History Keeps Me Awake At Night – Leben, Tod und Afterlife von David Wojnarowicz

von Isabella Caldart

Die Collage Untitled (Genet, after Brassaï) ist ein frühes Werk des Künstlers David Wojnarowicz aus dem Jahr 1979 und ist eher für die Debatte, die sie entzündete, bekannt als für ihren künstlerischen Wert. Größtenteils in Schwarzweiß gehalten mit einigen farblichen Akzenten, zeigt die Collage im Vordergrund den französischen Schriftsteller Jean Genet (fotografiert von Brassaï) mit Heiligenschein, im Hintergrund eine heruntergekommene Halle und Engel. Rechts oben im Bild ist eine klassische Darstellung von Jesus Christus am Kreuz zu sehen. Dieser Jesus aber verdreht die Augen nicht, weil er im Sterben liegt, sondern weil er sich gerade Heroin gespritzt hat, wie der Riemen, mit dem sein Arm abgebunden ist und die Spritze unmissverständlich klarmachen.

Das Bild wirkt etwas unruhig und roh in seiner Ausführung, zeigt aber bereits einige der religiösen Motive, die für Wojnarowicz‘ künstlerisches Werk relevant wurden. Die fundamentalistische, christlich-evangelikale Organisation American Family Association (AFA) protestierte deswegen bereits 1990 aufgrund dieser Jesus-Darstellung und homosexueller Inhalte in anderen Bildern gegen eine Einzelausstellung von David Wojnarowicz. Im Jahr zuvor hatte sie schon zum Boykott gegen Pepsi aufgerufen, weil das Unternehmen Madonna für einen Werbeclip engagierte, die wegen ihres kontroversen „Like A Prayer“-Musikvideos zur Zielscheibe des Protests wurde.

Skandalkunst und U2

Im Jahr 2010, achtzehn Jahre nach dem Tod von David Wojnarowicz, war es erneut eine seiner Jesus-Darstellungen, die zu einer öffentlichen Kontroverse führte: In einer Ausstellung in Washington, D.C. wurde unter anderem der vierminütige Film Fire In My Belly – der als Metapher beziehungsweise Reaktion auf AIDS interpretiert werden kann – gezeigt, in dem Ameisen über eine Jesusfigur am Kreuz krabbeln. Die Catholic League, eine rechtskonservative religiöse Organisation, beschwerte sich über diese Aufnahmen, die daraufhin entfernt wurden. „Der Vorfall ist erschreckend, weil er darauf hindeutet, dass Homofeindlichkeit selbst in einer Zeit großer Fortschritte bei den Bürgerrechten für Homosexuelle eine der letzten zulässigen Doppelmoralen in Amerika bleibt“, kommentierte Frank Rich die Zensur in der New York Times.

Wer aber war David Wojnarowicz, dessen Werk so zahlreiche Kontroversen auslöste? Angefangen hat er seine Laufbahn als unangepasster Underground-Künstler, heute hängen seine Bilder in den Sammlungen von Museen wie dem MoMA, Whitney oder dem Met. Erst im Mai dieses Jahres wurde eines seiner Kunstwerke für fast eine Million US-Dollar versteigert. Vielen wird er als AIDS-Aktivist bekannt sein, oder aber von der U2-Single One, deren Cover sein Foto Falling Buffalos zeigt.

„David wurde vom ‚letzten Außenseiter’ bis zum ‚letzten Romantiker’ schon als alles bezeichnet”, schreibt die Journalistin Cynthia Carr in ihrer umfangreichen Biografie Fire In The Belly (2012). Unbestreitbar ist: Seine Kunstwerke sind in der Tat oft radikal und provokativ – gerade aber weil er sozialkritisch war und die Homofeindlichkeit der Gesellschaft und später auch das Politikversagen mit Blick auf HIV anprangerte.

In den Straßen von New York

Geboren wurde Wojnarowicz am 14. September 1954 in Red Banks, New Jersey in eine arme Familie. Sein Vater war gewalttätig und Alkoholiker. Er schlug David und seine zwei älteren Geschwister regelmäßig. „Bei mir zu Hause durfte man nicht lachen, man durfte sich nicht langweilen, man durfte nicht weinen, man durfte nicht spielen, man durfte nichts erkunden“, hört man ihn in der Doku Fuck You Faggot Fucker (2020, von Chris McKim, benannt nach einem seiner bekanntesten Werke) sagen, in der er außerdem erzählt, wie ihn sein Vater im Keller mit einer Hundekette verprügelte. Auch das Verhältnis zur Mutter war oft angespannt. Teilweise aber lebten die Kinder bei ihr in Hell’s Kitchen, Manhattan.

