Autor: Isabella Caldart

Die Sicht der anderen – Wie True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

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Rückkehr der Rom-Com – Ein Genre wird erneuert

von Isabella Caldart

Denkt man an die große Zeit der Rom-Coms, fallen einem vor allem zwei Namen ein: Julia Roberts und Meg Ryan, die in den neunziger Jahren Garantinnen für Filmhits waren. „Harry und Sally“ (gut, der ist von 1989), „Schlaflos in Seattle“ und „E-Mail für dich“, „Pretty Woman“, „Die Hochzeit meines besten Freundes“ und „Notting Hill“ sind Klassiker. Die frühen Nullerjahre sahen noch einige Rom-Coms vor allem mit Katherine Heigl, Reese Witherspoon und Kate Hudson in den Hauptrollen – und dann waren Rom-Coms tot. Zwanzig Jahre lang tat sich in diesem Bereich so gut wie gar nichts, bis das Genre dieses Jahr wiederbelebt wurde. Und siehe da: Man versucht, mit der Zeit zu gehen. Viele neue Rom-Coms sind erstaunlich divers und queer.

Rückgang und Weichenstellung

Dass es dieses Loch von zwanzig Jahren gab, hat primär zwei Ursachen. Zum einen gab es eine grundlegende strukturelle Änderung im Filmbusiness: Vor allem bedingt durch den Boom von Superhelden-Franchises, Prequels/Sequels und Blogbustern werden Filmen mit mittlerem Budget von etwa 10 bis 70 Millionen US-Dollar kaum noch produziert. Die Krux ist, dass sie viel teurer sind als Arthouse-Filme, aber anders als Franchises wie „Star Wars“ oder das MCU nicht automatisch Erfolg bedeuten. 1997 kostete laut der New York Times ein durchschnittlicher Hollywoodfilm 60 Millionen, während allein „Avengers: Endgame“ ein geschätztes Budget von rund 400 Millionen US-Dollar hatte. Der zweite wichtige Faktor ist die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Filme, in denen weiße, heterosexuelle Menschen eine klassische, monogame Beziehung eingehen, wirken aus der Zeit gefallen. Nicht selten sind zudem die Machtdynamiken und die Art, wie der Mann um die Frau „wirbt“, äußerst problematisch (man denke nur an „Pretty Woman“).

Trotzdem war die Sehnsucht nach Rom-Coms beim Publikum erstaunlich groß; immer wieder gingen Tweets viral, in denen danach gerufen wurde. Und sie wurden erhört: Rom-Coms sind nicht nur zurück, politische Diskurse wurden auch mitgedacht und aufgegriffen – mit unterschiedlichem Können und Erfolg allerdings. Im Folgenden soll es um Filme gehen, die im Jahr 2022 veröffentlicht wurden. Aber zunächst ein paar honorable mentions: Die Highschool-Komödie „Love, Simon“ (2018) hatte einen schwulen Protagonisten und spielte bei einem Budget von 17 Millionen US-Dollar weltweit gut 66 Millionen ein. Ein noch viel größerer Erfolg war die charmante Rom-Com „Crazy Rich Asians“ (2018), der erste Hollywoodfilm seit 25 Jahren, dessen Cast nur aus Asian-Americans beziehungsweise Asiat*innen bestand. Er wurde von einem Großteil der Kritiker*innen hochgelobt und war mit einem weltweiten Einspielergebnis von knapp 239 Millionen US-Dollar auch ein Kassenschlager. Die Weichen für moderne, diversere Rom-Coms waren also gestellt.

„Crush“, „Fire Island“, „Anything’s Possible” und „Ticket ins Paradies”

„Crush“, eine romantische Coming-of-Age-Komödie erzählt von Paige (Rowan Blanchard), die seit sie denken kann in Gabby Campos (Isabella Ferreira) verliebt ist, eins der beliebtesten Mädchen an ihrer Schule. Dann freundet sie sich mit Gabbys Zwillingsschwester AJ (Auliʻi Cravalho) an, die sich wiederum in Paige verknallt. Und Paige steht plötzlich zwischen zwei Schwestern. Das ist ein dramaturgisch sehr klassisches Szenario, das sich vor allem in Highschool-Serien und -Filmen finden lässt: Die Hauptfigur, die sich zwischen zwei Geschwistern oder besten Freund*innen entscheiden muss. Lesbischsein und Coming-Out stellen in dem Film keine Hürde dar, sondern werden als gegeben hingenommen. Die Dramatik rührt allein daher, dass Paige sich in zwei Schwestern verliebt. Das Schöne an „Crush“ ist, dass die Schwestern deswegen nicht zu erbitterten Feindinnen werden. Der Film ist zwar nicht in jeder Hinsicht perfekt, aber er ist trotzdem eine gelungene Highschool-Rom-Com mit überzeugenden Schauspielerinnen, die gute Laune macht.

Ebenfalls an einer Highschool spielt der Film „Anything’s Possible“, das Regiedebüt von Billy Porter. Mit Eva Reign hat der Film eine Schwarze trans Protagonistin. Reign spielt YouTuberin Kelsa, die sich in ihren Mitschüler Khal (Abubakr Ali) verliebt. Der Film hat einige herzerwärmenden Szenen, ist insgesamt aber eher holprig. Das liegt unter anderem daran, dass Reign und Ali ihre Figuren zwar überzeugend spielen, im Zusammenspiel aber leider keine Chemie entwickeln. Dass die beiden sehr schnell ein Paar werden, ist einerseits zwar eine schöne Geste – damit wird insinuiert, dass es für Khal kein Problem darstellt, dass Kelsa trans ist. Andererseits ist das für eine Rom-Com natürlich schwierig, weil den Zuschauer*innen keine Zeit gelassen wird, mitzufiebern. Außerdem verhalten sich sowohl Khals als auch Kelsas Freund*innen aus unterschiedlichen Gründen mehr als fragwürdig, was bis zum Ende des Films nicht wirklich gelöst wird. Positiv zu vermerken ist, dass obwohl Kelsas Gender für Khal kein Thema ist, der Film trotzdem nicht so tut, als sei das gesellschaftlich irrelevant. Insgesamt ist „Anything’s Possible“ ein mittelprächtiger Film, der einige sehr gute Ansätze hat, in der Umsetzung aber unausgereift wirkt.

„Fire Island“ ist eine sehenswerte Rom-Com um eine Gruppe schwuler Männer in ihren Dreißigern. Der Film, eine lose Adaption von Jane Austens „Stolz und Vorurteil“, erzählt von Noah (Joel Kim Booster) und seinen Freunden, die jedes Jahr Sommerurlaub auf Fire Island in der Nähe von New York City machen, seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein beliebtes Ausflugsziel für Schwule. Es ist ihre letzte gemeinsame Woche, da das Haus verkauft wird. Nach einigen Verwirrungen, Herzschmerzen und Partys endet der Film damit, dass nicht nur Noah mit Neubekanntschaft Will (Conrad Ricamora) zusammenkommt, sondern auch die guten Freunde Howie (Bowen Yang) und Charlie (James Scully). Während das Ende etwas klischeehaft ist, macht der Film doch sehr viel sehr richtig. Nicht nur ist der Plot gut ausgearbeitet und nuanciert, der Cast ist auch „racially“ divers, und es werden genuine Freundschaften zwischen (schwulen) Männern gezeigt. Sex in Dark Rooms wird ebenso wie  Fragen um Polyamorie thematisiert. „Fire Island“ ist ein Film voller Herz und Humor, und auch das typische Rom-Com-Ende kann man ihm positiv auslegen: Zu oft sterben queere Figuren in Filmen und Serien (siehe die „Bury Your Gays“-Trope) oder haben mindestens traumatische Erlebnisse, und deswegen ist es schön, die Rom-Com so harmonisch enden zu lassen.

Der Erfolg von „Ticket ins Paradies“, der weltweit rund 160 Millionen US-Dollar einspielte, zeigt zwei Dinge: Zum einen gibt es definitiv ein Publikum für Rom-Coms, und zum anderen sind Julia Roberts und George Clooney nach wie vor Hitgaranten. Im Film geht es um ein seit vielen Jahren geschiedenes Ehepaar, das sich jetzt zusammenraufen muss, um die Tochter davon abzuhalten, ihren Urlaubsflirt zu heiraten und auf Bali zu bleiben. Abgesehen von den erwartbar cringey US-Amerikaner*innen-benehmen-sich-im-Ausland-daneben-Szenen (wobei man nach dem „Sex And The City 2“-Fiasko in Hollywood dazugelernt hat), ist „Ticket ins Paradies“ eine solide witzige romantische Komödie, die man durchaus anschauen kann. Der Grund, weswegen „Ticket ins Paradies“ in diesem Text auftaucht, ist das Alter der beiden Protagonist*innen. Roberts und Clooney sind in ihren Fünfzigern, was für Rom-Coms unüblich ist. Zugleich zeigt die Wahl, mit Roberts und Clooney zwei Stars zu casten, die in den neunziger Jahren vor allem für ihre Herz-Rollen bekannt waren, dass es dem Rom-Com-Genre offensichtlich so sehr an Nachwuchs mangelt, dass auf „alte“ Stars zurückgegriffen werden muss.

„Bros“: Hoffnung und Flop

Die große Hoffnung und zugleich große Enttäuschung dieses Jahr war „Bros“. „Bros“ ist die erste queere Rom-Com mit Kino-Release, und entsprechend waren die Erwartungen im Vorfeld hoch. Der Film ist allerdings komplett gefloppt: Weltweit hat er bei einem Budget von 22 Millionen keine 15 Millionen US-Dollar eingespielt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber erst einmal zum Plot. In der Hauptrolle spielt Comedian Billy Eichner (der auch Co-Autor des Films ist) Bobby Lieber, einen Podcast-Host, der einen Job im Kuratorenteam für das erste National LGBTQ+ History Museum annimmt. In einem Club lernt der neurotische Bobby den attraktiven Aaron (Luke Macfarlane) kennen, der – wie Bobby auch – nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung ist. Aber wie es die Rom-Com-Gesetze wollen: Am Ende, nach sehr vielen Ups und Downs, kommen Bobby und Aaron doch zusammen.

„Bros“ hat größtenteils positive Kritiken bekommen, Rotten Tomatoes verzeichnet einen Beliebtheitswert von 88 %. Die wenigen Zuschauer*innen, die den Film kennen, bewerten ihn durchwachsener: Die „Verified Audience“ bei Rotten Tomatoes gibt dem Film zwar eine Zustimmung von 90 %, schaut man sich aber „All Audience“ an, fällt diese auf nur 60 %, ein Wert, der dem von IMDb mit 6,4 von 10 Punkten sehr viel näherkommt. Das Problem ist dennoch nicht die Rezeption des Films – sondern dass ihn kaum jemand gesehen hat. Ein Grund dafür ist die eben erwähnte Erwartungshaltung, die es im Vorfeld gab.

