vergleich bei einer Demonstration gegen die Corona-Politik der Bundesregierung ist nur ein Beispiel von vielen.

Accounts, die sich dem rechtskonservativen und rechtsradikalen Lager zuordnen lassen, bestehen auf einer Gleichsetzung der NS-Diktatur mit aktuellen politischen Verhältnissen in Deutschland, mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie oder dem Umgang der Bundesrepublik mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Hashtags lenken die Ausdeutung der Zitate grundlegend wie etwa #damalswieheute, #wirlassenunsnichterpressen, #ichmachdanichtmit, #denktdrandenktselbst, #ihrseitdasproblem (sic), #selbstdenkend oder #mitdenkenstattmitlaufen. Diese Geschichtsklitterung zeigt eine Kehrseite der neuen Niederschwelligkeit im Erinnerungsdiskurs: Vielstimmigkeit oder hohe Reichweite sind kein Garant für Expertise oder Redlichkeit.

Opfernarration und Überidentifikation

Aber warum sind es immer wieder Sophie Scholl und Anne Frank, die zitiert werden? Was bedeutet es, dass gerade diese spezifischen Stimmen aus dem Widerstand und dem jüdischen Opferkreis, verglichen mit anderen historischen Personen aus der NS-Zeit, so präsent sind? Und auf wessen Kosten geht die große Sichtbarkeit dieser Inhalte?

Zum einen sind ihre Geschichten anschlussfähig: Der Widerstand der Weißen Rose ist nicht an eine religiöse oder politische Gruppierung gebunden. Genauso wenig wie Anne Frank einer konkreten politischen Ideologie anhing. Das erleichtert die Vereinnahmung ohne große Gesinnungshürden. Und die Gleichsetzung von Vergangenheit und Gegenwart geht umso nahtloser mit einer Entwicklung einher, die maßgeblich die neuen Akteur*innen des Erinnerungsdiskurses selbst betrifft: die Identifikation. Nach der Art: ‚Wie Sophie Scholl oder Anne Frank in der Vergangenheit Opfer des Systems wurden, bin ich heute Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse.‘ Welche auch immer das sein mögen.

Doch es ist nicht nur der Opferstatus, den sich die Nutzer*innen damit selbst zuschreiben, es ist die Rolle der Heldin, der mutigen Widerstandskämpferin, der Trägerin des guten Gewissens im Kampf gegen das Böse, die sie in grotesker Selbstverherrlichung einnehmen. Hier ist bereits der Punkt überschritten, an dem die sozialen Medien als alltagsnahe Plattform eine Brücke schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, an dem die historischen Personen als Anknüpfungspunkte der Anteilnahme dienen. Wenn Menschen sich als Sophie Scholl inszenieren oder die Perspektive Anne Franks vereinnahmen, ist Empathie zur Selbstidentifikation geworden.

Diesen Eindruck bestätigen auch die Zahlen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, das seit 2018 die MEMO-Studie, den Multidimensionalen Erinnerungsmonitor, veröffentlicht: Im Jahr 2020 waren insgesamt 68 Prozent der befragten Deutschen der Meinung, dass ihre Vorfahren im Nationalsozialismus potenziellen Opfern geholfen haben oder selbst Opfer waren. Nur etwa jede fünfte befragte Person wusste hingegen von Täter*innen in der eigenen Familie zu berichten. Die Selbstwahrnehmung als Täter*innenvolk ist lange nicht so attraktiv wie das Narrativ eines eigenen Opferseins – eine Sprechposition, die der Großteil deutscher Biografien nicht hergibt. Für den aber Instagram die geeignete Plattform bietet: Mühelos lässt das Ideal authentischer Subjektivität das Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen verschwimmen.

Die Präsenz der beiden Frauen in den sozialen Medien garantiert keineswegs eine Sensibilisierung für historische Prozesse oder die Übernahme von Verantwortung. In ihrer Verflachung und Verzerrung dienen die kontextbefreiten Zitate vor allem der Entlastung der Täter*innen und ihrer Nachfahren. Sie kommen symbolischen Gesten gleich, die von der eigentlichen Auseinandersetzung befreien: der Beschäftigung mit den Täterstrukturen und der eigenen Gewaltgeschichte. Damit nehmen sie eine Rolle im „Versöhnungstheater“ ein, das Max Czollek in seinem gleichnamigen Essayband darlegt: „[E]s erzeugt das Bild einer mit den Juden und damit sich selbst versöhnten Gesellschaft, die nun […] eintreten kann in einen Prozess der Normalisierung.“ So besiegelt das Liken und Teilen die Wiedergutwerdung der Deutschen auch im digitalen Raum.

Foto von Alexander Shatov auf Unsplash

Formsache – Philip Saß’ virtuoser Gedichtband

von Moritz Hürtgen

Die Behauptung, dass in der gesamten DACH-Region kein Mensch mehr Lyrik schreibt, die sich reimt und ein Versmaß einhält, ist gewiss weit hergeholt, aber so unheimlich weit nun auch wieder nicht. Das klassische Formgedicht ist heute ungefähr so angesagt wie Dieselautos. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Sonett an unseren Woke-Universitäten verboten … – lieber noch mal von vorne:

Das klassische Formgedicht ist heute eher ein Nischenphänomen. Das komische klassische Formgedicht verkörpert, weil Büttenreden von Marie-Agnes Strack-Zimmermann nicht gewertet werden, die absolute Nische. Zeitschriften wie das Titanic-Magazin oder unabhängige Verlage wie Kunstmann räumen ihm ehrenwerter Weise Plätze ein, obwohl sie damit tiefrote Zahlen schreiben. Aber Tradition verpflichtet: Dichter wie F.W. Bernstein oder Robert Gernhardt (beide tot) aus der Neuen Frankfurter Schule haben Nachfolger wie Thomas Gsella oder Fritz Eckenga (beide mehr oder weniger lebendig) inspiriert und schließlich auch den jungen Mann aus Norddeutschland, von dessen erstem Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ (container press) hier gesungen werden soll: Philip Saß.

Saß ist zwar Debütant, aber bei den genannten Institutionen kein Unbekannter. Die Titanic-Redaktion schätzt ihn seit Jahren als hervorragenden Beiträger, bei Kunstmann machte er anderen Dichter:innen das Leben schwer, indem er neben ihnen in einer Anthologie glänzte. Und nun aber schnell dahin, wo es nicht nur glänzt, sondern auch schillert; nämlich in Saß’ Gedichtband.

Die Heide ist recht reich an Raum

(meist nutzt man ihn zum Wandern),

doch abgesehn von manchem Baum

arg arm an allem andern.

Alle Achtung, atemberaubende A-Alliteration! So schonungslos kritisiert Saß jedenfalls seinen Urlaub in der Lüneburger Heide. In zwei weiteren Strophen führt er seinen Heidenhass noch aus, aber man kann schon an dieser einen erkennen, dass sich hier einer in der Form zuhause fühlt. Die Kunst, so ins Formkorsett zu dichten, dass es kaum auffällt – Saß beherrscht sie. Da wird nicht krampfhaft im Satzgefüge umgestellt, damit es passt, es fließt einfach alles. Und wenn getrickst wird, dann richtig:

Der Wind weht sacht,

ja: lind. Und in d-

er Ferne lacht

ein Kind.

So einen Zeilenumbruch wie im „Depressiven Morgenlied“ muss man erst einmal hinbekommen. Aber das macht die komische Lyrik eben aus: Es ist nach Gernhardt für sich gesehen schon albern, sich an Jahrtausende alte Formen zu halten, ein bisschen Witz bekomme man als Dichter dadurch einfach so geschenkt. Und wer die Form blind beherrscht, kann anfangen zu spielen, um das Vergnügen noch zu steigern. Saß lässt in „Abschaffung der Schwerkraft“ kaum eine Gelegenheit dazu aus.

Besonders sticht der Band durch die Formenvielfalt hervor. Da gibt es nicht nur ein paar Sonette und ABAB-Hits zum Mitschunkeln. Nein, Saß hat wahrscheinlich in alten englischen Folianten und weiß Gott wo ausgefallene Gedichtformen ausfindig gemacht und füllt die Gefäße mit seinen Ergüssen. Ein Geheimnis macht er aus seiner Methode nicht:


Find ein Versmaß und bespiel es (aber kein zu diffiziles),
und wenn dir keins einfällt: Stiehl es!

So empfiehlt es Saß in „Rat“, das sich im Abschnitt „Kunst“, dem dritten des Bandes, findet, die anderen beiden Kapitel heißen „Gunst“ und „Dunst“. Schön, dass auch hier auf den Reim geachtet wurde. Leider geht es im etwas langen Kunstteil des Buches in zu vielen Versen ums Dichten selbst. Schön wäre: ein bisschen weniger Metaware. Nicht ganz so viel von Nabelschau, dafür noch was zu Kabeljau. Denn wer Saß‘ „Lob des Rosenkohls“ liest, bekommt Appetit auf mehr:

Der Käfer frisst am liebsten Mist,

   weil ihn sein Duft betörte,

und der Gourmet genießt Filet,

   das einem Reh gehörte.

Mir dünkt derlei Vergnügen hohl,

ich brauche nichts als Rosenkohl.

[…]

Ich wiederhol: O Rosenkohl,

   ich mag nichts anderes kochen;

statt Karfiol und Sanostol

   verzehr ich schon seit Wochen

nur Rosenkohl, nur RO-SEN-KOHL!

(Ich höre auf, mir ist nicht wohl.)