Als Teenager – wann genau ist etwas unklar, da David gerne Variationen seiner eigenen Biografie erzählte – war er eine Zeit lang auf der Straße und ging auf dem Times Square auf den Strich. Der Times Square, heute das symbolische Zentrum des westlichen Kapitalismus, war in den siebziger Jahren ein gefährlicher Ort voller schmuddeliger Pornokinos und Sexshops, billiger Motels, Straßenprostitution und Drogendealern, Überfälle waren an der Tagesordnung. In seinem Personal-Essay-Band Close To The Knives, der 1991, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlicht wurde, schildert Wojnarowicz seine Erfahrungen als Sexarbeiter.

Subkulturkunst im East Village

Später lebte David in verschiedenen WGs und bei seiner Schwester – in den Jahren 1978 und 1979 für neun Monate auch in Paris – bis es ihn nach Downtown Manhattan ins East Village verschlug. Ähnlich wie der Times Square war das East Village, das heute gentrifiziert, hip und teuer ist, damals eine gefährliche Gegend. Alan Barrows, Gründer der Civilian Warfare Gallery, in der David Wojnarowicz seine erste Ausstellung hatte, beschreibt den Teil des East Village, der Alphabet City genannt wird (weil die Avenues A, B, C und D die Hauptadern des Viertels sind), im Interview wie folgt: „Man hörte Schüsse, Leute wurden überfallen und es gab viele Drogen – Heroin war zu der Zeit sehr beliebt, die Ecke 2nd Street und Avenue A ein offener Drogenmarkt, überall lagen Spritzen herum.“

Wie so oft war die hohe Kriminalität aber auch eine große Chance für eine florierende Subkultur. „Ein Großteil des East Village stand leer und verfiel, die Mietshäuser sahen ziemlich ekelerregend aus“, sagt Barrows. „Junge Künstler und andere Kulturschaffende, Musiker und so weiter, zogen dorthin, weil es im Vergleich zu anderen Vierteln in New York unglaublich billig war.“ Diese Subkultur hat gleich mehrere Superstars hervorgebracht wie Madonna, Keith Haring (mit dem Wojnarowicz in der Disco Danceteria arbeitete), RuPaul und Chloë Sevigny.

Vor allem die Kunstszene des East Village erlebte Anfang der achtziger Jahre einen großen Boom, gefühlt jede Woche öffnete eine neue Kunstgalerie. „Wir haben Sachen gemacht, die die traditionellen Galerien nicht gemacht haben“, erläutert Alan Barrows den Unterschied von der East-Village-Kunst zur etablierten Kunstszene in SoHo. „In SoHo zeigten sie ‚sichere Werke‘, die nicht kontrovers waren. Im East Village hingegen war es Künstlern möglich, ihre Sexualität in ihrer Kunst auszudrücken.“ Wichtig auch für David, der in seinen Kunstwerken oft (homo-)sexuelle Szenen darstellte.

Installationen aus Müll bei den Mnuchins

Als Barrows David Wojnarowicz kennenlernte, hatte dieser schon Zines zusammengestellt, die Fotoserie Arthur Rimbaud in New York geschossen und einige der Fotos veröffentlicht, und war Teil der avantgardistischen Undergroundband 3 Teens Kill 4. David, der chronisch knapp bei Kasse war, nutzte vor allem in seiner Anfangszeit für seine Kunstwerke Materialien, die er günstig oder umsonst bekam: alte Supermarktplakate, Landkarten, die Deckel von Mülleimern oder Sperrmüllholz. Seine Kunst war multidisziplinarisch: Während seine musikalischen Ambitionen eher gering waren, schrieb er Zeit seines Lebens Texte, unternahm mehrere Versuche, Kurzfilme zu drehen, fotografierte, malte und collagierte und kreierte Skulpturen und Installationen – oftmals aus Müll und Fundstücken aus der Natur.