Der Fokus des Marketings lag weniger auf dem Inhalt des Films als auf dessen kultureller Bedeutung, nach dem Motto: Wenn der Film floppt, wird es nie wieder eine queere Rom-Com im Kino geben. Nachdem der Film direkt bei seinem Eröffnungswochenende enttäuschte, schimpfte Billy Eichner auf Twitter über die vermeintliche Homofeindlichkeit, wegen der die Leute fernblieben – und übersah dabei, dass auch queere Zuschauer*innen nicht ins Kino rannten. „Straight people, especially in certain parts of the country, just didn’t show up for Bros”, schrieb er in inzwischen gelöschten Tweets. „Everyone who ISN’T a homophobic weirdo should go see BROS tonight!” Bereits vor der Filmpremiere hatte er Ende September getweetet: „IF YOU’RE NOT A HOMOPHOBIC PIECE OF SHIT, GO SEE BROS!!!” Auch wenn es sich dabei um einen Scherz im Sinne von Eichners intensiver Persona handeln mag – „Bros“ zu schauen wurde damit politisch stark aufgeladen, statt den Kinobesuch als angenehme, lustige Freizeitaktivität zu verbuchen, wie es sein sollte.

Ein weiterer Grund für den Flop wird sein, dass „Bros“ am 30. September in die Kinos kam, und in den USA gilt der Oktober, der Halloween-Monat, als „Spooky Season“, in der vor allem Horrorfilme geschaut werden. Dass „Bros“ außerdem ein R-Rating bekam, also für Zuschauer*innen unter 17 Jahren als ungeeignet gilt, und keine bekannten Schauspieler*innen hat, half ebenfalls nicht. Auch wenn Billy Eichner vor allem denjenigen, die viel online sind, inzwischen ein Begriff ist, hat er nicht annähernd eine vergleichbare Starpower wie andere Schauspieler*innen, die sonst Kinofilme headlinen. „The Lost City“ unterdessen, ein Film, der etwas großzügig betrachtet eine Rom-Com ist, spielte im Frühjahr dieses Jahres mehr als 190 Millionen US-Dollar ein. In den Hauptrollen: Sandra Bullock und Channing Tatum.

Auch inhaltlich ist „Bros“ ist sehr viel holpriger im Vergleich zu etwa „Fire Island“. Der Versuch, via des queeren Museums im Film nicht-queere Zuschauer*innen über queere Geschichte aufzuklären, ist teils platt geraten. Und während Themen wie Polyamorie eine relevante Rolle spielen, wandelt sich gerade Anti-Beziehungs-Mensch Aaron im Laufe des Filmes so sehr, dass er in der letzten Szene Bobby sogar (im Spaß) hinterherrennt, um über potentielle Kinder zu reden. Das größte Problem ist aber, dass Billy Eichner zu sehr im Fokus des Films steht. Seine latent laute Art funktioniert in den Kurzclips von „Billy on the Streets“, in denen er Passant*innen anhält und ihnen schnelle Fragen stellt, wird auf knapp zwei Stunden aber zunehmend anstrengend. Man muss dem Artikel in der Los Angeles Times recht geben, dessen Überschrift lautet: „It’s OK to let gay art bomb“.

Was erwarten wir von Rom-Coms?

Das Ende von „Bros“ wirft eine größere Frage auf: Was erwarten wir eigentlich von Rom-Coms? Das Muster, nach dem diese Filme aufgebaut sind, ist immer sehr ähnlich – so schematisch, dass es sogar einen Eintrag in Merriam-Webster gibt: „a light, comic movie or other work whose plot focuses on the development of a romantic relationship.“ Das Narrativ einer Rom-Com ist per definitionem also um das Konzept Monogamie herum erzählt, die Hürden stellen zumeist Eifersucht beziehungsweise Liebes-Missverständnisse dar und führen zum Ziel, am Ende eine (Zweier-)Beziehung einzugehen. Natürlich gibt es viele queere monogame Beziehungen, das soll hier gar nicht infrage gestellt werden; einer sehr traditionellen Beziehungsvorstellung bleibt man in diesen Filmen trotzdem treu. Auch wenn „Bros“ und „Fire Island“ dadurch, dass polyamoröse Verhältnisse diskutiert werden, zumindest versuchen, diese Konventionen aufzubrechen, bleiben sie ihnen mit ihren finalen Szenen trotzdem treu. (Im Fall von Noah und Will steht zumindest die Möglichkeit einer polyamorösen/offenen Beziehung im Raum.) Die Filme sind nicht heterosexuell, aber oft noch in heteronormativen Strukturen. Wobei „Bros“ dem mit der Erwähnung der Kinderfrage natürlich noch das Weiße-Gartenzaun-i-Tüpfelchen aufsetzt.

Die romantischen Komödien, die dieses Jahr veröffentlicht wurden, zeigen, dass es durchaus die Bereitschaft gibt, die starren Strukturen dieses Genres aufzubrechen und ihm neue Geschichten, Nuancen, Hürden und Perspektiven zu verleihen. Es bleibt aber eine Zwickmühle ohne Ausweg. Denn gerade für das unvermeidliche Happy End gibt es keine gute Lösung. Eine wäre vielleicht, dass die Hauptfigur mit den Freund*innen und der Wahlfamilie glücklich ist, nicht mit einer Partner*in. Doch ist eine Rom-Com, die nicht darauf abzielt, dass die beiden Protagonist*innen am Ende zusammenkommen, überhaupt noch eine Rom-Com? „Bros“ ist zwar gefloppt, aber queere und diverse Rom-Coms sind trotzdem gekommen, um zu bleiben. Wir dürfen gespannt sein, was sich Drehbuchautor*innen in Zukunft noch ausdenken werden.

Foto von Nicola Fioravanti auf Unsplash

Literarischer Stadtplan für Barcelona

von Isabella Caldart

Barcelona gilt als eine der wichtigsten Literaturstädte der Welt. Nicht nur ist sie das Herz der spanischen Buchbranche mit ihren vielen Verlagen und Literaturagenturen, am 23. April, dem Welttag des Buches, wird außerdem Sant Jordi in der katalanischen Hauptstadt gefeiert, ein einzigartiges Fest, bei dem Bücher und Rosen verschenkt werden und sich die Straßen in Open-Air-Buchstände verwandeln. Außerdem haben viele Romane Barcelona als Setting. Natürlich kennt jede*r „Der Schatten des Windes“ von Carlos Ruiz Zafón, ein Buch (und später Tetralogie), das mit seiner Übersetzung ins Deutsche (von Peter Schwaar) ab 2003 eine neue Welle von Interesse für spanische und katalanische Literatur weckte. Aber es gibt noch viel mehr Bücher, die von der Vielseitigkeit Barcelonas erzählen. Der Gastlandauftritt Spaniens auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist der beste Grund, um einige von ihnen zu empfehlen und mithilfe der Literatur durch die Straßen Barcelonas zu spazieren.

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Michi Strausfeld – Literarische Einladung Barcelona (2022)

Gesamte Stadt

„Die Attraktivität der Mittelmeermetropole bleibt also ungebrochen, und ebenso die Gewissheit, dass die Stadt sich immer wieder neu erfindet. Das hat ihre abwechslungsreiche Geschichte eindrucksvoll bewiesen, wie in alten und neuen Werken nachzulesen ist.“

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Michi Strausfeld die Entdeckerin lateinamerikanischer Literatur in Deutschland ist. Vor allem während ihrer Zeit im Suhrkamp Verlag (von 1974 bis 2008 war sie dort für iberoamerikanische Literatur zuständig, seit 2008 ist sie bei S. Fischer) machte sie unter anderem Gabriel García Márquez und Isabel Allende hierzulande berühmt. Aber auch in Spanien kennt sich die Literaturvermittlerin, die zwischen Berlin und Barcelona lebt, bestens aus. Für die charmante Reihe „Literarische Einladung“ bei Wagenbach Salto hat sie – vergleichbar mit diesem Stadtplan – Romane zusammengestellt, die in Barcelona spielen und die sie mit einem kurzen, aber informativen Vorwort einleitet.

Die Auswahl ist dabei sehr anders als in diesem Text, unter anderem kommen auch Maria Barbal, Juan Marsé, Juan Pablo Villalobos, Llucia Ramis, Javier Cercas und Najat El Hachmi zu Wort, dazu einige Texte in Erstübersetzung ins Deutsche. Und wem Strausfelds „Literarische Einladung“ und dieser Literarische Stadtplan noch nicht genügen: Ulrike Fokken hat bereits im Jahr 2007 (zum Gastlandauftritt Kataloniens auf der Frankfurter Buchmesse) „Literarische Streifzüge“ durch Barcelona herausgegeben, ein Reiseführer, der an zahlreiche literarisch relevante Orte der Stadt bringt.

Rosa Maria Arquimbau – Forty Lost Years (1971, Englisch von Peter Bush, 2021)

Rund um die Ramblas, den Passeig de Gràcia und in Sant Antoni

„La Rambla was packed. Half of the shops were shut and the assistants in the shops that had opened stood on the pavement watching the people parade by shouting ‘long live’ and ‘death to’. Everybody seemed overjoyed, and I thought that was perfectly normal as anyone who was against what was happening would have stayed at home.”

Dieser Roman beginnt mit einem Knall: Die katalanische Republik wird ausgerufen. Laura, die Protagonistin in Rosa Maria Arquimbaus kurzem Roman „Forty Lost Years”, ist da gerade einmal 14, und, wie der Titel des Buches schon verrät, begleiten wir sie die nächsten vierzig Jahre ihres Lebens. Während sich Barcelona 1931 noch im Freudentaumel befindet, ändert sich das mit dem Beginn des Bürgerkriegs fünf Jahre später. Laura versucht, allen Widrigkeiten ihrer Zeit zum Trotz sich als Näherin einen Ruf in der Stadt zu verschaffen, wofür sie sich nicht nur von der patriarchalen Abhängigkeit emanzipiert, soweit ihr das möglich ist, sondern die Männer in ihrem Leben auch aktiv zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzt. Und sie versucht, die politischen Umstürze zu überleben, geht ins Exil, entscheidet sich dann aber doch zur Rückkehr in ihre Heimatstadt. „Forty Lost Years“, erstmals 1971 veröffentlicht, ist ein Klassiker der katalanischen Literatur, der bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, dank des britischen Verlags Fum d’Estampa, der Bücher aus dem Katalanischen auf Englisch verlegt, aber kürzlich einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurde. Ein informatives biografisches Essay im Nachwort erzählt zudem vom bewegten Leben der feministischen Autorin.