Der Streit darüber, ob Rosenkohl genießbar sei, brachte in den letzten Jahren vor allem auf Twitter bereits zahlreiche Späße hervor. Sogar bedeutende zeitgenössische Schriftsteller positionierten sich zum meistgememeten Gemüse. Saß aber geht weiter und hebt das profane Für und Wider Rosenkohl in eine beinahe schon göttliche Form, die Trost und Segen spendet. Auch das lässt sich in die Tradition der Neuen Frankfurter Schule einordnen, wenn man sich an Eckhard Henscheids kunstvolle Romane erinnert, in denen Schnapsgetränken wie dem Sechsämtertropfen Hunderte Seiten gewidmet wurden.

Nicht Wunder nimmt es da auch, dass einige Gedichte regelrecht und im besten Sinne satirisch daherkommen. Das Sonett „Tellkamps Lied“ sei hier – der Verlag wird es bestimmt erlauben, weil es beste Werbung für das Buch ist – vollständig zitiert:

Der Dichter gilt nichts mehr in deutschen Landen.

Man blickt auf ihn, als schriee er in Brunft:

Einst habt ihr treu vor meinem Turm gestanden,

jetzt macht ihr ihn zur Flüchtlingsunterkunft.

Wann kam der Sinn fürs Schöne euch abhanden?

Woher der Hass auf meine rechte Zunft?

Los, liebt doch mich und nicht den Muselmann, denn

allein aus mir spricht die Vernunft. –

Doch ihr in den Gesinnungskorridoren

begehrt, ein weises Maul wie meins sei stumm!

Statt Statuen für mich wird Minarett

um Minarett gebaut … Ich hab verloren

und nun nicht einmal mehr ein Publikum

(nur Nazis, Suhrkamp und die FAZ).

Besser geht es nun wirklich nicht, und es sind nicht die einzigen Strophen in diesem Band, die in Perfektion verfasst sind. Ganz egal, ob Saß die Grabrede auf einen Querdenker vorlegt oder ob er über Liebe, Ufos, Skispringer oder Jump ’n’ Runs dichtet. Zur Vielfalt in der Form kommt bei ihm die thematische, sodass man sich fragt, warum Saß bisher zwar Publikums- und Jurypreis des (fantastischen!) Großer-Dinggang-Lyrikwettbewerbs in Menden (Sauerland) gewonnen hat, noch nicht aber alle hochdotierten Preise der DACH-Region. Das kann, das muss jetzt kommen.

Denn dank Philip Saß funkelt es mystisch in der Nische für komische Lyrik. Sein Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ ist ein sagenhaftes Werk, das zudem noch einlöst, was der Titel verspricht. Die strenge Form hat Gewicht, und vielen Dichter:innen gelingt es nicht, dieses aufzuheben. Die Eleganz und Leichtigkeit der Saßschen Verse aber bringt die Form federleicht zum Schweben.

Philip Saß: Abschaffung der Schwerkraft. Container press, 2023. 140 Seiten, 12 Euro.


Foto von Anastasiia Kamil auf Unsplash

Kritik und Künstlerscheiße – Notizen zum Hundekot-Eklat

von Johannes Franzen

1.

Da hat man wahrscheinlich etwas mit Medien oder ein kulturwissenschaftliches Fach studiert. Da hat man Praktika gemacht und schließlich einen begehrten Job bei einem sehr seriösen Kulturmagazin auf 3sat ergattert. Und dann muss man plötzlich für einen Beitrag über Tanztheater einen Haufen Hundekot besorgen oder etwas, das einen Haufen Hundekot simuliert, der mit einer Tüte von der Straße aufgeklaubt wird. Dann wiederum habe ich auch mehrere Geisteswissenschaften studiert, wurde promoviert und habe veröffentlicht – und werde nun qua Profession gezwungen, über Hundekot zu schreiben. So sind wir alle Verlierer in diesem Spiel, das wir Diskurs nennen. 

2.

Soviel vorweg: Den Hund trifft keine Schuld. Er ist ein unschuldiger Kerl und hätte niemals in diese schlimme Sache hineingezogen werden dürfen.

3. 

Kritiker*innen sind schon immer ein Feindbild gewesen. Sie stellen eine (oft selbsternannte) Elite der ästhetischen Gesetzgeber dar, die anderen Menschen den Spaß verderben. A.O. Scott, der ehemalige Cheffilmkritiker der New York Times schreibt in seinem Buch Better Living Through Criticism: „Jeder Kritiker gewöhnt sich daran, mit Skepsis und Misstrauen und manchmal auch mit offener Verachtung umzugehen. Wie können Sie es wagen! Was gibt Ihnen das Recht dazu? Warum sollte jemand Ihnen zuhören?”

4. 

“Der Ballettchef der Staatsoper Hannover, Marco Goecke, hat bei einer Premiere die Kritikerin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Wiebke Hüster, mit Hundekot beschmiert.” (Tagesspiegel) “Nach der Hundekot-Attacke: Marco Goecke zeigt zunächst weder Reue noch Einsicht und lässt nun doch noch eine schriftliche Entschuldigung folgen.” (NZZ) “Als Ballettdirektor der Staatsoper Hannover hat Marco Goecke nach seiner Hundekot-Attacke auf Journalistin Wiebke Hüster inzwischen seinen Hut genommen.” (SZ)

5. 

Um den Status, den Kunst und das Künstlerische in unserer Gesellschaft einnehmen, einzuschätzen, kann man ein einfaches Gedankenexperiment machen. Was, wenn der Mann, der hier eine Frau mit Hundekot attackiert hat, kein gefeierter Ballettdirektor gewesen wäre, sondern ein wahlloser Wirrkopf? Allein der Status des Attackierers macht aus einer misogynen Straftat eine Performance, über die auch viel geschmunzelt wurde. 

6. 

Kunstskandale laden Transgressionen mit Bedeutung auf, geben einfachen Schweinereien das Prestige eines ästhetischen Ereignisses. Davon hat die moderne Kunst lange einträglich gelebt. Von Duchamps Fontaine bis zu Manzonis Merda d’artista hatte diese Form der Provokation oft auch direkt mit Fäkalien zu tun, die man in die Institutionen der Kunst schmiert, um die Kunst herauszufordern. Ob das die Kunst vorangebracht hat, ist schwer zu sagen, aber für die Rolle des Künstlers als privilegierter Rebell waren diese Aktionen konstitutiv.

7.

Die Kacke des Künstlers ist etwas besonderes. Sie scheint ästhetisch aufgeladen und entzieht sich der kleinbürgerlichen Moral. Es handelt sich um autonome Scheiße.

8. 

Über 100 Jahre nach Duchamp immer noch der gleiche Witz. Ist den Leuten nicht langweilig?

9. 

“Goecke beschreibt den Anschlag im NDR als Reaktion auf jahrelange Verletzungen durch die Kritikerin: ‘Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen’, sagt Goecke. ‘Wie würden andere Menschen, die hart arbeiten, damit umgehen, wenn sie so mit Schmutz beworfen werden würden?’, fragt er in dem Beitrag rhetorisch – um dann selbst zu antworten: ‘Kein hart arbeitender Mensch würde sich das auf Dauer gefallen lassen.’” (Spiegel)

10.

In seinem Buch Feindbild werden beschreibt der Kunstwissenschafler Wolfgang Ullrich, wie der Maler Neo Rauch als Reaktion auf einen kritischen Artikel ein Bild mit dem Titel „Der Anbräuner“ gemalt hatte, in der eine Figur ein Bild mit Scheiße malt. Ullrich entwickelt aus diesem Ereignis eine Konfliktgeschichte des Autonomieparadigmas in der Gegenwart, das dazu verwendet wird einen reaktionäres Geniemythos zu legitimieren.

11.

Es ist beeindruckend, wie beflissen die Medien die Genieästhetik Goeckes reproduzieren. In einem Interview mit dem NDR darf er im Wald sitzend mit einer dunklen Sonnenbrille den wilden Künstler spielen. Die Thomas-Bernhard-Imitatio ist frappierend. Aber ohne Thomas Bernhard kein Marco Goecke. Der Autor ist die Blaupause für Generationen von männlichen Künstlern und Intellektuellen, die gerne wilde Burschen sein, aber trotzdem eine Karriere haben wollen.

12.

“Sie könne den Ballettchef aus Hannover verstehen, der eine Kritikerin mit Hundekot attackiert hat, sagt die nun 80-jährige Schriftstellerin und Moderatorin Elke Heidenreich. Das Mittel sei nicht richtig, aber viele Kritiker seien hochmütig.” (Deutschlandfunk)

13.

Die Autorin Sibylle Berg schreibt auf Twitter: “#hundekot Das ist kein Angriff auf die Pressefreiheit. überragende Künstler sind Ausnahmemenschen, sie dürfen nicht alles aber-shit happens. #MarcoGoecke  ist einer der überragenden Künstler in D- ihn zu verlieren wäre ein riesiger Verlust- macht ne Therapie,gebt euch die Hand.”

14.

Hier ist dann alles beisammen: Der Künstler ist ein Ausnahmemensch, dessen überragendes Talent sein anti-soziales Verhalten legitimiert. Der Status verleiht Lizenzen, die sein Verhalten den ethischen Anforderungen, die für den Rest der Gesellschaft gelten, entziehen. Einen solchen Künstler “darf man nicht verlieren”, dafür muss man schon einmal über eine Tat hinwegsehen, die in so gut wie jedem anderen Kontext streng verurteilt worden wäre. In diesem Fall wird sie mit einem amüsierten “shit happens” weggewischt. (Inzwischen hat Berg diese Äußerungen in einem Interview zurückgefahren.)

15. 

Die Anschauung vom “außerordentlichen Rang der Dichtkunst”, schreibt Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens, habe sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet. In dieser Zeit erhielt der Dichter die Würde eines mit “höchster Autorität auftretenden Schöpfers.”