Cynthia Carr beschreibt in Fire In The Belly etwa, wie David Wojnarowicz, wieder einmal pleite, im Jahr 1985 eine Auftragsarbeit annahm, um im Keller der Kunsthändler*innen Robert und Adriana Mnuchin eine Installation zu entwerfen – genau die Mnuchins, deren Sohn Steven später Finanzminister unter Trump sein sollte. Er verbrachte Tage damit, „eingestürzte Gebäude und von Schutt übersäte Brachflächen zu durchkämmen”, um Material für sein Werk zu finden: eine alte Autotür, die Hülle eines Fernsehers, Steine, Stacheldraht. Damit entwarf er eine unheimliche, apokalyptische Stadtszenerie, über dem ein brennendes Kind hängt. „Ich bin in einer Reihe von gewalttätigen Umständen aufgewachsen“, zitiert Carr in ihrer Biografie David Wojnarowicz’ Essay über diese Installation. „Ich entscheide mich dafür, mich von dieser Art von Energie nicht komplett abzuwenden.”

Gentrifizierung der Kunstszene

Bekannter noch als seine (temporären) Installationen sind aber Davids Bilder. Die stellte er erstmals in der Civilian Warfare Gallery (1982-1987) aus, die Alan Barrows zusammen mit Dean Savard betrieb. „Seine Kunst war sehr roh, auch wegen der Materialien, die er benutzt hat“, erinnert sich Barrows zurück. „Sobald wir seine Werke sahen, sagten wir: Ja, das ist wirklich, wirklich großartig. Er hat einfach zu uns gepasst.“ Wojnarowicz, dessen nicht selten ironische, oft vor allem wütende Kunst Themen wie Homosexualität, Gewalt und Kritik an den USA gemischt mit Naturszenen abbildet, entwickelte sich schnell zum Liebling der East-Village-Kunstszene. „Eine Autorin der New York Times hat einen schönen Artikel über die Galerien des East Village verfasst, und ein Kunstwerk von David war das Hauptfoto dafür“, erzählt Alan Barrows. „Danach kamen die Sammler, Leute, die Geld hatten, um Kunstwerke zu kaufen.“

Mit dem Geld kam auch die Gentrifizierung und mit ihr verlor die einstige Underground-Kunst des East Village ihren Charme. „Die Kunstwelt hat die magische Fähigkeit, jede Kritik an ihr zu übernehmen und damit Geld zu verdienen“, sagt Cynthia Carr, die noch heute im East Village lebt, über das Ende der Kunstszene. „Die East-Village-Szene war anfangs fast eine Parodie der Kunstwelt. Aber 1985 war sie dann die Kunstwelt, ein Viertel, in dem Sammler auftauchten, um nach dem nächsten großen Ding zu suchen. Als die Szene erst einmal entdeckt und ausgebeutet war, stiegen die Mieten in all den billigen Ladenlokalen in die Höhe.“

Eine besondere Freundschaft

Zu diesem Zeitpunkt, da die Kunstszene seines Viertels den Bach runterging, hatte David bereits eine Freundschaft gemacht, die zum wichtigsten Fixpunkt seines Lebens werden würde. Anfang der achtziger Jahre lernte er den Fotografen Peter Hujar (1934-1987) kennen, mit dem er eine sehr kurze Affäre hatte, bevor sich ihre Beziehung weiterentwickelte. Auch Hujars fantastische Schwarzweiß-Fotos sind inzwischen weltbekannt. Eins davon, Orgasmic Man, ziert das Cover von Hanya Yanagiharas Bestseller A Little Life. Er fotografierte queere Ikonen wie Candy Darling oder Divine, außerdem Susan Sontag, Fran Lebowitz und natürlich sehr oft David Wojnarowicz. Mehr noch als David war Peter Hujar aber nicht in der Lage, nach den Regeln der Gesellschaft zu spielen, und weigerte sich, auf irgendeine Art kommerzielle Fotografie zu machen, brach oft Kontakt ab zu den Menschen, die ihm nicht passten, auch jenen, die ihm helfen wollten, und lebte deswegen weit unter dem Existenzminimum.

Die Beziehung von David Wojnarowicz und dem zwanzig Jahre älteren Peter Hujar war entsprechend nicht die eines Künstlers und seines finanzstarken Mäzens (wie etwa bei Robert Mapplethorpe und Sam Shepard). Hujar unterstützte Wojnarowicz in seiner Kunst durchaus wie ein Mentor, oft aber war es David, der sich um Alltagsbelange seines älteren Freundes kümmern musste und später, als Peter an AIDS erkrankt war, den Großteil seiner Betreuung übernahm. „Mein Bruder, mein Vater, meine emotionale Verbindung zur Welt“, beschreibt David in einem Essay in Close To The Knives die Beziehung. Wie wichtig er für ihn war, wusste auch Tom Rauffenbart (der trotz seiner HIV-Erkrankung erst im April 2019 verstarb), der langjährige Lebensgefährte von David Wojnarowicz. „Ich habe drei Prioritäten in dieser Reihenfolge: Peter, meine Kunst und du”, zitiert er David in der Doku Fuck You Faggot Fucker.