Rosa Ribas und Sabine Hofmann – Das Flüstern der Stadt (2014)

Via Laietana, Carrer de Pelai und die ganze Stadt

„Ana verspürte wieder die Niedergeschlagenheit, die sich ihrer bemächtigt hatte, je näher sie dem Polizeipräsidium in der Vía Layetana gekommen war. Sie kam von der Angst, die wie dichter Dunst aus den Eingeweiden des Gebäudes sickerte. Man wusste, dass in den Kellergeschossen gefoltert und getötet wurde, so wie man vieles wusste, über das man nicht offen redete … Die Angst hatte sich in den Mauern des Polizeipräsidiums festgesetzt und verbreitete sich wie eine ansteckende Krankheit in der Umgebung.“

Ein ganz besonderes Projekt ist die Krimi-Trilogie des Duos Rosa Ribas, eine barcelonesische Autorin, die 30 Jahre lang in Frankfurt lebte, und Sabine Hofmann. Die beiden Schriftstellerinnen haben die Kapitel nämlich abwechselnd in ihrer Muttersprache verfasst und dann die jeweils anderen Parts übersetzt. „Das Flüstern der Stadt“ sowie die zwei Nachfolgebände erzählen von der jungen Journalistin Ana Martí, die während der fünfziger Jahre in tiefster Franco-Diktatur versucht, politisch brisante Fälle aufzuklären. Der Mord an einer Arztwitwe führt sie durch die ganze Stadt, unter anderem zum Sitz der Geheimpolizei Brigada Político-Social in der Via Laietana 43 (heute befindet sich dort die Policía Nacional), berühmt-berüchtigt für franquistische Polizeigewalt und Folter. Mit ihren Ermittlungen begibt sich die anfangs noch unerfahrene, aber aufgeweckte Ana schnell selbst in Gefahr, als sie der Wahrheit bedrohlich nahekommt. „Das Flüstern der Stadt“ ist nicht nur ein spannender Krimi, sondern vermittelt auch ein gutes Gefühl für die erdrückende Atmosphäre im franquistischen Barcelona, die man sich heute so gar nicht mehr vorstellen kann.

Manuel Vázquez Montalbán – Der Pianist (1985, Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann, 2001)

El Raval rund um den Plaça del Pedró

„In Vierteln wie diesem sind die Leute immer auf dem Balkon, um das Wenige zu sehen, was auf den Straßen passiert, und sie schmücken ihn wie den vorweggenommenen eigenen Garten, von dem sie träumen: Geranien, Federnelken, Spargelkraut, alles, was in diesen Straßen mit wenig Sonne wächst.“

Manuel Vázquez Montalbán gehört zu den bedeutendsten Schriftsteller*innen der Stadt. Nicht nur ist er in Barcelona geboren (in der Carrer d’en Botella 11 im Raval), mit Pepe Carvalho hat er eine der wichtigsten literarischen Figuren Barcelonas und der gesamten spanischen Literatur geschaffen. Seit 1972 ermittelt der Privatdetektiv und auch nach Montalbáns Tod im Jahr 2003 wurde die Serie fortgesetzt. Andere Romane des Autors sind ebenfalls in Barcelona angesiedelt – wie „Der Pianist“. Der Roman erzählt zunächst von der Stimmung während der Transición, dem Übergang von der Diktatur in die Demokratie, und von einem alten Pianisten, der eine Drag-Queen-Show musikalisch begleitet, wo er einem Bekannten aus seiner Vergangenheit wieder begegnet – eine Begegnung, die ihn und die Leser*innen in frühere Zeiten zurückversetzen. Der zweite Teil spielt während der Hochphase der Diktatur Mitte der Vierziger auf den Dächern des Ravals, der dritte führt ins Paris von 1936, kurz vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs – ein Ritt durch 50 Jahre spanische Geschichte, ein Buch über das Schicksal von Gewinnern und Verlierern. (Man sollte bei der Lektüre allerdings im Kopf behalten, dass sowohl Roman als auch Übersetzung etwas älter sind und somit auch einige Begriffe wie z.B. „Transvestit“.)

Miqui Otero – Simón (2020, Deutsch von Matthias Strobel, 2022)

Sant Antoni rund um die Markthalle und den Büchermarkt

„Es gab in Sant Antoni und folglich im Baraja, dieser Taxifahrerkneipe, die Synthese und Symptom des Viertels war, Schauspieler, die nicht schauspielerten, und Gäste jeglicher Couleur, die es dafür umso lieber taten. Sant Antoni strebte nach der semiprosperierenden Seriosität von Ensanche, doch es konnte, weil es an sie angrenzte, den Trubel des Barrio Chino und das Amüsiermeilige der Avenida Paral·lel einfach nicht abschütteln, diesem einstigen Mekka des populären Vergnügens mit seinen großen Theatern, deren Leuchtreklamen längst erloschen waren.“

1992 ist das Jahr der Olympischen Spiele in Barcelona, das Jahr, in dem sich die Stadt radikal verändert – und auch Simóns Welt verändert sich. Sein engster Vertrauter, der zehn Jahre ältere Cousin Rico, verschwindet spurlos aus seinem Leben. Alles sei in den Büchern, hat Rico Simón beigebracht, und so liest sich der titelgebende Held in Miqui Oteros Roman durch die Weltliteratur, um eine Spur von ihm zu finden. Gleichzeitig mit dem Erwachen der Stadt wird auch Simón langsam erwachsen, verlässt die Kneipe der Eltern, verlässt seine Heimatstadt, um später doch wieder zurückzukehren – genau wie Rico, der eines Tages vor ihm steht. In „Simón“ erzählt Otero nicht nur eine Coming-of-Age-Geschichte und das Geheimnis um Ricos Verschwinden, sondern auch von knapp dreißig Jahren Barcelona, angefangen bei Olympiade über die Wirtschaftskrise bis hin zum Jahr 2017 mit dem islamistischen Anschlag auf den Ramblas und dem gescheiterten Referendum. Das ist manchmal langsam erzählt, im Großen und Ganzen aber ein interessanter Roman. Wer Spanisch spricht, dem sei Oteros Vorgänger „Rayos“ empfohlen, der in den Straßen vom Raval spielt und etwas mehr Drive hat.

Jessica Andrews – Milk Teeth (2022, noch keine Übersetzung)

Poble-sec und Barcelona und Umgebung

„The stink of piss and rotten fruit oozes from the gutters as I wind my way past red-lit bars and cluttered bazaars, strings of plastic lights and tangled plants hanging from doorways. I used to love the thrill of being in a new place, feeling my outer layers cracking, my skin unpeeling, learning the cadence of a different way to live, but as I peer into shop windows filled with fridge magnets and football shirts, watching people drinking beer in the midday sun, I feel detached from it all.”

Während es in den Romanen von spanischen und katalanischen Autor*innen oft um den Bürgerkrieg und die Diktatur geht, hat die Engländerin Jessica Andrews in „Milk Teeth“ einen anderen Blick auf Barcelona: den eines Expats. Ihre namenlose Protagonistin lebt in London, als ihr Freund sich dazu entschließt, nach Barcelona zu ziehen. Die Erzählerin steht jetzt vor der Wahl, ebenfalls umzuziehen oder zu bleiben. Aber ist diese Wahl überhaupt freiwillig? „Milk Teeth“ verhandelt die Frage nach unserem Platz in der Welt, und im Falle des Romans in gleich doppelter Hinsicht, denn nicht nur die Frage um den Ort ist hier relevant, sondern auch die um das Verhältnis von Körper und Umgebung. „Milk Teeth“ ist ein körperliches Buch in dem Sinne, dass viele Emotionen (gerade Traurigkeit) direkt unter der Haut der Protagonistin liegen, und in dem Sinne, dass sie mit einer Essstörung zu kämpfen hat. Das Barcelona, das sie erlebt, ist eine Stadt der Fülle, der Farben, der Feigen, Mangos, Vino Tintos und Musik auf den Straßen, während sie versucht, Lust, Genuss und Hunger zulassen zu lernen.

Cristina Morales – Leichte Sprache (2018, Deutsch von Friederike von Criegern, 2022)

Barceloneta

„Wie herrlich sind die Sommerabende in La Barceloneta! Hier ist es fünf Grad kühler als im Rest der Stadt, die Luft wirkt sauber, und kaum betritt man das Viertel, sinkt die Zahl der Touristen pro Quadratmeter auf erträgliche Werte, da alte Charnegos und pakistanische Familien die Plätze besetzen, Tische und Stühle, Radios und Fernsehgeräte auf die Straße stellen und Karten oder Domino spielen und dabei Fußball oder die Spielshow Pasapalabra schauen. Die Touristen wagen sich nicht über den Wechsel der Pflasterung zwischen Bürgersteig und besetztem Platz und begnügen sich damit, aus der Entfernung ein paar Fotos zu machen.“

Ein riesiger Hit in Spanien und in Deutschland mit dem Internationalen Literaturpreis für Autorin Cristina Morales und Übersetzerin Friederike von Criegern ausgezeichnet: In „Leichte Sprache“ erzählt Morales von vier Schwestern und Cousinen mit geistigen Beeinträchtigungen verschiedenen Grades, die in einer betreuten Wohnung in Barceloneta leben. Das Buch sprengt sämtliche Konventionen: Vom Leben dieser Frauen wird in unterschiedlichen Textarten erzählt, ob als Gesprächsprotokoll von Plena der Häuserbesetzerszene, Gerichtsakten, Fanzine oder in Form einer Autobiografie, die als WhatsApp-Nachrichten verfasst ist. Morales stellt auch die Erwartungen der Leser*innen auf den Kopf. Trotz ihrer Behinderung sind die Perspektiven von Nati, Àngels, Patri und Marga intellektuell, wütend, feministisch, antifaschistisch und ironisch. Die eine ist sexuell sehr aktiv, die andere rebelliert gegen machistischen Strukturen ihres Tanzkurses, während die nächste in der anarchistischen Szene der Stadt aktiv ist. „Leichte Sprache“ ist ein unkonventioneller, komplexer und radikaler Roman, der zeigt, wie spannend zeitgenössische spanische Literatur ist.