16. 

Die Autonomie der Künstlerscheiße ist ein wichtiger Identifikationspunkt für die bürgerliche ästhetische Theorie der Moderne.

17.

Es ist doch erstaunlich, wie sehr der moderne Geniemythos wie eine Verkleidung wirkt, die man sich von der Stange nehmen kann. Die Scharlatane aus dem Tech-Sektor übernahmen einfach die Rollkragenpullover und die visionäre Rhetorik eines Steve Jobs. Goecke hat seine Sonnenbrille, seinen Mantel und seinen Dackel. 

18. 

Les Poètes maudits nannte Paul Verlaine sein Buch von 1884, in dem er eine Generation junger Dichter heroisierte, die sich in Text und Leben gegen die Gesellschaft stellten. Was diese verfemten Dichter von ihren Erben in der Gegenwart unterscheidet, ist, dass sie auch Kosten für ihr anti-bürgerliches Verhalten tragen mussten. Seitdem hat sich das Rollenmuster des verfemten Künstlers aber institutionalisiert. 

19. 

 „Das ist die Paradoxie. Dass wir uns bezahlen lassen von den Mächtigen, um sie anzugreifen.“ (Claus Peymann 2022)

20.

Das Bürgertum leistet (hält?) sich den Bürgerschreck als Ablass. Seht her, wir finanzieren die Kritik unserer Herrschaft, wir lassen uns ein paar mal im Jahr auf den Edelbühnen des Landes anschreien. Dann trinken wir Sekt im Foyer.

21.

“Ja, ich habe gebrüllt. Aber nur in größter Not, in schwachen Momenten, wenn ich nicht mehr weiterwusste. Ich brülle aus Liebe! Zu einer Liebesbeziehung gehört die Auseinandersetzung. Das Leben ist nicht harmlos, es ist Blut und Schrecken. Warum soll ausgerechnet das Theater ein Platz der Seligen sein?” (Claus Peymann 2022)

22.

Wer mit Menschen redet, die am Theater arbeiten oder gearbeitet haben, hört viele Anekdoten von übergriffigem, gewalttätigem Verhalten, das sich grundsätzlich aus einer vagen Kunst- und Genieideologie legitimiert. Die Vorstellung, dass große Künstler*innen, zumeist Regisseur*innen oder Intendant*innen, an einer Extremsituation partizipieren, die ein berserkerhaftes Verhalten nicht nur rechtfertigt, sondern sogar einfordert, gehört zum festen Haushalt der institutionellen Selbsterzählungen. 

23. 

„Nichts ist leichter, als eine Grenzüberschreitung zu verzeihen, die einem anderen zugefügt wurde.“ (Mithu Sanyal)

24.

Der Genie-Mythos scheint eine entlastende Funktion zu haben. Es ist schwer und oft trostlos, sich an die gesellschaftlichen Regeln halten zu müssen, es erfordert viel Energie. Eine Sozialfigur wie das moderne Künstlergenie schafft da zumindest imaginäre Erleichterung. In der Figur kompensiert man die drückende Last der Zivilisation, das ständige Gutseinmüssen. Wer würde nicht gerne einmal seinen Feinden Scheiße ins Gesichts schmieren? Aber das geht natürlich nicht – außer man ist Künstler, dann wird eine solche Tat legitimiert oder es gibt zumindest eine ‘Debatte’. 

25.

Die Sozialfigur des wilden Künstlers lindert das Unbehagen in der Kultur.

26.

Menschen interessieren sich immer mehr für Künstler und immer weniger für Kunst.

27.

Goethes Jugendgedicht “Rezensent” wird oft zitiert, vor allem der letzte Vers: “Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.” Menschen finden das lustig. So wie das Genie sich der moralischen Verantwortung für seine Taten zu entziehen scheint, so gelten auch für das Verhalten der Kritik gegenüber offenbar andere Regeln. Die Verachtung von Kritiker*innen besitzt eine gewisse kulturelle Anerkennung. 

28.

Die Kritiker*in steht unbehaglich zwischen Künstler*in und Fan.

29.

Als Reaktion auf eine schlechte Rezension des Films The Avengers twittert Samuel L. Jackson an seine Follower unter dem Hashtag #Avengersfans: „AO Scott needs a new job! Let’s help him find one! One he can ACTUALLY do!” Als Reaktion auf eine unbeeindruckte Rezension ihres neuen Albums twitterte Lizzo an ihre Follower: „PEOPLE WHO ‘REVIEW’ ALBUMS AND DONT MAKE MUSIC THEMSELVES SHOULD BE UNEMPLOYED.“

30.

“Bloß wirkt das Stück so, als wären dem hinter der Scheibe sitzenden Meeresbeobachter die Trolle durch seine Aufzeichnungen geritten und hätten Goecke die zerfetzten Fragmente hinterlassen mit der Drohung, sie ja nicht sinnvoll in eine Reihenfolge zu bringen. Man wird beim Zuschauen abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht. Dazwischen kommen ab und an zwei genialische, stimmige Minuten. Das Stück ist wie ein Radio, das den Sender nicht richtig eingestellt kriegt. Es ist eine Blamage und eine Frechheit, und beides muss man dem Choreographen umso mehr anlasten, als Virtuosität und Präsenz der Tänzer des Nederlands Dans Theater nach mehr verlangen.” (Wiebke Hüster in der FAZ)

31.

“Der moderne Kritiker vertauscht das überparteiliche Mandat des Richters gegen eine engagierte Doppelrolle: er ist zugleich Verteidiger (des zu unrecht verkannten Künstlers) und Ankläger (gegen das ignorante Publikum).” (Christian Demand: Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte)

32.

Die Moderne hat die Kritiker als eine Art Komplizen der Kunst etabliert. Die schwere, komplexe, provokative Kunst steht immer unter Druck. Spießer und Philister wollen ihr an den Kragen, wollen verbieten, einschränken, den Kulturhaushalt kürzen. Dagegen müssen Kunst und Kritik eine gemeinsame Front bilden.

33.

Seit die Medienkonkurrenz immer stärker die Institutionen der Hochkultur bedroht, hat sich die Kunst selbst unter Artenschutz gestellt. Jede harsche Kritik ist damit nicht nur ein Angriff auf ein bestimmtes Kunstwerk, sondern auf die Kunst selbst.

34.

Die öffentliche Antwort auf Kritik, schreibt Gérard Genette in Paratexte, sei eine “heikle und im Prinzip verbotene” Übung. “Der Grund des Verbots ist wohlbekannt: Die Kritik ist nämlich frei, und ein von ihr schlecht (oder gut) behandelter Autor wäre schlecht (oder zu gut) angeschrieben, falls er sich gegen Tadel zur Wehr setzte oder für Lob dankte, die beide gleichermaßen einem freien Urteil entspringen.”

35.

Im besten Fall sollte die Künstler*in an der kritischen Kommunikation über ihr Werk gar nicht beteiligt sein. Hier geht es um den Austausch zwischen Kritik und Publikum. Das Publikum möchte wissen, ist das gut, soll ich meine Zeit investieren und die Kritik gibt Auskunft. Aber natürlich ist es unerträglich, dabei zuschauen zu müssen, wie sich Menschen öffentlich darüber austauschen, ob du es gebracht hast oder nicht. Man muss sich nur vorstellen, dass man am gleichen Tisch sitzt wie eine Gruppe von Menschen, die heftig über dich lästern. Und du darfst nichts darüber sagen. (Beim Bachmannpreis ist diese Erfahrung sogar institutionalisiert).

36.

Eine Künstler*in, deren Werk man schlecht besprochen hat, wird danach kein Bier mehr mit dir trinken wollen. Und das ist auch ok. Das Problem ist aber, dass man am Ende mit einem Bier in der Hand auf den selben Partys steht. 

37.

Wie frei ist die Kritik? Als freie Autor:in bekommt man bei den großen Zeitungen in Deutschland heute für eine Kritik von 9.000 Zeichen manchmal 90, manchmal 130, manchmal 300, manchmal 350 Euro. 

38.

Feindschaften muss man sich leisten können.

39.

Muss es einen Ort für den Zorn der Künstler*in über eine schlechte Rezension geben? Wenn ja, wo wäre das?

40.

Bis in die 1970er Jahre hinein waren die Rezensionen im Times Literary Supplement anonym. Das galt auch für Autor*innen wie T.S. Eliot oder Virginia Woolf.

41.

Wer ab jetzt über eine Aufführung von Marco Goecke berichtet, egal in welcher Form, der verrät die Kritik als Profession. Eine Kunst, die sich der Kritik auf diese brutale Art verweigert, hat das Recht verwirkt, kritisiert zu werden.

42.

Aber jetzt reden wir über Hundekot und was vom Künstler übrig blieb. Wenige Menschen interessieren sich für Tanztheater, aber viele interessieren sich für scheißewerfende Genies. Wir unterhalten uns angeregt über Serien, Filme, Spiele, können intelligent und mit Wärme über die Vor- und Nachteile der ästhetischen Artefakte sprechen, die wir in unserer Freizeit konsumieren – aber der Diskurs über Hochkultur findet inzwischen vor allem im höheren Lästern über den Skandal statt. Kunst mit einem großen K braucht die Kontroverse, um überhaupt noch ein Gesprächsgegenstand zu sein.

43.

Es gibt inzwischen viele gute Gründe, den Begriff der “Kunst” durch “Content” zu ersetzen. Es wäre ein Befreiungsschlag, der das ästhetische Artefakt endlich vom Künstler befreien würde.

44.