Zu Besuch in Köln und Berlin

In den achtziger Jahren war David auch öfter auf Reisen, unter anderem in Berlin, wo er zusammen mit Alan Barrows den Regisseur Rosa von Praunheim kennenlernte, in dessen Dokumentarfilm Silence = Death (1990) über HIV in New York City er (zusammen mit Keith Haring und Allen Ginsberg) später zu sehen war. „Wir waren über Silvester da, es war sehr aufregend“, erinnert sich Barrows. „Wir waren in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg“ – dem Anhalter Hochbunker in Kreuzberg – „und haben die ganze Nacht durchgetanzt. David hat auch was an die Wand des Bunkers gemalt, ich glaube, dieses Wandgemälde gibt es heute noch.“

Auf seiner Deutschlandreise lernte die Künstlerin Rilo Chmielorz 1986 in Köln David kennen. Sie erinnert sich daran, dass es Galeristin Anna Friebe war, die sie zusammenbrachte. Friebe habe sie vorgewarnt mit den Worten, es käme ein Künstler aus New York, der „ein bisschen schwierig“ sei, und bat sie, sich um ihn zu kümmern. Das Abendessen beim Italiener war aber sehr entspannt. „Die Chemie zwischen uns stimmte, wir haben uns sofort angefreundet“, sagt Chmielorz im Gespräch. „Generell haben wir viel zusammen gelacht. Er hatte natürlich viel Wut in sich, aber er war auch ein warmherziger Mensch.“

Künstlerisch habe ihr imponiert, wie er seine palimpsestartigen Collagen entwickelte, erzählt Chmielorz. „David war in einem völlig anderen Kosmos unterwegs als ich. Meine Kunst war damals eher abstrakt. Die Narration und die Gesellschaftskritik in seinen Bildern haben mich beeindruckt.“ Auch persönlich fand sie ihn beeindruckend. „Er war crazy im Sinne von radikal, weil er so unorthodox war in seiner Vorgehensweise.“ Sie erzählt eine Anekdote: „Er hatte bündelweise Geld dabei und bar bezahlt, weil er keine Steuern zahlen wollte. Er hat immer einen Weg gefunden, dem System den Mittelfinger zu zeigen. Ich habe viel von ihm gelernt.“ (In Fire In The Belly erläutert Cynthia Carr, dass Wojnarowicz erst in den letzten zwei Jahren seines Lebens eine Kreditkarte besaß.)

Chmielorz besuchte David im selben Jahr auch im East Village, wo er ihr sein Apartment zur Verfügung stellte. „Er lebte damals in Alphabet City, ein Viertel, in dem es jede Nacht Schießereien auf der Straße gab wegen Drogen. Er schärfte mir ein, nicht die Tür zu öffnen, wenn es klingelt, nicht allein nach Anbruch der Dunkelheit rauszugehen. Es war ganz anders als das beschauliche Kölle.“ David widmete ihr außerdem eins seiner Bilder: History Keeps Me Awake At Night (For Rilo Chmielorz). Diesen Namen trug auch die große Retrospektive, die das Whitney Museum 2018 organisierte.

Das Virus, das alles verändert

Kurz nach Rilo Chmielorz‘ Besuch in Manhattan sollte sich das Leben von David und Peter für immer verändern. Anfang des Jahrzehnts schlug HIV vor allem in New York City und San Francisco wie eine Bombe ein. Das Virus, das zunächst GRID (Gay-related immune deficiency) hieß, hinterließ verheerende Verwüstung unter den queeren Künstler*innen des East Village. Eine HIV-Diagnose bedeutete damals, ohne jegliche Behandlungsmöglichkeiten, fast immer den Tod, oft auch soziale Isolation und Armut. „Jeder schwule Mensch, der in den 1980er und frühen 1990er Jahren in New York oder San Francisco lebte, ist ein Überlebender der Verwüstung und trägt die Gesichter, verblassenden Namen und Leichen von ansonsten vergessenen Toten mit sich”, schreibt East Villagerin und ACT-UP-Aktivistin Sarah Schulman in ihrem Buch The Gentrification Of The Mind. Allein in New York City sind bis August 2008 81.542 Menschen an Aids gestorben.