Carmen Laforet – Nada (1945, Deutsch von Susanne Lange, 2005)

Carrer d’Aribau 36

„Tausenderlei Gerüche, Kümmernisse und Geschichten stiegen vom Pflaster auf, beugten sich über die Balkone oder aus den Hauseingängen der Calle de Aribau. Munter strömte eine Welle von Menschen von der eleganten Gediegenheit der Diagonal herunter. Vom bunten Treiben der Plaza de la Universidad kam ihr eine andere entgegen. Ein Schmelztiegel der verschiedensten Schicksale, Merkmale und Geschmäcker, das war die Calle de Aribau. Und ich: nur ein Teilchen darin, klein und verloren.“

Die originale Barcelona-Gothic-Novel ist nicht Zafóns „Schatten des Windes“, sondern „Nada“ von Carmen Laforet. Bereits die Publikationsgeschichte ist interessant: Laforet hatte den Roman mit 23 Jahren verfasst und konnte aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters die franquistische Zensur umgehen – man nahm sie schlichtweg nicht ernst. Dabei hat „Nada“ eine subtile, aber scharfe Gesellschaftskritik. Die Autorin erzählt von der jungen Andrea, ihrem Alter Ego, die in die Carrer d’Aribau zu ihrer Familie zieht und sich nicht nur mit ihren eigenen Dämonen, sondern auch mit denen ihrer Angehörigen auseinandersetzen muss. Das düstere Wohnhaus ist wie ein Mikrokosmos, dient als Metapher für die Gesellschaft, mit dem emotionalen, spirituellen und physischen Niedergang Spaniens in der Zeit nach dem Bürgerkrieg. Auch wenn die Atmosphäre in der Aribau und dem Eixample-Viertel heute ganz anders sind (die Ecke etwa ist als „Gayxample“ bekannt) – wer einen Eindruck von Andreas Haus bekommen will: Es handelt sich mutmaßlich um die Nummer 36, wo Carmen Laforet selbst lebte und heute eine Plakette an sie erinnert.

Mercè Rodoreda – Auf der Plaça del Diamant (1962, Deutsch von Hans Weiss, 2007)

Plaça del Diamant und angrenzende Straßen

„Und dann kamen wir zur Carrer Gran, ich zuerst, und er hinter mir her, und beide rannten wir, und nach Jahren erzählte er noch davon, wie wir uns kennengelernt hatten, Colometa und ich, auf der Plaça del Diamant, wie sie auf und davon lief und wie dann genau vor der Straßenbahnhaltestelle mit einem Mal der Unterrock auf den Boden fiel.“

Mercè Rodoreda (1908-1983) gilt als die wichtigste auf Katalanisch schreibende Schriftstellerin, ihr Roman „Auf der Plaça del Diamant“ ist Weltliteratur. „Plaça del Diamant“ ist auch das Buch, das die meisten nennen werden, soll es um den Barcelona-Roman gehen. In der Stadt ist man sich der Bedeutung bewusst: Der kleine Diamantenplatz im Viertel Gràcia würdigt Rodoreda sowohl mit einer Plakette als auch mit mehreren Zitaten aus dem Roman. In ihm erzählt die Autorin von Natàlia, genannt Colometa, die als naive, junge Frau Quimet heiratet. Als dieser im Spanischen Bürgerkrieg fällt, bleibt Colometa verarmt in Barcelona zurück und muss irgendwie versuchen, sich und ihre zwei Kinder durchzubringen. Der Krieg ist bei Rodoreda nah und fern zugleich: Es gibt keine Kampfszenen, der Einfluss auf die Zivilbevölkerung ist aber massiv. In ihrem Kampf ums Überleben begleiten wir Colometa mehrere Jahrzehnte lang und dabei, wie sich von gesellschaftlichen und patriarchalen Erwartungen befreit, wie auch ihre Sprache sich verändert und wie sie langsam wieder zu Natàlia wird. „Auf der Plaça del Diamant“ ist inhaltlich wie literarisch interessant und eine zwar nicht ganz offen kommunizierte, dennoch massive Kritik an der Diktatur – kein Wunder, dass Rodoreda das Buch im Schweizer Exil veröffentlichte. Bis heute wurde der Roman in mehr als 40 Sprachen übersetzt, verfilmt, fürs Theater adaptiert und ist in Katalonien Schullektüre.

Hannes Köhler – Götterfunken (2021)

Avinguda Meridiana und Cárcel Modelo

„Die bunten Tücher, die sie vor die Fenster genagelt hatten, wehten leicht im Abendwind und ließen nur spärliches Licht einfallen; von draußen dröhnte und knatterte der Verkehr auf der sechsspurigen Avenida Meridiana, der ihn seit der ersten Nacht bis in seine Träume verfolgte. Schlangen aus Lastwagen und Motorrollern krochen durch seine Nächte, endlose Runden drehend, niemals still, niemals ruhend. Selbst im fünften Stock war die große Ausfallstraße eine Mitbewohnerin, die sich in jedem Zimmer breitmachte, die immer ihren Raum einforderte, der man zuhören musste.“

In ein entlegenes Viertel, namentlich ins Clot, führt der Berliner Autor Hannes Köhler in seinem Roman „Götterfunken“. Genau dort, an der Avinguda Meridiana, befindet sich die konspirative Wohnung seiner Protagonist*innen, die in der Endphase der franquistischen Diktatur im anarchistischen Widerstand sind, in den sie teils aus Überzeugung, teils eher aus Zufall gerieten. Ein Sabotageakt misslingt und bringt einen von ihnen für Jahre ins Modelo-Gefängnis. Auf verschiedenen Zeitebenen und in mehreren Städten (darunter auch Frankfurt) wird erzählt, was damals wirklich geschehen ist – und die große Frage, die die Anarchist*innen seit Jahrzehnten plagt: Hat sie einer aus dem innersten Kreis verraten? Übrigens: Im Modelo wurde 1974 auch Salvador Puig Antich (dem deutschen Publikum bekannt aus dem Film „Salvador“, in dem Daniel Brühl Puig Antich spielt) durch eine Nackenschraube hingerichtet. Seit 2017 ist das Gefängnis, das mitten im Eixample liegt, außer Betrieb und kann mit einer Führung besichtigt werden.

Teresa Solana – Mord auf katalanisch (2006, Deutsch von Petra Zickmann, 2007)

Sarrià, Gràcia und Zentrum

„Das Taxi fuhr den Carrer Pelai ganz hinunter, und als es bei den Rambles angekommen war, stieg Lídia Font aus. Sie überquerte die Straße und betrat das Zurich, ein Café, das in früheren Zeiten einmal Charme besessen hat, nach der Renovierung jedoch zu einem faden Lokal geworden ist, in dem nur noch Touristen sitzen. Nichts erinnert mehr an das schäbige Café, den Treffpunkt der Linken, wo sich Marihuanaduft mit dem Pißgestank aus der Toilette mischte.“

Dass die zwei ungleichen Privatdetektive Eduard und Borja eigentlich Zwillinge und nicht nur Geschäftspartner sind, darf keiner wissen, ebenso wenig, dass Borja in echt Pep heißt. Dies sei besser für die Arbeit mit der vornehmen Klientel der Stadt, meint jener. Und in der Tat: In „Mord auf katalanisch“ von Teresa Solana ist es ein hochangesehener Politiker, der die Hilfe der Beiden braucht. Seine Frau betrüge ihn mit einem Maler, fürchtet er, ausgerechnet mit einem Linken! Aber natürlich ist der Fall nicht so einfach, wie er zu sein scheint. Für Eduard und Borja beginnt eine Spurensuche, die sie vor allem durch Sarrià und Gràcia, aber auch durch ganz Barcelona führt. „Mord auf katalanisch“ ist ein Krimi, der gerade in der Zeichnung der Nebenfiguren zu sehr den Genrekonventionen verhaftet ist, sich aber leichtfüßig und kurzweilig, teilweise auch witzig liest, und der es dank genauer Angaben möglich macht, Eduard und Borja auf ihren Wegen durch die Straßen, Kneipen und Geschäfte der Stadt zu folgen (es gibt im Anhang sogar die Adressen!).

Paco Roca – Der Winter des Zeichners (2010, Deutsch von André Höchemer, 2021)

Centre Cívic El Coll – La Bruguera

Einer der wichtigsten Verlage, der trotz (oder gerade wegen) der Diktatur große Erfolge feiern konnte, war der 1939 gegründete Bruguera Verlag, der günstige Populärliteratur in hohen Auflagen vertrieb, vor allem Comics, die zu jener Zeit sehr beliebt waren – darunter auch „Mortadelo y Filemón“, in Deutschland bekannt als „Clever & Smart“. Dass innerhalb des Verlags aber nicht immer alles glatt lief, davon erzählt Paco Roca in seiner Graphic Novel „Der Winter des Zeichners“. Auf zwei Zeitebenen, eine in Blautönen, die andere in Sepia gehalten, berichtet Roca von einem kleinen Aufstand Ende der fünfziger Jahre von fünf Zeichnern, die ihren eigenen Verlag gründen wollten. Aber: „Die Freiheit in einem unfreien Land hatte ihren Preis“, wie es im Anhang treffend heißt, in dem neben Kurzbiografien der Verlagsmitarbeitenden auch kurz die Situation des Verlags skizziert wird. Heute befindet sich im 1986 geschlossenen Bruguera im kleinen Viertel El Coll (direkt hinter dem Park Güell) übrigens ein Nachbarschafts- und Kulturzentrum.

Foto von Logan Armstrong

Missbrauch, Kontrolle, sexualisierte Gewalt – Armie Hammer und das Erbe einer Dynastie

von Isabella Caldart

Content Warnung: Vergewaltigung, psychische und physische Gewalt, Gaslighting, Kannibalismusfantasien, Mord

Es ist die Bilderbuchfamilie, die Bilderbuchkarriere, das Bilderbuchleben. Ein großer blonder Mann mit breiten Schultern und All-American-Lächeln, mit der perfekten Ehefrau, zwei Kindern, einer reichen Dynastie im Hintergrund, Filmhits wie „The Social Network“, „On The Basis of Sex“ und vor allem „Call Me By Your Name“. Auch die Scheidung nach zehn Jahren Ehe, die im Juli 2020 bekanntgegeben wurde, kratzte nicht an seinem Image. Die Zukunft sah großartig aus für Armie Hammer. Bis im Januar 2021 ein anonymer Instagram-Account namens „House of Effie“ den Hollywood-Schauspieler unerwartet zu Fall brachte.