Niemand hat der Kunst in den letzten Jahrzehnten so sehr geschadet wie der Künstler.

Foto von Kev Costello auf Unsplash

BeReal – Bitte, seid bloß nicht authentisch!

von Lennart Rettler

Eine Person zeigt ihren Laptop, eine weitere liegt im Bett. Dann folgt eine Person am Laptop auf der Arbeit, eine andere Person scheint zu spazieren. Jemand gießt Pflanzen und ein anderer sitzt ebenso vor dem Laptop. Das sind Ausschnitte dessen, was mir die App BeReal an einem Dienstagmittag anzeigt.

Seit 2020 gibt es die französische App, die erst seit diesem Sommer richtig einschlägt. Ihr Prinzip ist ziemlich schnell erklärt: User*innen posten jeden Tag einen Beitrag. Dieser besteht aus einem Foto der Front- sowie einem Foto der Rückkamera, welche gleichzeitig aufgenommen werden. So entsteht ein kurzer Ausschnitt des Alltags, der dokumentiert, was eine Person gerade erlebt und wie sie selbst dabei aussieht. Die Beiträge können nur von akzeptierten Freund*innen gesehen werden und auch erst dann, wenn die User*innen selbst einen Beitrag hochgeladen haben. Be Real versendet jeden Tag eine Benachrichtigung zu einer zufälligen Uhrzeit. Mit der Benachrichtigung haben die User dann exakt zwei Minuten Zeit, um einen Beitrag hochzuladen. Wer jetzt Angst hat, dass die App-Nutzung zu konstanter Smartphone-Aufmerksamkeit verpflichtet, sei schnell entwarnt: Es lässt sich auch noch nach diesen zwei Minuten, selbst vier Stunden später, ein Beitrag hochladen. Allerdings muss man dann mit der sozial ächtenden Konsequenz leben, ein Late gepostet zu haben. Denn dieser Begriff verziert für alle sichtbar den Beitrag des Zuspätkommers.

Schade ist, dass in der deutschen Benachrichtigung die Worte „Zeit für Be Real“ verwendet werden. Im Englischen heißt es schlichtweg „Time to Be Real“, versehen mit zwei aufdringlichen, gelben Warnzeichen. Der englischsprachige Ausruf verdeutlicht alles, was die App uns versprechen möchte. Mit Eintritt der Benachrichtigung ist es Zeit, real zu sein – zumindest über die Dauer der Beitragserstellung. Damit bedient die App ein Verlangen, dass unsere digitale Welt prägt, das Verlangen nach Authentizität, nach realness. Die App baut ihre Daseinsberechtigung auf der Prämisse auf, dass unsere Selbstpräsentation auf allen anderen sozialen Medien weniger authentisch, gar fake, sei.

Jetzt lässt sich darüber streiten, ob die Beiträge auf dieser Plattform wirklich realer sind als bei der Konkurrenz. Anbringen lässt sich, dass es diverse Wege gibt, den Authentizitätsanspruch der App zu umgehen. So posten viele User ihren Beitrag einfach später, einige denken sicherlich schon morgens über den perfekten Moment für ihren heutigen BeReal-Beitrag nach, andere sind sicher auch in der Lage sich innerhalb von zwei Minuten perfekt zu inszenieren. Diese Diskussion ist müßig. Viel interessanter ist zu sehen, was uns die App über unser gestörtes Verhältnis zum Authentizitätsbegriff und der digitalen Welt verrät.

Authentizität erlebt täglich Hochkonjunktur bei allem, was in irgendeiner Weise mediale oder digitale Sphären umfasst. Marken sollen auf Social Media unbedingt authentisch sein. Gleiches gilt für Politiker*innen und besonders für Influencer*innen. Sportmannschaften auf der ganzen Welt lassen sich dokumentarisch inszenieren, um ein scheinbar authentisches Bild von sich selbst zu präsentieren. Vergessen bleibt dabei, dass digital vermittelte Präsentation nie authentisch sein kann. Authentizität ist ein Begriff, der dieser Tage vor allem strategischer Natur ist. Authentizität wird als Teil einer Verkaufsstrategie für Beziehungen angeboten, wohlwissend, dass es sie in diesen Beziehungen eigentlich nicht geben kann. Es gibt keine authentischen Marken, es gibt keine authentischen Influencer*innen. Authentizität ist ein Zuschreibungsprozess, und ein solcher lässt sich wunderbar beeinflussen. Und genau das konterkariert den eigentlichen Anspruch an den Begriff.

Viele empfinden Selbstdarstellung als Gegenspieler von Authentizität. Selbstdarstellung wird ermöglicht durch Zeitvorsprung zwischen Planen und Handeln. Je mehr Möglichkeiten ich habe, über meine Selbstpräsentation nachzudenken, desto stärker kann ich sie verändern. Wenn auch das in der realen Welt ebenso gilt, ermöglicht digitale Interaktion einen deutlich größeren Zeitvorsprung. Wenn ich möchte, unternehme ich 2000 Selfie-Versuche, bis ich das Beste gefunden habe. Wenn ich möchte, überlege ich 30 Minuten lang, bis mir der lustigste Spruch einfällt. Durch das zeitliche Limit probiert BeReal, die Menschen genau hier in ihrer Selbstdarstellung zu begrenzen.

Nun sollte aber die Frage erlaubt sein, ob Menschen überhaupt in diesem Prozess begrenzt werden sollten. Interessant ist, dass unser heutiger Anspruch an Authentizität in digitaler Darstellung stark von den Wünschen abweicht, die wir ursprünglich an den digitalen Raum hatten. Dafür lohnt sich ein Blick auf die Arbeiten Sherry Turkles, einer Soziologin des MIT. Sie setzte sich besonders in den frühen Jahren des Computers und der Digitalität mit den menschlichen Beziehungen zu diesen auseinander. In den 80er-Jahren forschte sie vor allem zu MUDs (Multi-User-Dungeons/ Multi-User-Domains), was wir heute am ehesten als MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) bezeichnen würden. Also Online-Rollenspiele, bei denen man mit anderen Menschen interagieren kann. In den von Turkle erforschten Anfängen stützte sich die Interaktion der Spieler vor allem auf Chat-Nachrichten.

In vielen Interviews stellte Turkle fest, dass die Spielenden schnell zu Meistern der eigenen Selbst-Präsentation und Selbst-Kreation wurden. Sie erklärte die Spielenden der MUDs zu Pionieren unserer digitalen Identitätsbildung. Man kann also sagen, wenn immer Influencer*innen überlegen, welcher Filter für das Foto des neu eingerichteten Wohnzimmers am meisten das Gefühl von Geborgenheit vermittelt, tun sie nichts anderes als MUD-Spielende, die sich ein neues digitales Kleidungsstück aussuchen.

Dabei ging es in diesem Abschnitt der digitalen Weltgeschichte nie wirklich um Authentizität. Ganz im Gegenteil: Die Möglichkeit, Identität digital zu kreieren, wurde als begrüßenswerte Alternative zum eintönigen bzw. beschränkten Alltag angesehen. Nicht umsonst wird der Computer bei Turkle auch als Second Self bezeichnet. Turkle hat viel über das Verhältnis von Online- zu Offline-Identitäten veröffentlicht, wobei sie stets betont, dass die Online-Identitäten selten eine vollständige Alternative zur Offline-Persönlichkeit darstellen. Menschen tendieren vielmehr dazu, bestimmte Aspekte des eigenen Selbst hervorzuheben. Turkle umschreibt diesen Aspekt mit dem Ausruf You are what you pretend to be und vielleicht sagt es ja wirklich viel mehr über uns aus, wenn wir uns zeigen, wie wir gesehen werden wollen, als eine möglichst reale Selbstdarstellung – egal ob als Avatar in MUDs oder mit Hilfe des perfekten Urlaubsfoto auf Instagram.

Jedoch ist die digitale Welt, bzw. die menschliche Wahrnehmung dieser, in den Hochzeiten der MUDs eine ganz andere gewesen als heutzutage. Digitale und reale Welt wurden als getrennte Räume wahrgenommen. Deshalb galt es als gesellschaftlich akzeptiert, in der digitalen Welt eine andere Identität zu verkörpern als sie in der realen Welt zu sein scheint. Das gilt für Online-Rollenspiele heute noch in ähnlicher Weise.

Unser Alltag ist mittlerweile jedoch durchgängig von Digitalität geprägt. Vor einem Bewerbungsgespräch, suchen Arbeitgeber nach Linkedin-Profilen, vor dem ersten Date die potentiellen Partner*innen nach Instagram-Auftritten. Durch soziale Medien ist eine Trennung von digitaler und realer Welt kaum mehr möglich. Auch Turkle beschrieb bereits die Verschmelzung beider Welten, die in Zukunft nur noch stärker werden wird. Genau deshalb ist Authentizität für uns so wichtig. Weil die digitale Welt kein Alternativraum, sondern primär eine Erweiterung unseres realen Lebens und Erlebens darstellt. Diese Verschmelzung nimmt viel vom utopischen Potential des Digitalen, sich selbst neu und erweitert erfinden zu können. Unser Anspruch an Authentizität gipfelt im Verlangen, auch digital als reale Person gelten zu müssen, z. B. durch eine immer wieder diskutierte Ausweispflicht im Internet. Vielleicht sollten wir dieser Verschmelzung entgegenwirken, vielleicht sollten wir uns etwas vom Identitätskreationspotential des Digitalen beibehalten.