Von „House of Effie” zu „House of Hammer”

Am 10. Januar 2021 veröffentlichte „House of Effie“ auf Instagram zahlreiche DMs, die angeblich von Armie Hammer stammten. In diesen DMs schilderte er detailliert seine sexuellen Vorlieben, viele davon mit gewalttätigem Inhalt, einige davon beschreiben kannibalistische Fantasien („Ich bin zu 100 % ein Kannibale“). Vor allem Letztere ging in den sozialen Medien viral und sorgte für viele Witze und Memes. Witzig ist diese Geschichte aber ganz und gar nicht: Im März 2021 wurde Hammer von einer Frau namens Effie (mutmaßlich der Inhaberin des Instagram-Accounts) der Vergewaltigung und des physischen und psychischen Missbrauchs bezichtigt. Laut Effie lernten sie sich im Jahr 2016 über Facebook kennen, als Effie 20 Jahre alt war (Armie Hammer ist 1986 geboren), und führten dann eine vier Jahre dauernde On/Off-Beziehung, in der Hammer Effie kontrolliert, dominiert und missbraucht haben soll.

„Am 24. April 2017 vergewaltigte mich Armie Hammer über vier Stunden lang in Los Angeles, wobei er meinen Kopf wiederholt gegen eine Wand schlug und mein Gesicht verletzte“, sagte Effie in einem Videostatement. „Er beging auch andere Gewalttaten gegen mich, in die ich nicht eingewilligt habe.“ Laut einer der vielen privaten Nachrichten, die „House of Effie“ im Januar veröffentlichte, habe Hammer ihr danach geschrieben: „Du warst die intensivste und extremste Version, die ich je hatte. Dich auf dem Boden zu vergewaltigen, ein Messer gegen dich gerichtet. Alles andere wirkt langweilig. Wie du geweint und geschrien hast und ich über dir stand. Ich fühlte mich wie ein Gott. Ich habe noch nie solche Macht und Intensität verspürt.“

Nur wenige Tage nach dem Nachrichten-Leak ging Armie Hammers Ex-Freundin Courtney Vucekovich an die Öffentlichkeit und bestätigte dessen angebliche kannibalistischen Neigungen: „Er sagte zu mir, er wolle meine Rippe brechen, sie grillen und essen.“ Vucekovich ist eine der Schlüsselfiguren der dreiteiligen Dokuserie „House of Hammer“, die Anfang September auf dem Streamingdienst Discovery+ anlief. „House of Hammer“ geht aber einen großen Schritt weiter. Es geht nicht nur um Armie Hammer und die Vorwürfe der Vergewaltigung, des Missbrauchs, der psychischen Gewalt, Manipulation und Nötigung – es geht um die gesamte Hammer-Dynastie und die Frage: Wird solches Verhalten möglicherweise vererbt?

Gegenderte Gewalt der Hammer-Männer

Gewalt, das dröselt die Doku auf, ist ein integraler Teil der Hammer-Männer, und sie reicht viele Generationen zurück. (Ein Jahr vor „House of Hammer“ hatte Vanity Fair schon ein sehr ausführliches Porträt über die Familie und die Missbrauchsvorwürfe gegen Armie veröffentlicht.) Casey Hammer, Armie Hammers Tante, ist neben Vucekovich die zweite wichtige Augenzeugin in „House of Hammer“. Sie ist seit langem von ihrer Familie entfremdet und hat die Machenschaften der Hammer-Dynastie bereits in ihrem selbstverlegten Memoir „Surviving My Birthright“ (2015) geschildert.

Begründer dieser Dynastie und Patriarch war Armand Hammer (1898-1990), der als Inhaber des Erdöl- und Erdgasunternehmens Occidental Petroleum das Familienvermögen erwarb. Sowohl Armand als auch sein Sohn Julian sowie dessen Sohn Michael – Caseys Bruder und Armies Vater – haben laut Casey und „House of Hammer“ Zeit ihres Lebens (Julian starb 1996, Michael lebt noch) Frauen unterdrückt und misshandelt. „Jede Generation in meiner Familie war in dunkle Machenschaften verwickelt, und es wird immer schlimmer“, sagt Casey Hammer in der Doku. Armand Hammer soll eine Geliebte gehabt haben, die stets auf Abruf all seinen sexuellen Forderungen bereitstand; in den Scheidungspapieren von seiner zweiten Frau heißt es über ihn, er sei „ein Meister der psychologischen Kriegsführung“ gewesen.

Julian feierte bei sich zu Hause oft Partys in großem Stil, auf denen es nicht nur Schalen voller Kokain gab, sondern immer auch sehr junge Frauen anwesend waren, viele sogar noch minderjährig; auch sein Sohn Michael war bei diesen Partys anwesend. Julian, so sagt Casey, habe seine Ehefrau regelmäßig verprügelt, die mit ihrer Tochter jedes Mal ins Motel floh, bis sie sich Jahre später endlich trennen konnte. Casey erinnert sich auch an eine dieser Partys, auf denen sie als kleines Mädchen ein Telefonbuch neben ihren Kopf halten solle, damit ihr Vater darauf schießen könne – zwecks Entertainments seiner Gäste. In der dritten Folge von „House of Hammer“ sagt Casey außerdem, durch eine triggernde Situation später in ihrem Leben habe sie sich an ein weiteres Kindheitstrauma erinnert: Ihr Vater habe sie sexuell missbraucht.

Korrupte Millionärsfamilie

Mindestens genauso brisant sind die politischen Verwicklungen der Familie. Julius Hammer, Armands Vater, wird nur kurz erwähnt – er wurde im 19. Jahrhundert im Russischen Kaiserreich geboren, war dann Mitbegründer der Kommunistischen Partei in den USA (daher auch der Name seines Sohns, der für „Arm and Hammer“ stehen soll), und auch Armand hatte Verbindungen zur Sowjetunion – zu keinem Geringeren als Lenin und Stalin –, half den Sowjets, Geld in den USA zu waschen und führte sein Ölimperium später zu so großem Erfolg, weil er freigiebig Bestechungsgelder zahlte. Doch nicht nur im Kreml ging Armand ein und aus, zum Weißen Haus und zum Buckingham Palast hatte er ebenfalls beste Beziehungen, veranstaltete etwa für Prinz Charles und Lady Di einmal einen großen Empfang.

Sein Sohn Julian wiederum, Armie Hammers Großvater, erschoss im Mai 1955 kaltblütig einen Bekannten, dem er 400 Dollar schuldete – ein Mord, der nie geahndet wurde (er galt als „Selbstverteidigung“), weil Armand mit genug Geld nachhalf. Schließlich musste der Name Hammer makellos bleiben. Aber nicht nur Julian, auch Armand war verantwortlich für den Tod anderer Menschen. In dem Fall sogar für den von 167: Eine Ölplattform namens Piper Alpha vor der Küste Schottlands fing im Juli 1988 Feuer, Schuld waren mangelnde Sicherheitsvorkehrungen. Für Armand Hammer machte sich seine gute Beziehung zu den Royals damals bezahlt: Als er Betroffenheit heuchelte und kurz darauf mit Charles und Diana gesehen wurde, verzieh ihm die Öffentlichkeit diesen bis dato schwersten Unfall auf einer Bohrinsel.

Das Weiße Haus soll hier nicht unerwähnt bleiben: Armand Hammer war in den Watergate-Skandal verwickelt. 1972 hatte er illegale Spenden in Höhe von 54.000 Dollar an Nixon getätigt (inflationsbereinigt heute eine Summe von gut 380.000 Dollar). Im Jahr 1989 wurde er vom damals amtierenden US-Präsidenten George H. W. Bush begnadigt.

Machtspiele gab es auch innerhalb der Familie: Wenige Monate vor seinem Tod im Alter von 92 Jahren änderte Armand Hammer sein Testament. Die aktuelle Version ließ seinen Sohn Julian, mit dem er sich nie verstanden hatte, sowie Enkelin Casey so gut wie außen vor, Enkel Michael, Armie Hammers Vater, erbte fast das gesamte Familienimperium. Sie habe versucht, die Serie „Succession“ zu schauen, sagt Casey Hammer in „House of Hammer“. „Ich musste es ausschalten. Nimm ‚Succession‘ mal eine Million, und das ist meine Familie.“

Erbe der Gewalt

Zurück zu Armie Hammer. Armand, Julian, Michael, Armie – sie alle haben Frauen äußert brutal behandelt und auch sonst in vielerlei Hinsicht geringe Moral und eine hohe Gewaltbereitschaft gezeigt. Sein Frontallappen (unter anderem zuständig für das Sozialverhalten, für Empathie, Gefühle und die Persönlichkeit) sei noch nicht vollständig ausgebildet, hatte Armie Hammer früher einmal gescherzt. „Du wachst nicht eines Tages auf und wirst ein Monster – das ist erlerntes Verhalten“, sagt seine Tante Casey in der Dokuserie. Ob Armie Hammers Gewalttätigkeit und die Gewalt der Hammer-Männer generell nun genetisch oder erlernt ist, das sollen Neurolog*innen, Psycholog*innen oder Genetiker*innen erforschen. Fakt ist: Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die Familie und scheint mit Armie Hammer einen negativen Höhepunkt erreicht zu haben.

Während sich die zweite Folge von „House of Hammer“ mit der Familienhistorie auseinandersetzt, legt die erste ihren Fokus auf die Opfer Hammers. Im Zentrum steht vor allem bereits erwähnte Ex-Freundin Courtney Vucekovich, eine eigentlich selbstbewusste (so wirkt sie) Frau, Gründerin, erfolgreich. Wie konnte es passieren, dass Armie Hammer so viel Macht und Kontrolle über sie ausgeübt hat?

Vucekovich beschreibt den Beginn ihrer Beziehung, wie Hammer sie mit Geschichten aus seiner Kindheit früh einlullte, um ihr Vertrauen zu gewinnen, wie er Love bombing betrieb (ihr ununterbrochen Nachrichten voller Aufmerksamkeit und Zuneigung schickte), wie es ihm immer wieder gelang, dass sie selbst die zahlreichen Red Flags ignorierte – so bekam sie, bevor sie sich jemals verabredet hatten, von ihm ein Foto ihrer Wohnung in Dallas, als sie verreist war. „Ich weiß noch, dass ich dachte: Flirten wir? Oder ist das beängstigend?“, sagt sie in der Doku. Man merkt, wie Vucekovich versucht, sich im Nachhinein einen Reim darauf zu machen, wie Hammer sie dermaßen manipulieren konnte: „Es ist verrückt, was der Verstand bereit ist zu übersehen oder zu rechtfertigen, wenn man jemanden wirklich mag.“

Für Außenstehende wirkt das Verhalten von Courtney Vucekovich unglaublich naiv und wenig nachvollziehbar, aber genau darum geht es: Jede*r, auch erfolgreiche, selbstbewusste, populäre Frauen kann das passieren, auch sie können in einen Zyklus aus Zwang, Unterdrückung, Gewalt und übertriebener Zuneigungsbekundung abrutschen. Dadurch wird nochmal deutlich: Die Schuld trägt immer der Täter.

Erzählweise der Dokumentation

Auch wenn „House of Hammer” einen starken Fokus auf die Opfer legt – neben den zentralen Figuren Courtney Vucekovich und Casey Hammer werden unter anderem eine weitere Frau, mit der Armie Hammer Nachrichten austauschte, die sich am Ende aber nie mit ihm traf, und ein ehemaliger Mitarbeiter vom Filmset interviewt –, so hat die Doku auch einige kritikwürdige Elemente. Da ist zum Beispiel die Erzählweise, die es nicht schafft, sich gänzlich vom konventionellen True Crime Storytelling zu lösen, teils mit Cliffhangern arbeitet, mit unheimlicher Musik und nachgestellten Szenen. Auch die These, das Böse sei vererbbar, flammt in dem Versuch, alle Hammer-Generationen und ihren Hang zur Gewalt miteinander zu verknüpfen, immer wieder auf. Und diese These ist mindestens angreifbar.

Ein größeres Problem ist aber, dass „House of Hammer“ die Moral und die Ideale, die hochgehalten werden, selbst missachtet. So wird mehrfach erwähnt, dass die Opfer im Vordergrund stehen sollen, und mit Vucekovichs und Casey Hammers Perspektiven stimmt das auch. Allerdings werden von der Frau, mit der Hammer nach Vucekovich eine Beziehung einging, die nahezu identisch war (dasselbe Motel, dieselbe Playlist, vergleichbare Verhaltensweisen), und Effie, die mutmaßlich auch „House of Effie“ ist, nur alte Videoaufnahmen eingeblendet. Der Grund: Beide Frauen wollten nicht Teil der Doku sein.

Effie beziehungsweise der Instagram-Account „House of Effie“ postete nach der Ankündigung der Doku in ihren Stories, die archiviert sind, sie habe nicht ihr Einverständnis dazu gegeben, dass die Screenshots ihrer DMs in der Dokuserie verwendet werden dürften. „Es ist so traumatisch und schmerzhaft für mich, wenn andere Menschen über mein Trauma sprechen oder versuchen, meine Geschichte nachzuerzählen”, schreibt sie. Natürlich sind die Screenshots der Hammer-DMs elementar für die Doku, und ohne „House of Effie“ wäre die Geschichte niemals ins Rollen gekommen. Aber gleichzeitig verlässt „House of Hammer“ hier die moralische Grauzone, indem die Wünsche eines der Opfer komplett ignoriert werden.

Konsequenzen

Wie geht es jetzt weiter mit Armie Hammer? Bereits wenige Tage nach dem DM-Leak durch „House of Effie“ veröffentlichte die britische Boulevardzeitung Daily Mail am 13. Januar 2021 ein Video, das den Schauspieler zeigt, der hinter dem Steuer trinkt und Drogen konsumiert. Noch am selben Tag stieg er aus der Rom-Com „Shotgun Wedding“ aus, in der er den Love Interest von Jennifer Lopez hätte spielen sollen, angeblich um mehr Zeit für seine Kinder zu haben; auch seine Agentur ließ ihn fallen. Der Film „Death on the Nile“ mit Hammer in einer der Rollen – eine Neubesetzung sei zu teuer gewesen – kam noch im Februar 2022 ins Kino (er floppte). Armie Hammer ging im Mai 2021 für sechs Monate in Reha – bezahlt übrigens von Robert Downey, jr. Im Juli dieses Jahres wurde bekannt, dass er wohl auf den Cayman Islands, wo er als Kind einige Jahre lang verbracht hatte, als Concierge arbeiten würde. 

Ob für Hammer eine Art Wiedergutmachung möglich ist, wenn er öffentlich genug Reue zeigt, zu Kreuze kriecht und Besserung gelobt, ist schwer vorherzusehen. Die Entertainment-Industrie beweist regelmäßig, dass auch sexualisierte Gewalt kein Grund für dauerhafte Ächtung ist (siehe den Heard/Depp-Prozess, den anhaltenden Support für Roman Polanski oder die Rückkehr von Louis C.K.). Die Vorwürfe gegen Armie Hammer jedoch sind so massiv, dass es selbst für ihn schwierig sein wird, wieder mit offenen Armen empfangen zu werden. Allerdings: Angeklagt wurde er bisher noch nicht. Vielleicht ändert das die Doku „House of Hammer“ jetzt.

Foto von Josh Nuttall auf Unsplash

History Keeps Me Awake At Night – Leben, Tod und Afterlife von David Wojnarowicz

von Isabella Caldart

Die Collage Untitled (Genet, after Brassaï) ist ein frühes Werk des Künstlers David Wojnarowicz aus dem Jahr 1979 und ist eher für die Debatte, die sie entzündete, bekannt als für ihren künstlerischen Wert. Größtenteils in Schwarzweiß gehalten mit einigen farblichen Akzenten, zeigt die Collage im Vordergrund den französischen Schriftsteller Jean Genet (fotografiert von Brassaï) mit Heiligenschein, im Hintergrund eine heruntergekommene Halle und Engel. Rechts oben im Bild ist eine klassische Darstellung von Jesus Christus am Kreuz zu sehen. Dieser Jesus aber verdreht die Augen nicht, weil er im Sterben liegt, sondern weil er sich gerade Heroin gespritzt hat, wie der Riemen, mit dem sein Arm abgebunden ist und die Spritze unmissverständlich klarmachen.

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Here we are now, entertain us – Wem gehören die 90er Jahre?

von Isabella Caldart

Vor einigen Jahren ist den Millennials (zu denen ich auch gehöre) – wie auch der Öffentlichkeit generell – aufgegangen, dass sie nicht mehr die „junge Generation“ sind. Diese Erkenntnis fällt in etwa mit Beginn der Pandemie zusammen, als alle Welt aus Langeweile oder Einsamkeit TikTok installierte und die wahre junge Generation entdeckte, die dort bereits sehr aktiv war: Gen Z. Wenn man ehrlich ist, hatten Millennials (in etwa die zwischen 1980 und 1995 Geborenen) eine sehr lange Zeit, rund zwanzig Jahre, in der sie als die Jungen, die Trendsetter, die Zukunftsgewandten, diejenigen, die die Kultur und Gesellschaft bald prägen würden oder schon prägten, angesehen wurden. Dass wir, die wir schon lange fest im Erwachsenenleben verankert waren, plötzlich abgelöst wurden, kam für viele dennoch als Schock oder zumindest unbehagliche Wahrheit.

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Türen öffnen – Interview mit Sharon Dodua Otoo über das Schwarze Literaturfestival „Resonanzen“

Das Gespräch führte Isabella Caldart

Über Diversität in der Buchbranche wird seit einigen Jahren viel diskutiert, um ihren Mangel zu kritisieren und um für eine größere Vielfalt einzustehen. Sharon Dodua Otoo, Bachmann-Preisträgerin und Autorin des Romans „Adas Raum“ (Fischer 2021) gehört in diesem Diskurs zu den wichtigsten Stimmen- Jetzt hat sie gemeinsam mit den Ruhrfestspielen das Schwarze Literaturfestival „Resonanzen“ (19. bis 21. Mai) ins Leben gerufen, um anderen deutschsprachigen Schwarzen Autor*innen den Weg in den Literaturbetrieb zu ermöglichen. Wie genau das aussehen soll, verrät sie uns im Interview.

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And Just Like That… macht das alles narrativ keinen Sinn – Über das Revival von „Sex and the City“

von Isabella Caldart

Das Problem fängt schon beim Titel an. Während Sex And The City zwei prägnante Begriffe im Titel hat, die direkt darauf verweisen, worum es in der Serie geht, heißt das Revival And Just Like That… samt drei Pünktchen, die wohl sowohl eine gewisse Verspieltheit als auch einen Raum vieler sich öffnender Möglichkeiten andeuten sollen. Zusammen mit dem Titel wirkt das merkwürdig schwammig und unentschlossen.

Kulturelles Erbe

Sex And The City ist also zurück (oder auch nicht, da weder Sex noch die Stadt sonderlich präsent sind), und ob man damit nun etwas anfangen kann oder nicht: In den vergangenen Monaten bekam diese Serie viel Aufmerksamkeit, wurde in etablierten Medien ebenso unter die Lupe genommen wie von Fans auf TikTok. Seit der Bekanntgabe im Januar 2021, dass es diese Neuauflage, über die immer mal wieder spekuliert worden war, in der Tat geben würde, und vor allem seit mehr und mehr Informationen über den Cast veröffentlicht wurden, kristallisierten sich insbesondere vier Fragen heraus: Wie würde die Serie mit dem Verlust ihrer beliebtesten Protagonistin umgehen? (Kim Cattrall hat mit Nachdruck deutlich gemacht, dass sie nicht nochmal in die Rolle von Samantha schlüpfen wird.) Wie würde das Leben von Frauen über 50 dargestellt werden? Welche Rolle würde Grey’s Anatomy-Star Sara Ramírez als non-binary Latinx Person in der Serie haben? Und wie würde Willie Garsons überraschender Tod während der Dreharbeiten eingebaut werden?

Dass Sex And The City (1998-2004) neu aufgelegt wurde, überrascht in der ganzen Welle der Reboots und Revivals, die wir derzeit erleben, wenig. Die Fanbase ist groß und treu, das Bedürfnis, Carrie, Miranda und Charlotte wiederzusehen vorhanden. Mit den beiden Kinofilmen (2008, 2010) gab es bereits zwei kommerziell erfolgreiche Fortsetzungen. Und eine Serie, die Frauen in ihren 50ern in den Fokus nimmt, ist an und für sich eine gute Idee. Schließlich sind Frauen, die die 40 überschritten haben, in Film und Fernsehen nach wie vor stark unterrepräsentiert. Außerdem hat Sex And The City nicht nur die Popkultur, sondern auch (zumindest auf die USA bezogen) die Gesellschaft beeinflusst, da die Serie Frauen zeigte, die selbstbewusst über ihr Sexleben sprachen; noch in den neunziger Jahren ein Novum. Ich war nicht die einzige, die die Hoffnung hatte, dass man sich dieses kulturellen Einflusses und Erbes bewusst wäre und dass man nach den vielen Jahren, die seit Ende der Serie (beziehungsweise seit dem letzten Film) vergangen waren, auch die Zeit hatte, ein gutes Produkt zu entwickeln. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Das Revival stand in mehrfacher Hinsicht unter keinem guten Stern.