Auch wenn BeReal gerade eine beruhigte Alternative zur übersteigerten Darstellung auf Konkurrenzmedien darbietet, bleibt die Frage, wie lange das Interesse am Gewöhnlichen wohl anhalten wird. Denn mal ganz ehrlich; Wer will wirkliche Authentizität? Wer will täglich sehen, wie alle nur ihrer Arbeit nachgehen, vor dem Laptop sitzen oder im Bett liegen? Authentizität ist oft leider langweilig. Ich plädiere also dafür: Don’t be real! And don’t be fake. Be what you pretend to be.

Foto von Christian bei Unsplash

Ist die Kunst im Eimer? – 50 Antworten gegen das Ende der Kunst

von Christina Dongowski

Der Titel deutet es bereits an: Kolja Reichert schlägt in seinem Buch Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst durchgehend einen amüsanten Konversationston an. Blickt man aber genauer hin, dann  treibt ihn ebenso konsequent die Befürchtung um, mit der Rolle, die Kunst bisher in der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hat, könne es vorbei sein. Er fürchtet, dass selbst das Publikum, das immer noch zahlreich in die großen Museen und Ausstellungen strömt, die Kunst dort im Grunde “falsch” rezipiert: sie zum Beispiel nur als Unterhaltung konsumiert, als sozio-ökonomisches Distinktionsmerkmal einsetzt oder als Demonstrationsobjekt in Kulturkämpfen, in denen es nur richtig oder falsch gibt und niemand mehr Kunstwerke nach ästhetischen, kunstimmanenten Kriterien bewertet.

Eine Autorin mit weniger Zutrauen in den Eigenwert der Kunst und die Aura eines gelungenen Kunstwerks hätte aus dieser Diagnose vielleicht eine melancholische Klage über das Verschwinden der Kunst gemacht oder – beim heutigen Buchmarkt wahrscheinlicher – eine kulturkonservative Anklage des grassierenden Verlustes bürgerlicher Traditionen und klassischer Bildung. Kolja Reichert hat das Gegenteil davon geschrieben. Kann ich das auch? ist eine Hymne an Schönheit, an die Macht und Notwendigkeit von Kunst – und das als unterhaltsamer Ratgeber und Crashkurs für Menschen, die wissen wollen, was es mit Kunst tatsächlich Besonderes auf sich hat. 

Kunst als Spektakel des Kapitals

Das Buch beginnt mit seiner eigenen Urszene, die vor allem eine Szene gescheiterter Kunstvermittlung ist: Reichert beschreibt ausführlich, wie er im Februar 2020 in der Staatsgalerie Stuttgart als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion daran scheitert, den Zuhörenden zu erklären, warum das Kunstwerk Love is in the Bin (Die Liebe ist im Eimer) von Banksy, das zirka für ein Jahr in der Staatsgalerie zu sehen war, als Kunst tatsächlich belanglos ist, nichts mehr als ein Produkt aus dem Museumsshop, das sich in die Ausstellung verirrt hat. Seine Erklärungen, warum Love is in the Bin künstlerisch schlecht gedacht und langweilig gemacht sei, und damit ästhetisch unbefriedigende, schlechte Kunst, treffen bei seinen Zuhörer*innen kaum auf Resonanz. Die sind vor allem fasziniert von der Art, wie das Kunstwerk entstanden ist: Nachdem am 5. Oktober 2018 der Hammer des Auktionators von Sotheby’s gefallen war, hatte ein in den Goldrahmen eingebauter Schredder die Leinwand des eigentlich zum Kauf angebotenen Kunstwerks, Banksys berühmtes Balloon Girl, gut bis zur Hälfte eingezogen und in schmale Streifen geschnitten, die nun aus dem Rahmen heraushängen.

Das Stuttgarter Publikum ist davon beeindruckt, dass es ihnen die Leiterin der Staatsgalerie Christine Lange ermöglicht hat, die Sensation der Kunstwelt mit eigenen Augen sehen zu können. Die einmalige Chance, quasi live an einem großen Moment der Kunstgeschichte teilhaben zu können. So hat die Käuferin von Love is in the Bin, das Schredder-Auktionsbild bezeichnet und dafür rund 1,2 Millionen Euro bezahlt – um, das können die Zuhörer*innen im Februar 2020 natürlich noch nicht wissen, ihren halbgeschredderten kunsthistorischen Moment im Oktober 2021, wieder bei Sotheby’s für knapp 22 Mio. Euro an den nächsten Sammler zu verkaufen. (Das Bild und die Aktion sind hier gut beschrieben, ebenso wie hier im Video zu sehen.)

Kolja Reicherts Argument, hier werde die Kunst zu einem Spektakel des Reichtums degradiert und die Kunstbetrachter*innen vom aktiv ästhetisch wahrnehmenden und urteilenden Bürger zum Publikum dieses Spektakels, verfängt als Kritik bei genau diesem Publikum überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Zuschauerin kontert seine Kritik mit der Frage, ob den Kunst immer elitär sein müsse, und erhält dafür viel Beifall. Das wird quasi zum kunsthistorischen Moment Kolja Reicherts, in dem er begreift, dass Kunst als der besondere “Raum der Freiheit und der Menschlichkeit” massiv bedroht ist und eine bessere Verteidigung braucht als das, was er und seine Mitkombattant*innen auf dem Podium der Staatsgalerie zustande gebracht hatten. Das Buch mit den fünfzig Fragen im Titel, die tatsächlich auch alle gestellt und beantwortet werden, ist diese Verteidigung. Ob sie tatsächlich gelingt, muss wahrscheinlich jede Leserin für sich entscheiden – und die Antwort hängt wohl grundsätzlich davon ab, ob man die implizite Diagnose des Autors, das freie Reich der Kunst sei im Begriff zu fallen, überhaupt teilt. 

Keine Angst vor ästhetischen Grundsatzfragen

Aber auch wenn man der Überzeugung ist, dass das Bedürfnis Kunst zu schaffen eine wesentliche menschliche Eigenschaft ist und man sich über ihren Fortbestand keine Sorgen machen muss, liest man Reicherts amüsant und engagiert geschriebene Verteidigung der Kunst gegen ihre Verwandlung in ein ökonomisches und soziales Spektakel mit Gewinn. Denn Reichert stellt sich auch den grundsätzlichen Fragen, die von Teilen des Kunstbetriebs gern als irrelevant, banausisch oder als eine Art Majestätsbeleidigung abgetan werden: “Worum geht es in der Kunst?”, “Was wollen uns die Künstler sagen?”, “Handelt es sich bei Kunst um ehrliche Arbeit?“ Und die beiden im Kunstbetrieb am meisten gehassten Fragen: “Wozu ist Kunst gut?” und “Was ist Kunst?”

Reichert entschärft diese Grundsatzfragen nicht, indem er sie ironisiert oder als Vorwand für ein rhetorisches Feuerwerk nimmt, das die Fragenden vergessen lässt, was sie überhaupt gefragt haben. In seinen Antworten verzichtet er weitgehend auf kunstwissenschaftliche und philosophische Terminologie, – so fällt der Begriff “Kunstautonomie”, um deren Verteidigung es Reichert ja geht, nur wenige Male –, stattdessen orientiert er sich an einem sprachlichen Register, das man vielleicht am besten als Alltagssprache gebildeter Laien beschreiben kann. Diese Art über Kunst zu schreiben ist in der deutschsprachigen Kunstliteratur tatsächlich nicht allzu verbreitet. Eine Frage des Buches lautet nicht ohne Grund: „Warum sind Texte über Kunst so unverständlich?” In den besten Passagen des Buches zeigt Reichert, wie man ernsthaft und engagiert über Kunst schreiben kann, ohne dass bereits der Stil Leser*innen, die nicht in den entsprechenden Habitus sozialisiert wurden, nahelegt, dass Kunst für sie eigentlich kein Thema zu sein hat. 

Im “Tieferlegen” der Eintrittsschwelle in das Reich der Kunst leistet Reichert also einiges. Sein wichtigstes Werkzeug, neben der zugänglichen Sprache, ist dabei die ziemlich konsequente Trennung der Kunst von dem Betrieb, der sich seit dem 18. Jahrhundert um sie gebildet hat. Reichert führt die Leser*innen mit viel Insiderwissen durch die einzelnen Abteilungen des Betriebs: von der Chefetage über Marketing und Vertrieb bis hin zu Personalwesen und in die Produktionshallen. Dieser Blick hinter die Kulissen versetzt die Leser*innen in die Lage, nicht nur die Kulissenschieberei und die Scharlatanerien im Kunstbetrieb besser einschätzen zu können, sie bekommen auch die Mittel an die Hand, die eigenen Ressentiments kritisch zu reflektieren. Hoffnung und Ziel dabei: Die Menschen sollen lernen, wie wenig dieser in weiten Teilen tatsächlich sehr ärgerliche Betrieb mit dem zu tun hat, um das es eigentlich geht, die Kunst.

Reichert will die Kunst retten, indem er seinen Leser*innen ein Bewusstsein davon vermittelt, dass hinter diesem ganzen Bohei wirklich etwas ist, was die Mühe lohnt, bis dahin vorzudringen. Er stärkt die einzelne, individuelle Betrachter*in gegen die Zumutungen und Behauptungen des Kunstbetriebs. Wer jetzt fürchtet, Reichert sei nun doch beim Anything Goes der Staatsgalerie Stuttgart angekommen, Hauptsache hohe Besucherzahlen, kann sich entspannen: Das radikale Empowerment der Einzelnen gegenüber dem Kunstbetrieb und ein extrem starker Begriff von Kunst gehen hier zusammen. Kunst ist eben nicht einfach das, was vom Betrieb so genannt wird und gefällt, sondern Kunst ist das radikal Andere zu unserer Alltagserfahrung und zu der Art, wie wir normalerweise mit Objekten umgehen und wie wir Objekte machen. Oder wie Reichert es fast lyrisch selbst am Schluss seines Buches formuliert:

“Was ist Kunst?