Wenn die Fiktion die Realität beeinflusst, wenn die Realität die Fiktion beeinflusst

Das Finale der Serie sowie die beiden Filme verraten den eigentlichen Spirit von Sex And The City, laut dem die vier Freundinnen ihre Seelenverwandten sind und keine Männer brauchen – am Ende sind alle in festen Beziehungen. Und diese Beziehungen sind rund 15 Jahre später zum Start von And Just Like That… immer noch intakt. Das Ende der ersten Folge wartet dann aber mit einem Knaller auf: Big stirbt nach dem Training auf einem Hometrainer der Marke Peloton an einem Herzinfarkt. 

Bigs Tod in der ersten Folge und seine Beerdigung in der zweiten, am selben Abend ausgestrahlten Episode setzten eine Kettenreaktion in Gang, die zeigt, was für eine interessante Wechselbeziehung (Pop-)Kultur und Realität haben können. Die Firma Peloton, die Geld für die Produktplatzierung bezahlt hatte, wusste nicht, in was für einem Kontext ihr Gerät gezeigt werden würde: Doppelt bitteres Marketing für Peloton, denn erst wenige Monate zuvor war die Firma nach dem tödlichen Unfall eines Kindes und anderen Sicherheitsproblemen in die Negativschlagzeilen geraten. Nach außen hin nahm Peloton den Tod einer Serienfigur auf einem ihrer Produkte aber mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis; es wurde ein Statement veröffentlicht, in dem auf Bigs Herzprobleme in der sechsten Staffel und seinen „extravaganten Lifestyle“, seine Vorliebe für „Cocktails, Zigarren und große Steaks“, verwiesen wurde. Nur wenige Tage später folgte ein gewitzter Werbeclip, in dem Big-Darsteller Chris Noth mit seiner Peloton-Trainerin aus And Just Like That… am Kamin sitzt, und in dem Ryan Reynolds das Voiceover für die Werbung liefert. Peloton nahm mit dieser Werbung eine Korrektur der Fiktion vor, um das Image des Unternehmens zu retten.

Wenige Tage später, am 16. Dezember 2021, veröffentlichte der Hollywood Reporter einen Artikel, laut dem zwei Frauen in den Jahren 2004 beziehungsweise 2015 von Chris Noth vergewaltigt wurden. Kurze Zeit später wurden weitere ähnliche Vorwürfe gegen den Schauspieler bekannt. Peloton zog die gerade erst veröffentlichte Werbung zurück und Big wurde in der Serie aus sämtlichen Flashbacks von Carrie gestrichen. Mehrere Tage später veröffentlichten Sarah Jessica Parker, Cynthia Nixon und Kristin Davis ein gemeinsames Statement in ihren Social-Media-Accounts: „Wir sind zutiefst betroffen über die Anschuldigungen gegen Chris Noth. Wir unterstützen die Frauen, die sich gemeldet und ihre schmerzlichen Erfahrungen mitgeteilt haben. Wir wissen, dass dies eine sehr schwierige Sache sein muss, und wir würdigen sie dafür.“

Für And Just Like That… war der Verlust also ein dreifacher: Samantha, die nur noch sporadisch in Kurznachrichten an Carrie auftauchte, Big, bei dem, wenn man es zynisch ausdrücken will, das Timing gerade so stimmte, dass alle Szenen entfernt werden konnten – und eben Carries bester Freund Stanford, da der Schauspieler Willie Garson am 21. September 2021 an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstarb. Wie auch Samanthas Abwesenheit wird Stanfords plötzliches Verschwinden auf unbefriedigende Weise erklärt: Auf einem Post-it hinterlässt er Carrie die Notiz, dass er nach Tokio gezogen sei. In einem begleitenden Podcast zur Serie erklärte Executive Producer, Autor und Regisseur Michael Patrick King, dass man eigentlich einen richtigen Abschied von Stanford und Carrie vorgesehen hatte, doch zu dem Zeitpunkt war Garson schon nicht mehr in der Lage, diese Szene zu drehen. Und da das Team beschloss, Garsons echten Tod nicht für eine rührselige Storyline ausschlachten zu wollen, wurde er auf diese knappe Weise aus der Serie geschrieben.

Carrie, Charlotte und Miranda – und Samantha

Aber zurück zum Inhalt: Charlottes Storyline ist während der gesamten Staffel kaum existent. Neben ihrer Rolle als Mutter geht es um ihre Rolle als Ehefrau; ein richtiger eigener Handlungsbogen wird ihr aber nicht zugestanden. Bei Miranda ist dafür umso mehr los. Zu Beginn von And Just Like That ist sie zurück an der Uni, weil sie aufgrund ihres Entsetzens wegen des Muslim Travel Bans ihren alten Job als Anwältin aufgegeben hat und jetzt umschulen will, um sich sinnvolleren Aufgaben zu widmen. Miranda, die zu Zeiten von Sex And The City die progressivste der vier Frauen war, ist in diesem Revival wie verwandelt. Erst tritt sie, die in Brooklyn wohnt, bei ihrer Begegnung mit ihrer Schwarzen Dozentin Nya in jedes erdenkliche Fettnäpfchen, dann verhält sie sich ihr gegenüber wie ein klassischer White Savior. Es ist, als hätte man im Writers‘ Room (in dem sowohl Sex And The City- als auch neue Drehbuchautor*innen wirkten) komplett vergessen, wer Miranda überhaupt ist. Innerhalb kürzester Zeit freunden sich Miranda und Nya dann an, ohne dass je wirklich ersichtlich wird, warum überhaupt. Kurz darauf lernt sie zudem Che kennen, nicht-binäre*r Podcaster*in und Comedian, und verliebt sich in Che.

Und Samantha? Erleidet fast noch mehr Ungerechtigkeit. Ihre Abwesenheit wird damit begründet, dass Carrie sie als PR-Managerin gefeuert habe, woraufhin Samantha nach London gezogen ist und jeden Kontakt abgebrochen hat. Als würde Samantha das jemals tun. Im Verlauf der Staffel hat sie via Handy hin und wieder Kontakt mit Carrie, bis Carrie im Finale in Paris ist und sie fragt, ob sie sich treffen wollen. Samantha willigt ein. Ein Wiedersehen das – natürlich – nicht gezeigt wird und sich für uns Zuschauer*innen somit ziemlich unbefriedigend anfühlt

Während Miranda nicht wiederzuerkennen ist und Charlotte wenig nennenswerte Szenen hat, ist es ausgerechnet Carrie, aufgrund ihres egozentrischen Verhaltens die wohl unbeliebteste Protagonistin der Originalserie, diejenige, der mit And Just Like That… eine Art der Wiedergutmachung widerfährt. Carries Trauerprozess um ihre große Liebe ist teilweise zwar messy, doch genau deswegen auch realistisch. Dass sie nach der Testamentsverlesung Natasha auflauert, weil Big auch seine Ex-Frau bedacht hat, ist zwar neurotisch, aber sehr typisch für sie – und führt am Ende zur Aussprache, die beiden Frauen eine Art Abschluss ermöglicht. Auch Carries kurze emotionale Ausbrüche mehrere Monate nach dem Tod sind realistisch dargestellt. Und gleichzeitig gibt es zum Ende der Staffel Hoffnung auf eine potentielle neue Liebe, was uns ein Bild vermittelt, das in Filmen und Serien oft ausgespart ist: Für Frauen jenseits der 50 ist ein Neuanfang immer noch möglich

BPoC-Pendants

Der Mangel an diversen Figuren bei Sex And The City ist seit Jahrzehnten im Diskurs über die Serie ein Thema. And Just Like That… versucht, all das gutzumachen, was Sex And The City versäumt hat. Nicht nur wurden nicht-weiße Drehbuchautor*innen engagiert, auch die Welt von Carrie, Miranda und Charlotte wurde diversifiziert. Auf recht platte Weise allerdings: Jede der Figuren bekommt ein BPoC-Pendant zur Seite gestellt. Charlotte hat eine reiche Schwarze Freundin namens LTW (Nicole Ari Parker), Carrie freundet sich mit ihrer indischsstämmigen Maklerin Seema (Sarita Choudhury) an und Miranda bekommt mit Nya (Karen Pittman) eine Schwarze Dozentin, mit der sie sich nach einem holprigen Kennenlernen ebenfalls anfreundet. Noch dazu gibt es Che, ein*e non-binary Latinx Stand-up-Comedian, dargestellt von Sara Ramírez. Man hat sich also redlich bemüht.

Doch wie schon Sex And The City weiß auch And Just Like That… nicht mit seinen nicht-weißen Figuren umzugehen. Narrativ mutet es merkwürdig an, dass alle vier Neulinge erst in der ersten Episode oder zeitlich kurz davor die Protagonistinnen kennenlernen, und sich nicht wenigstens eine Person schon in den Jahren, Jahrzehnten davor mit Carrie, Charlotte oder Miranda angefreundet hat. Es ist verständlich, dass man im Writers‘ Room alles getan hat, um den Eindruck zu vermeiden, man wolle Samantha irgendwie ersetzen. So jedoch wirkt alles wenig organisch.

Wenig organisch sind dann auch die neuen Charaktere selbst, die auf eine merkwürdige Weise in die Handlung eingebaut wurden: Zunächst sieht man sie jeweils nur mit einer der drei Protagonistinnen zusammen, was Sinn macht, um sie langsam an die Zuschauer*innen heranzuführen. Dann werden sie aber teilweise über Folgen gar nicht gezeigt, um plötzlich unabhängige Storylines zu bekommen, die aber erstaunlich flach bleiben. 

LTW ist eine reiche, kunstinteressierte Mutter, die Charlotte so ähnelt, dass sie sogar „Black Charlotte“ genannt wird. Seema ist mit Mitte 50 noch auf der Suche nach „dem Richtigen“, während Nya und ihr Partner darüber diskutieren, ob sie es doch noch mit dem Kinderkriegen versuchen sollen. Die drei Schauspielerinnen, alle talentiert und charismatisch, bemühen sich, die Rollen mit Leben zu füllen, doch das seichte Drehbuch schränkt sie erkennbar ein, die Figuren bleiben eindimensional. Während Seema zweifelsfrei die beste neue Figur ist, witzige One-Liner hat und sich ihre Freundschaft mit Carrie glaubwürdig entwickelt, verschwindet LTW immer mehr im Hintergrund. Die Story rund um Nyas mögliche Unfruchtbarkeit hat Potential – doch leider lernt man die Figur zu schlecht kennen, um sich wirklich für sie zu interessieren, und die Kind-ja-oder-nein-Gespräche wiederholen sich sehr.