Etwas radikal Fremdes

Etwas entwaffnend Vertrautes

Ein Maß, auf das nichts passt

Ein Portal in die Geschichte

Ein Portal in einen selbst

Ein Widerstand, an dem unsere Gewohnheiten abprallen

Ein Spreizeisen, das sich zwischen alle Gründe stemmt

Eine Ausnahme in der Welt, die es erlaubt, sie zu sehen

Die Laufmasche unserer Illusionen

Luft unter den Flügeln der Vorstellungskraft 

Die Frage,die jedes gelungene Kunstwerk aufwirft und die Antwort, die es gibt

Das Schwierigste” 

(S. 248)

Gemeinsam über Kunst sprechen lernen

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt, ist bei Reichert eigentlich die Bedingung dafür, dass wirklich jede*r einen Zugang zur Kunst finden kann (eigentlich sogar muss). Kunst ist für jede*n die maximale Differenz zur Normalität, da unterscheidet sich eine Zerspanungsmechanikerin in nichts von einem Kunsthistoriker. Der Kunsthistoriker hat nur gelernt, wie man milieu-adäquat und wissenschaftlich darüber spricht. Ob er die Kunst am Kunstwerk tatsächlich wahrgenommen und erfahren hat, bleibt in gewisser Weise ein Geheimnis zwischen Kunst und Betrachter, – selbst wenn er so enthusiastisch und auf angenehme Art belehrend über Kunstwerke schreiben kann wie Reichert selbst.

Sich (wieder) eine gemeinsame Sprache für unsere Wahrnehmungsweisen von Kunst zu erarbeiten, ist dann auch das andere große Anliegen des Buches. Reichert wählt seine an der Alltagssprache orientierte Schreibweise nicht nur, weil er ein populäres Sachbuch schreibt. Im zunehmenden Verschwinden einer gemeinsamen Sprache, um über Kunstwerke zu reden und ihre Qualität zu beurteilen, beziehungsweise im völlig Beliebig-Werden des Sprechens über Kunst sieht Reichert nicht nur ein Symptom ihres Verschwindens, sondern dieser Mangel an Sprache gehört auch zu den Ursachen dieses Verschwindens. (Frage 31: Liegt die Kunst im Auge des Betrachters? Darauf antwortet Reichert mit einem klaren Nein. Die Kunst liegt im Kunstwerk.)

Wie angemessen über Kunst zu sprechen beziehungsweise zu schreiben sei, darum kreisen denn auch einige Fragen des Buches. Reicherts Antwort darauf ist im Grunde sehr klassisch: mit großer Genauigkeit entlang der eigenen Wahrnehmung des Kunstwerks. Ein Text über Kunst, der die Erfahrungen der Betrachter*in mit dem Kunstwerk nicht spiegelt, vielleicht auch weil es keine gab, ist kein guter Text über Kunst – ein Maßstab, den Reichert bei den Passagen zu konkreten Kunstwerken im Buch selbst ziemlich gut erfüllt. 

Aber auch Reichert entkommt den Problemen, die man sich immer einhandelt, wenn man abstrakt über die Kunst schreibt, nicht ganz: Im Buch kommt zu wenig Kunst zur Sprache. In seinem Wunsch, die Leser*innen gegen die Widerstände aus dem Kunstbetrieb als potenzielle souveräne Betrachter*innen zu bestärken und zu motivieren, arbeitet sich Reichert vielleicht doch zu ausführlich an diesem Kunstbetrieb und seinen Manierismen ab. Auch wenn die für viele Leser*innen sicherlich ein zentrales Faszinosum darstellen.

So haben die zwei überzeugendsten Argumente Reicherts, dass man Kunst nur in konkreten Kunstwerken erfahren kann, und dass man sich vielen unterschiedlichen Kunstwerken aussetzen muss, um eine kompetente Kunstbetrachterin zu werden, meines Erachtens zu wenig Einfluss auf den Aufbau des Buches. Anstelle der Antworten auf die Fragen, was Kunst von einem Auto unterscheidet und ob NFTs Kunst seien, hätte ich mir eine ausführlichere Auseinandersetzung mit konkreten Kunstwerken gewünscht, und vor allem mehr Arbeit daran, was das Spezifische eines Kunstwerkes gegenüber anderen ästhetischen durchgeformten Objekten ist. Mehr Platz für eine konkrete Schule des Sehens – dann wäre Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst der fast perfekte Wegweiser ins Reich der Kunst.

Photo von Caleb Salomons auf Unsplash

Ein bequemer Selbstbetrug – Über Marie Luise Knotts „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“

von Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi

Der Alltagsdiskurs und die mediale Öffentlichkeit der Bundesrepublik haben ein anhaltendes Problem: Sie übersehen die Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland und delegitimieren ihre Stimmen. Trotz der langen Geschichte des antikolonialen und antirassistischen Aktivismus von Schwarzen Menschen in Deutschland, wie May Ayim oder Katharina Oguntoye in den 1990ern und Natasha A. Kelly, Sharon Dodua Otoo oder Jasmina Kuhnke heutzutage, ändert sich dieser Missstand nur unter deren großer Anstrengung und schleppend. Statt ins eigene Land geht der weiße Blick nämlich meist in die USA. Jeanette Oholi will diesem Ungleichgewicht mit ihrer Forschung entgegenwirken, sie bringt das Problem auf den Punkt: „Allzu oft wandert der Blick in die Vereinigten Staaten, wenn es um Schwarze Identitäten, Rassismus, Polizeigewalt und Befreiungskämpfe geht.“ 

Die Gründe dafür, dass Schwarzsein in Deutschland weiterhin automatisch als vermeintlich fremd gelesen wird, sind vielfältig. Schon Oholis Formulierung suggeriert, dass es der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft willkommen ist, sich mit dem Rassismus der anderen zu beschäftigen, statt mit dem eigenen. Dieser bequeme Selbstbetrug ist kaum zu leugnen, hilft er doch auch, die koloniale Vergangenheit Deutschlands zu vertuschen. Der Zusammenhang steht darüber hinaus in einer verzwickten transatlantischen Tradition – die wenig beachtet wird. Es ist eine Geschichte, die um Schwarze US-amerikanische Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder James Baldwin nicht herumkommt. Sie hatten das prä- bzw. post-nationalsozialistische deutschsprachige Europa im Kontrast zu den USA der Post-Slavery-Era als positiv in ihrem Umgang mit Schwarzen dargestellt: Eine Darstellung, die statt in ihrer strategischen Natur erkannt zu werden, gern als deutscher Ausweis für Antirassismus missverstanden wird – dazu schrieben zuletzt essayistisch Ellwood Wiggins und Gianna Zocco. Zu dieser historischen Verwicklung gehört auch die kulturelle Aneignung Schwarzer US-amerikanischer Kultur von Jazz über Soul bis Hip Hop, deren subversive Ursprungskontexte für weiße Deutsche wahlweise ganz profane Neuerungen der Unterhaltungskultur mit sich brachten, die Fetischisierung Schwarzer Körper bedeuteten und/oder klein- bis großbürgerlichen Jugendlichen zu Abgrenzungsstrategien gegenüber ihrem Elternhaus oder dessen Geschichte verhalfen – längere Studien haben dazu Priscilla Layne mit „White Rebels in Black” und Moritz Ege mit „Schwarz werden” publiziert. 

Zu dieser transatlantischen Geschichte gehören auch die Geflüchteten vor dem nationalsozialistischen Regime, jüdische Emigrant*innen in die USA, die sich, durch ihre eigenen Erfahrungen sensibilisiert, selbst mit Interventionen in das neue Land einbrachten. Eine dieser Exilant*innen ist Hannah Arendt: die transatlantische Denkerin gegen den Totalitarismus, die intellektuelle Ikone der Linken, die leider nicht als Poster Child für Antirassismus taugt. Der Grund dafür ist unter anderem ihr Essay „Reflections on Little Rock“ (1958), in dem sie sich zwar in einem nachträglich hinzugefügten Vorwort als Jüdin mit Schwarzen Interessen solidarisiert, im eigentlichen Text aber gegen die Desegregierung von US-amerikanischen Schulen ausspricht – und das sehr öffentlichkeitswirksam. Angesichts des Einsatzes der Nationalgarde zum Schutz der Schwarzen Schüler*innen hatten die Ereignisse um Little Rock nationale Aufmerksamkeit erlangt und tragen für die USA bis heute historisches Gewicht. Der Text ist beileibe kein Ausrutscher: Auch ihr imperialismuskritisch intendiertes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) reproduziert passagenweise den kolonisatorischen Blick. Im zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Macht und Gewalt“ polemisiert sie im Rahmen der Forderung für eine grundlegende Reform der Universität gegen Affirmative Actions zugunsten Schwarzer Studienanwärter*innen („Aufnahme unqualifizierter Studenten“) und gegen die Einrichtung von Seminaren aus dem Rahmen der Black Studies („blödsinnige[] Kurse“).

Diese Rassismen in Hannah Arendts Werk sollten eigentlich nicht unbekannt sein: Seit Kathryn T. Gines 2014 ihre Monografie zu dem Thema publizierte, gab es wiederholt Veröffentlichungen dazu. Mitunter wird die Debatte aufbereitet für eine breitere Öffentlichkeit geführt, etwa in einem langen Gespräch von René Aguigah mit Iris Därmann im Deutschlandfunk Kultur. Zu Gines’ Buch liegt allerdings bis heute keine deutsche Übersetzung vor. Es scheint, als sei Hannah Arendts Status als Säulenheilige kaum angetastet. Wie sähe aber eine zugleich wirksame und faire Annäherung aus?