„I was cravin‘ me some Che”

Und dann wäre da noch Che. And Just Like That… bemüht sich in Sachen Diversität auch um mehr Queerness. Bei Charlottes Kind funktioniert das sogar sehr gut: Dass sich ihr Kind plötzlich Rock nennt und nicht mehr als Mädchen identifiziert, ist für Charlotte und Harry zunächst ein großer Brocken zu schlucken und entsprechend verhalten sie sich Rock gegenüber; diese Darstellung ist aber realistisch. Im Verlaufe der Episoden begleiten wir Harry und Charlotte auf ihrem Weg zur Akzeptanz, die im Finale darin mündet, dass sie für Rock eine They-Mitzwa schmeißen wollen (die Rock schließlich ablehnt mit der Begründung, they wolle sich auf keine einzige Identität festlegen, nicht mal auf die – und hier schnappen die Eltern hörbar nach Luft – auf die als New Yorker*in).

All das, was bei Rock richtig gemacht wurde, wurde bei Che versemmelt. Che ist ohne Frage die Figur des Revivals, die mit Abstand am stärksten diskutiert wurde. Die meisten Fans und Kritiker*innen sind sich einig: Sie mögen Che nicht. Che ist so unbeliebt, dass Michael Patrick King zu their Verteidigung sprang und Che in einem Interview kürzlich als „ehrlich, gefährlich, sexy, witzig und warm“ bezeichnete. Eins ist sicher: Witzig ist Che wirklich nicht. Die zahlreichen Stand-up-Shows, die wir ertragen müssen, sind nicht lustig, sondern nur cringe. Kein einziger Witz zündet; es geht ausschließlich um Sex und Gender (und das auf plumpe statt geistreiche oder facettenreiche Weise), als wäre they die Karikatur einer queeren Person.

Und Che wirkt genuin unsympathisch. Nun muss ein queerer Charakter natürlich nicht auf Beliebtheit angelegt sein. Zu Recht sagte Sara Ramírez in einem Interview: „Wir haben eine Figur geschaffen, die ein menschliches Wesen ist, unvollkommen, komplex, und nicht existiert, um gemocht zu werden oder Zustimmung von jemandem zu bekommen.“ Außerdem sind oft die Serienfiguren, die widersprüchlich sind, ob Anti-Held*innen oder eindeutige Bösewichte, die interessantesten. Dass Che unsympathisch ist, ist also nicht unbedingt das Problem. (Es sei trotzdem angemerkt, dass das extrem narzisstische und forsche Verhalten eher unangenehm als unterhaltsam wirkt.) Das Problem mit der Figur ist zweierlei: Zum einen wird Che auf Queerness reduziert. Man kann kaum mitzählen, wie oft Che die eigene Nicht-Binarität betont, als wäre das einzige, was nicht-binäre Menschen machen, allen zu erzählen, dass sie nicht-binär sind – ein klassisches queerfeindliches Stereotyp. Viel mehr über Ches Backstory erfahren wir nicht. Es handelt sich um eine erstaunlich eindimensionale Figur, obwohl sie so präsent ist in der Serie.

Das andere Problem ist Ches Verhältnis mit Miranda. Die Geschichte ist oft nicht stimmig. Es ist lobenswert, dass erzählt wird, dass auch Frauen jenseits der 50 noch ihre Queerness entdecken können, wie es bei Miranda der Fall ist. Mirandas wundersame Charakterwandlung macht hier aber ebenfalls keinen Halt. Sie himmelt Che auf eine Weise an, die überhaupt nicht zu ihrer Person passt. Das erste Mal Sex haben sie dann in einer Szene, als Che bei Carrie, die nach einer OP im Bett schläft, mit Tequila auftaucht, sich mit Miranda in Carries Küche betrinkt und sie fingert, während Carrie, die aufgewacht ist, weil sie aufs Klo muss, in eine Flasche pinkelt und alles mitbekommt.

Wirklich schlimm ist, wie Steve in diesem Handlungsstrang um Che und Miranda behandelt wird. Das Problem in ihrer Beziehung ist die Inkonsistenz, betrachtet man das gesamte SATC-Universe: Im ersten Film ist es Steve, der Miranda betrügt, das aber sofort beichtet und seinen Fehltritt wirklich bereut. Dennoch kann Miranda ihm nur schwer verzeihen. Und nun betrügt sie Steve nicht nur ein Mal, sondern monatelang. Als sie ihm schließlich sagt, dass sie die Scheidung möchte, hat sie nicht einen Moment der Trauer, des Schmerzes, obwohl sie diese Ehe nach mehrere Jahrzehnten beendet. Sie fühlt sich ohne Steve frei, als hätte sie einen unerträglichen Ballast abgeworfen – und nichts hat Steve weniger verdient.

Die Episode endet damit, dass Miranda ausgerechnet Che zu einer Comedyshow nach Cleveland hinterher reist, um Che ihre Liebe zu gestehen, obwohl Che ihr eindeutig gesagt hat, dass they ihr keine konventionelle Paarbeziehung bieten kann. Am Ende der Staffel scheinen sie dennoch in einer Art Beziehung zu sein, die Miranda so wichtig ist, dass sie ihren neu eingeschlagenen Karriereweg wieder aufgibt und mit Che nach Hollywood zieht. Keine Figur im Revival ist inkonsequenter und enttäuschender als Miranda.

Resümee

And Just Like That… fehlt, was Sex And The City ausgezeichnet hat: Carries Voiceover, durch das auch Handlungsstränge, die nichts direkt miteinander zu tun hatten, in eine gewisse Verbindung gebracht wurden. Das Revival verzichtet auf diese Erzählinstanz, abgesehen von einem Satz zum Schluss jeder Episode, der mit „And just like that…“ beginnt (wo es früher „I couldn’t help but wonder…“ war). Man wollte offensichtlich auch hier vom Original abrücken. Die Folge ist allerdings, dass sich manche Storylines recht lose anfühlen.

Zudem weiß die Serie nicht genau, was sie sein will. Sex And The City war eine Mischung aus Comedy, Drama und Rom-Com, die knapp 25 Minuten langen Folgen ein starkes Indiz dafür, dass die Serie eher in Richtung Comedy tendierte. Neben den schlechten Drehbüchern funktionierten die beiden Kinofilme aus einem ganz basalen Grund nicht: Sex And The City lebte davon, dass die vier Frauen immer wieder neue Dates hatten. Beide Filme konzentrieren sich aber nur auf die Beziehungen und Reibungen zwischen den Protagonistinnen und ihren Partnern, ohne neue Figuren in die Handlungen zu integrieren, was den eigentlichen Reiz der Serie ausmachte. And Just Like That… nun hat 40-minütige Episoden, also ein klassisches Drama-Format. Es hilft aber nicht: Was genau uns And Just Like That… überhaupt erzählen will, ist nach zehn Folgen immer noch offen.

Ob And Just Like That fortgesetzt wird, steht noch nicht endgültig fest, Presseberichten zufolge laufen die Gespräche aber schon. Verwunderlich wäre es nicht: Auch wenn diese erste Staffel bei Kritiker*innen wie Zuschauer*innen gleichermaßen nicht gut ankam, war sie überall Gesprächsthema. Dass Hate-Watching eben auch Einschaltquoten bringt und somit weitere Staffeln ermöglicht, hat nicht zuletzt die Serie Emily in Paris gezeigt, bei der Staffel drei und vier bestellt sind. And Just Like That hat also gute Chancen. Ist das Experiment And Just Like That ein totaler Flop? Ich würde sagen nein, weil es hie und da gute Szenen gab und weil die Storyline um Carries Trauer wirklich gut gearbeitet ist. Trotzdem bin ich persönlich wirklich erstaunt darüber, wie schlecht dieses Revival am Ende ist. Immerhin hat es mich dazu inspiriert, ein Re-Watch von Sex And The City zu machen. Denn trotz all der Fehler, die diese Serie hatte, ist sie immer noch sehenswert, witzig, spannend und teilweise herzerwärmend; war sie ein unglaublich wichtiger kultureller, ja revolutionärer Meilenstein.

Beitragsbild von Florian Wehde

Ein Davor, ein Danach – Die Pandemie in Fernsehserien

von Isabella Caldart

Für die Fiktion stellt die Pandemie eine klare Zäsur dar. Bisher war es möglich, das Jahr beziehungsweise die Epoche einer Serie, eines Films oder eines Romans eher vage zu halten und dadurch eine Form der Gegenwärtigkeit zu vermitteln. Fiktionale Werke, die größere gesellschaftliche Ereignisse oder Namen von etwa Politiker*innen nicht oder höchstens am Rande in ihre Handlung einbauten, hatten diese gewisse Zeitlosigkeit, bei der allein durch weniger relevante Faktoren wie Smartphone-Modelle oder Mode konkrete Jahre festzustellen waren. Ob (im US-Kontext) eine Serie nun 2010, 2015 oder 2019 spielte, machte keinen großen Unterschied. Es war immer ein diffuses „Jetzt“.

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Britney, Paris und Monica – das eigene Narrativ zurückerobern

von Isabella Caldart

Am 23. Juni 2021 war es endlich soweit – nach dreizehn Jahren äußerte sich Britney Spears zum ersten Mal zu der Vormundschaft, die ihr Vater zu dem Zeitpunkt noch innehatte. Bis sie die Möglichkeit bekam, vor Gericht auszusagen, mussten Aktivist*innen der #FreeBritney-Bewegung jahrelang auf ihre Situation aufmerksam machen und die „New York Times“-Doku „Framing Britney Spears“ (Februar 2021) erscheinen, die einem breiten Publikum erst die Schwere von Britneys Fall verdeutlichte. Es musste also sehr großen öffentlichen Druck geben. Am Ende ging alles ganz schnell: Am 12. November 2021 wurde die Vormundschaft beendet. Britney Spears ist frei – #FreedBritney, wie sie selbst schrieb.

Die Geschichte, wie Britney Spears ihre Autonomie verlor, ist mittlerweile bekannt. Sie lässt sich auf die misogyne Stimmung der nuller Jahre zurückführen, einer Zeit, zu der es en vogue war, auf Magazincovern über vermeintliche „Schönheitsmakel“ von Frauen zu lästern, Celebritys zu verfolgen und ihre potentiellen psychischen Probleme medial auszuschlachten. Britney ist bei weitem nicht die Einzige, die um die Jahrtausendwende durch den Dreck gezogen wurde: Paris Hilton, Monica Lewinsky, Mischa Barton, Amanda Bynes, Jessica Simpson, Nicole Richie, Lindsay Lohan… die Liste ist lang. Wie konnte es soweit kommen? Welche Rolle spielten dabei die Medien? Und wie schaffen es diese Frauen nach so vielen Jahren, gar Jahrzehnten endlich ihre eigene Geschichte zu erzählen, ihrer Version der Ereignisse Geltung zu verschaffen?

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