Marie Luise Knott, die selbst vielfach und prominent zu Hannah Arendt publiziert hat, gibt ihren Leser*innen ein knappes Buch mit „17 Hinweisen“ zu diesem Komplex an die Hand (370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison). Ausgangspunkt ist die kritische Reaktion des Schwarzen Schriftstellers Ralph Waldo Ellison auf Arendts Little-Rock-Essay. Er äußerte sich dazu einige Jahre nach dessen Veröffentlichung 1965 in einem Interview. Hannah Arendt zeigte sich nach der Lektüre dieses Interviews einsichtig und schrieb einen Brief – und es folgte nichts. Es gibt keine Antwort bei Arendt, keinen Entwurf dazu in Ellisons Nachlass, nicht mal Lesespuren lassen sich in Arendts Exemplaren seiner Bücher ausmachen. Was auf den ersten Blick nach einer archivarischen Sackgasse aussieht, ist für Knott der Ort, um weitere Wege zu ertasten, die eigene Position zu justieren und Hannah Arendt geschichtlich versiert sowie unter Einbezug der problematischen Äußerungen neu zu platzieren – in einem angemessenen Ton.

Trotz der Ausgangslage ist Knott nämlich nie verbissen: Das lose Strukturprinzip der in sich runden Hinweise ermöglicht eine sensible Betrachtung einzelner Ereignisse, Figuren, Texte und ihrer Beziehungen zueinander. So wird ein Vergleich der Assimilationsversuche in die Mehrheitsgesellschaft als Thema in Ralph Ellisons Roman Der Unsichtbare und in Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen diskontinuierlich, teils elliptisch über mehrere Abschnitte hinweg erzählt. Mit derselben Leichtigkeit flicht Knott thesenhafte Sentenzen über die verschiedenen Materialien, Vorgänge und Institutionen ein: „Jedes Lesen ist ein Gespräch“, „Essays sind Exkursionen“, „Briefe wie Träume sind aufgeschobene Begegnungen“. Sie helfen dabei, entsprechende Rezeptionsmodi anzudeuten und sind zugleich ein charakteristisches Element für Knotts genuin essayistischen und zugleich erkenntnisfördernden Stil.

Knott rollt Wesentliches auf, indem sie nebensächlichen Details eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das passiert schon im Titel: 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. So lauteten die Adressen von Hannah Arendt und Ralph Ellison. Sie lebten „einen Zahlendreher entfernt“ und doch wohnte sie „im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance“. Die Hervorhebung der Adressen deutet an, dass sich diese Gruppen scheinbar ähneln, nämlich durch den Fakt ihrer Marginalisierung, um zugleich klarzustellen, dass sie sehr unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetzt waren, nämlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Rassismus gegen Schwarze in den USA.

Knott skizziert somit das Grunddilemma, das Michael Rothberg mit dem Begriff multidirektionales Erinnern benannt hat und in das sie später auch Hannah Arendts zweifelhafte Intervention über Little Rock einbettet:

„Da Schwarze wie Juden jeweils verfolgte Minderheiten waren, trug die Parallele bis zu einem gewissen Grad; doch die Ausgangslage war eben doch grundverschieden. Hannah Arendt ließ außer Acht, dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen konnte. Es gab Parallelen, doch die Juden in Europa hatten keine Sklavengeschichte. Und bei aller Diskriminierung, ja Verfolgung hatte schon die Generation von Arendts Großvater die Möglichkeit gehabt, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Und Arendt selbst hat nie um ihr Abitur bangen müssen, weil sie eine Jüdin war.“

Explizit rekurriert Knott zwar lediglich auf die angeheizte Debatte um das multidirektionale Erinnern in Deutschland, eigentlich steht aber ihr ganzes Buch Exempel dafür, wie produktiv und angemessen das Konzept sein kann, wenn es gewissenhaft zum Tragen kommt. Immerhin erzählt sie im Sinne des multidirektionalen Erinnerns unterschiedliche Unterdrückungsgeschichten in ihren Berührungspunkten. Sie komponiert an ihnen entlang eine ambivalente Erzählung, die vor allem der impliziten Zielgruppe, einem weißen, deutschsprachigen Publikum, wahrscheinlich kaum bekannt ist: Die der jüdisch-Schwarzen Solidaritäten und Fallstricke in den USA – und im selben Zuge die eben nur halbvertraute Geschichte von US-amerikanischem anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Widerstand. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Chronologie, die Knott behauptet, wenn sie von Rassismus als einem „Produkt der Sklaverei” schreibt, das ein „gewalttätiges Konstrukt zur Aufrechterhaltung von white supremacy” sei, die Tatsachen stark verzerrt – auch zugunsten von Nationen, die nicht in die US-amerikanische Sklavereigeschichte verwickelt waren. Zudem wurde Martin Luther King Jr. natürlich nicht in Chicago, wie im vorliegenden Buch angegeben, sondern in Memphis erschossen. Diese Irrtümer tangieren kaum den Eindruck der ansonsten sorgsamen Auswahl von Schauplätzen, der sensiblen Darstellungen der Zusammenhänge und der kenntnisreichen Einbettung von Hannah Arendts eigener Gedanken sowie deren Entwicklung.

Da war zum Beispiel Barney Josephson, ein Sohn lettischer jüdischer Emigranten, der 1938 den ersten desegregierten Jazzclub in New York gründete. „Erschrocken“ habe er zuvor miterlebt, „wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen.“ Knott erwähnt auch die Autorschaft von „Strange Fruit“, einem eindringlichen lyrischen Text über ein Lynching in den US-amerikanischen Südstaaten. Bekannt wurde er durch die Interpretation Billie Hollidays 1939, geschrieben hatte ihn Abel Meeropol, dessen Eltern aus Osteuropa in die USA emigriert waren. Diese Geschichten der Solidarisierung reichen weit bis in das Civil Rights Movement hinein. Sie scheinen im US-amerikanischen Kontext logisch, so erwähnt Knott: „Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft.“

Zugleich wird ersichtlich, dass die vielzähligen Allianzen doch eine langwierige und nachhaltige Institutionalisierung vermissen ließen – zumal der prekäre Status von Jüd*innen in den USA insbesondere bis in die 1950er Jahre vergleichsweise schnell abnahm und ihnen viele weiße Privilegien zugestanden wurden. Der gemeinsame Kampf gegen Marginalisierung vereinzelte sich damit. Jüd*innen wurden Teil der Mehrheitsgesellschaft, aus der „niemand von höchster Stelle aus die Schwarzen und die Indigenen um Verzeihung bat“. „Niemand initiierte so etwas wie eine Aufarbeitungskommission“, weder der antirassistische gesellschaftliche Wandel, noch die gleichen Rechte für Schwarze seien effektiv durchgesetzt worden. So blieb die Distanz zwischen (jüdischen) Weißen und Schwarzen bestehen. Man „ahnt die Ferne zwischen den Kulturen und auch die Bemühungen vieler Weißer, diese Ferne zu erhalten. Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte.“

Historische Texte und Texte aus anderen Kulturen stellen für Knott auch die Möglichkeit dar, „die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren“. Der Little-Rock-Essay ermöglichte und ermöglicht Knott die Rolle der Privatsphäre für Hannah Arendt zu erkunden: „Folgt man für einen Moment der Argumentation aus ‚Little Rock‘, so fällt auf, in welch uns ungewohntem Maße Hannah Arendt dort die Privatsphäre verteidigt.“ Was hier greift, ist Hannah Arendts Aufteilung in die politische, gesellschaftliche und private Sphäre, wie sie sie ausführlich in Vita Activa (1958, dt. 1960) vornimmt. Diese bemerkenswert konsequente Trennung habe Knott schon in den 80er Jahren, als sie sich das erste Mal mit dem Essay beschäftigte, fasziniert – so sehr, dass sie sich gegen ihre damaligen Verlagskolleg*innen durchsetzte und eine Aufnahme des Texts in einen Essayband bewirkte – gegen die Einwürfe, dass Arendt das N*-Wort benutze[1] und gegen eigene Bedenken der politischen Implikationen: „Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.“

Die neue Auseinandersetzung mit dem Essay steht in Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Diskurs, der, wie eingangs angedeutet, eine ausgeprägte Sensibilisierung für Rassismus zunehmend einfordert, und er ist im Kontext zu betrachten mit einem umfangreichen Zugang zu historischen Erkenntnissen und Quellen. Marie Luise Knott nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um eine einflussreiche Denkerin behutsam zu hinterfragen. Zum Teil stolpert sie dabei über den eigenen Unwillen: „Man spürt hier, was man vielleicht nicht hören will.“ Wenn Hannah Arendt über Affirmative Actions als „Rassismus mit anderen Vorzeichen“ schreibt, kommentiert Knott verblüfft: „Diese Stelle hat es in sich.“ Und sie fragt sich zögerlich, aber unnachgiebig bis an die unangenehmsten Aussagen Arendts vor: „Was ist hier gemeint? Steht da wirklich, verkürzt gesagt, dass die Weißen die riots provozieren, indem sie sich kollektivschuldig bekennen?“

Was Marie Luise Knott vorlegt, ist eine umsichtige wie strenge, mit anderen Worten, eine faire Auseinandersetzung mit einer ganz offenbar von ihr bewunderten Denkerin. Gerade die unverhohlene Wertschätzung für Arendt verspricht zudem, wirksam zu sein: Die Erzählinstanz mit ihrer Bereitschaft, zu einer Rassismuskritik anzusetzen und sich den mitunter unbequemen Folgen zu stellen, bietet auch eingefleischten Arendt-Fans Identifikationspotenzial. Dieser Blick in die USA tut der eingangs beschriebenen Dynamik der selbstgerechten Ablenkungsmanöver sicher keinen unmittelbaren Abbruch. Die Form der Aufarbeitung ist jedoch hilfreich, um die transatlantisch verstrickte Geschichte von Rassismen sichtbar zu machen, die Knott zudem im Wissen um die Fallstricke und Möglichkeiten des multidirektionalen Erinnerns erzählt. Die Veröffentlichung sensibilisiert dafür, dass Querbezüge zwischen marginalisierten Gruppen und in verschiedenen historischen Kontexten heikel sind, sodass selbst gut gemeinte Solidaritätsbekundungen oft – auch bei großen Denkerinnen – ziemlich ungelenk ausfallen. Zurecht wurden Autorin und Buch zuletzt mit dem Tractatus-Preis geehrt.


[1] Als interessanten Nebenschauplatz wollen wir darauf verweisen, dass das englische Original tatsächlich das Wort “Negro” benutzt. Die Verlagsdiskussion hat sich also offenbar auch aufgrund der deutschsprachigen Übersetzung von Eike Geisel verschärft. Zur Übersetzbarkeit der N-Wörter empfehlen wir dieses Gespräch zwischen der Juristin, Kabarettistin und Kolumnistin Michaela Dudley und der Übersetzerin Mirjam Nuenning.

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Social-Media-Benimmkolumne: Wie man sich unmöglich macht – Nonmentions und Snitchtagging

von Franziska Reuter

Das größte Problem von Social Media ist, dass Menschen sich online schlechter benehmen als im echten Leben. Fast niemand würde doch zu einem Fremden auf der Straße gehen und sagen, hey, hast du den Mantel aus der Altkleidersammlung? Online passiert so etwas ständig. Die gängige Interpretation dieses Phänomens lautet: Es fällt Menschen schwer, die Reaktion auf ihr Verhalten zu antizipieren, wenn sie ihr Gegenüber nicht sehen können. Dann wirkt die Person, die man beleidigt, nicht wie eine echte Person, die man vielleicht verletzen könnte, sondern nur wie ein Account.

Ich sehe das anders. Ich bin davon überzeugt, dass Leute, die sich online schlecht benehmen, auch im richtigen Leben unangehm sind und das nur kaschieren, weil es ihnen sonst selbst zu sehr schaden würde. Wer sich in jeder Kommunikation aufführt wie die Axt im Walde, wird bald privat sehr einsam werden und im Job nicht vorankommen. Auf Social Media hingegen muss man schon enormes Pech haben oder sich extrem mies verhalten, um echte Konsequenzen dafür zu spüren. 

Kein Wunder, dass viele Menschen dort gern Dampf ablassen. Sie wissen natürlich, dass sie andere damit verletzen. So wie man selbst ein Mensch mit Gefühlen hinter einem Account ist, steht woanders auch ein Mensch mit Gefühlen hinter jedem Account. Das zu kapieren ist etwa so komplex, wie sich selbst im Spiegel zu erkennen. Und das gelingt meist spätestens im Alter von zwei Jahren. 

Nun gehen nicht alle Social-Media-User mit offenen Beleidigungen ans Werk. Es gibt zwei etwas subtilere und trotzdem unangenehme Methoden, die einen ähnlichen Zweck erfüllen. Nummer eins: Nonmentions.  Für die Glücklichen, die nicht wissen, was eine Nonmention ist: Jemand ärgert sich über jemanden und verfasst ein Posting, in dem das Ärgernis auf verklausulierte Weise benannt wird. Dabei werden nie Namen und selten konkrete Ereignisse erwähnt.

Es braucht wahrscheinlich ein Beispiel. Nehmen wir etwas Undramatisches. Klaus und Beate kennen sich über Twitter und chatten hin und wieder. In einer dieser Nachrichten schreibt Beate, sie liebe Coldplay. Klaus schreibt daraufhin einen öffentlichen Tweet, der in etwa lautet: Manche Menschen haben überhaupt keinen Musikgeschmack, und für solche Leute habe ich nun wirklich keine Zeit. Das ist schon ziemlich gemein. Aber üblicherweise geht es um viel ernstere Themen als Musik, nämlich um Politik oder Lebensstile oder Kindererziehung. Das tut viel mehr weh. Und es ist gar nicht so ungewöhnlich, dass vorher ein privater Kontakt stattgefunden hat, denn es braucht schon eine gewisse Fallhöhe, damit jemand eine Nonmention verfasst.

Natürlich gibt es harmlose Nonmentions. Liebeskummer hat schon sehr viele davon verfasst. Es wäre auch harmlos und nett, wenn Klaus sich weiter mit Beate unterhalten hätte, aber sein Tweet lautete: Da denkst du, du kennst einen Menschen allmählich, und dann outet der sich plötzlich als Coldplay-Fan. Nonmentions sind nicht prinzipiell unverschämt. Nur eben oft in der Ausführung. Außerdem ist ihr Publikum völlig unklar: Richtet sich das Posting an die Person, die dort beleidigt wird – wenn ja, warum kann man ihr das nicht einfach direkt mitteilen? Richtet es sich an alle Follower, von denen die meisten doch keine Ahnung haben, worum es überhaupt geht, und sich bestenfalls ausgeschlossen fühlen? Oder ist es nur etwas, das irgendwie raus muss? Da täte ein Selbstgespräch bessere Dienste als Social Media. Wer erwägt, aus Ärger eine Nonmention zu verfassen, sollte dringend sein Handy weglegen und mal um den Block laufen. Und wer eine Nonmention sieht, egal an wen sie gerichtet ist, sollte sie ignorieren. Man darf dieses Verhalten nicht mit Aufmerksamkeit belohnen – nicht mal mit negativer Aufmerksamkeit.

Das bringt uns zur zweiten Methode, andere Menschen anzugreifen: Snitchtagging. Wahrscheinlich gibt es einige Menschen, die sich gar nichts Böses denken, wenn sie es betreiben. Umso wichtiger ist Aufklärung. Auch hier ein Beispiel: Klaus hat einen Artikel verfasst. Drei Menschen, die ihn nicht näher kennen, unterhalten sich online über den Artikel und sind anderer Meinung, finden vielleicht sogar den Artikel schlecht und artikulieren das. Auftritt Beate, die sich in das Gespräch mischt mit den Worten: “Also ich lese die Artikel von @Klaus eigentlich immer gern!” 

Man kann über die Motivation dazu streiten. Womöglich will sie ihn verteidigen, ist aber nicht altruistisch genug, um das außerhalb seines Sichtfeldes zu machen. Womöglich geschieht es aus einem fehlgeleiteten Sinn für Fairness. Womöglich findet Beate aber auch, dass Klaus ruhig mal mitkriegen kann, dass seine Artikel nicht sonderlich geschätzt werden, damit er nicht zu selbstbewusst wird.

Das ist einer von zwei Effekten des Snitchtaggings: Die Person, um die es geht, bekommt mit, dass jemand schlecht über sie redet. Ist es fair ihr gegenüber, sie darauf aufmerksam zu machen? Für diese Einschätzung lohnt es sich oft, die Szene ins echte Leben zu übertragen. Es gibt also eine Party, eine sehr große Party, viele dort kennen einander nicht. In der Küche diskutieren drei Leute über Klaus’ Artikel. Beate hört das mit und brüllt in den Flur: “Klaus! Klaus, komm rüber, hier sagt jemand, du argumentierst wie ein Drittklässler!” 

Wahrscheinlich ist Klaus gerade in einem angenehmen Gespräch über französische Rotweine und will weder erfahren, was über ihn gesagt wurde, noch selbst mitdiskutieren. Aber jetzt hat er die Wahl nicht mehr: Alle wissen, dass er es jetzt weiß, also muss er irgendwie reagieren. Verteidigt er sich, wozu er nun wirklich nicht verpflichtet ist? Bittet er darum, aus der Konversation genommen zu werden? Ignoriert er den Thread? Egal, was Klaus tut, seine Laune ist schlechter als vorher.

Klaus ist natürlich nicht der einzig Betroffene hier. Die drei Diskutanten stehen ebenfalls blöd da. Und zwar zu Unrecht: In Abwesenheit über Menschen oder ihre Arbeit zu sprechen, sogar negativ, ist ein völlig normaler Vorgang. Deshalb ist es auch nicht angemessen, hier mit Fairness zu argumentieren. Das gilt natürlich nicht für Freunde. Aber wenn Klaus mit den Lästernden befreundet wäre, hätte Beate ihm besser eine private Nachricht geschickt und ihm damit selbst überlassen, ob er so tun möchte, als hätte er den Vorgang nicht mitbekommen. Beate wiederum verdirbt es sich mindestens mit denen, in deren Diskussion sie sich eingeschaltet hat. 

Beim Snitchtagging verlieren also alle Seiten. Das macht es so erstaunlich, dass Leute es weiterhin durchziehen. Man muss schon ausgesprochen tone deaf sein, um nicht zu merken, dass man die Stimmung aller ruiniert. Oder man macht das mit Absicht und gerne, weil man es liebt, wenn andere Menschen sich schlecht fühlen. Damit verdient man es sich redlich, großflächig geblockt zu werden. Ich selbst habe schon Snitchtagger auf Twitter geblockt, die gar nicht mich bloßgestellt haben, sondern andere Leute. Das kann ich sehr empfehlen. Im echten Leben würde man ja auch verstummen, wenn plötzlich die intriganteste Person des Bekanntenkreises neben einem steht, um ihr keine Munition zu geben. Das ist auf Social Media nicht anders.

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