Peter Hujar bekam seine AIDS-Diagnose Anfang 1987 und starb am 26. November 1987 im Alter von 53 Jahren. Wenige Momente nach seinem Tod schoss David Wojnarowicz 23 Fotos von seinem Leichnam. „Peter war derjenige, der ihn gerettet hat, der sein Leben auf eine sehr positive Weise verändert hat. Sie waren verwandte Seelen. Ein Teil von David ging verloren, nachdem Peter gegangen war”, zitiert Cynthia Carr Tom Rauffenbart in Fire In The Belly. Zwei, drei Wochen nach Peters Tod bekam Tom Rauffenbart, der sich ursprünglich nicht hatte testen lassen wollen (eine übliche Einstellung unter schwulen Männern in den achtziger Jahren), seine Diagnose. David Wojnarowicz sträubte sich ebenfalls lange davor, den Test zu machen. Im Frühjahr 1988 erfuhr schließlich auch er, dass er AIDS hatte.

David hatte sich schon immer am Rand der Gesellschaft verortet, sich für Außenseiter interessiert und Wut auf die Politik gehabt. Mit den vielen Freund*innen, die an HIV erkrankt waren, und seiner eigenen Diagnose, steigerte sich diese Wut ins Maßlose. Der Großteil der Politiker*innen, allen voran Präsident Ronald Reagan und Bürgermeister Edward Koch, unternahmen nichts gegen das Virus, im Gegenteil. Da es als ein Virus der schwulen Männer, Junkies und Prostituierten angesehen wurde, wurde das Thema totgeschwiegen oder aber Fehlinformationen verbreitet. Erst im September 1985, vier Jahre, nachdem der erste Fall bekannt wurde, erwähnte Reagan erstmals öffentlich das Virus.

AIDS-Aktivist, aber nicht Aids-Künstler

Im März 1987 gründete sich in New York der Interessensverband ACT UP (AIDS Coalition to Unleash Power), der sich dafür einsetzte, HIV-Erkrankten mehr Gehör in der Öffentlichkeit zu verschaffen und Politik und Pharmaindustrie unter Druck zu setzen, um die AIDS-Forschung voranzutreiben, vor allem auf die FDA (Food and Drug Administration), damit sie AIDS-Patient*innen Zugang zu einem experimentellen Medikament verschaffte. (Sarah Schulman hat 2021 mit Let The Record Show eine ausführliche Historiografie über die Bewegung von 1987 bis 1993 veröffentlicht.) David Wojnarowicz gehörte nicht zu den Gründungsmitgliedern, engagierte sich später aber lautstark bei ACT UP und thematisierte HIV in seinen Kunstwerken. Vielen ist er heute deswegen mehr noch als AIDS-Aktivist oder „AIDS-Künstler“ bekannt.

„David wollte nie als ‚AIDS-Künstler‘ gesehen werden“, sagt seine Biografin Cynthia Carr im Interview, die Wojnarowicz seit 1982 kannte. „Das war eine Krise, mit der er sich auseinandersetzen musste, aber was dahinterstand, war das, was er ‚die vorerfundene Welt‘ nannte – in der alles geregelt ist. In der es eine falsche Geschichte, eine falsche Spiritualität und staatliche Kontrolle gibt. In der die Gesellschaft so strukturiert ist, dass sie den Eindruck vermittelt, bestimmte Menschen seien nicht wichtig. In der Rassismus, Klassismus und Homofeindlichkeit fortbestehen. Er sah es als seine Pflicht als Künstler an, sich in diese Situation einzumischen. Er wollte als Zeuge auftreten, ‚um eine Geschichte zu schaffen, die für mich ist‘, wie er es ausdrückte.“

David Wojnarowicz‘ Themen sind natürlich viel breiter gefächert als nur die Beschäftigung mit HIV. Trotzdem machte er als AIDS-Aktivist von sich reden und wurde eins der Gesichter von ACT UP New York, ging auf Demonstrationen – besonders bekannt sind die Bilder von ihm und seinen Gefährt*innen, wie sie sich mit „Grabsteinen“ auf den Boden werfen. „IF I DIE OF AIDS – FORGET BURIAL – JUST DROP MY BODY ON THE STEPS OF THE FDA” stand in Majuskeln auf dem Rücken seiner Jacke, ein Foto, das in sozialen Netzwerken immer mal wieder viral geht.

Am 20. Juli 1992 starb David Wojnarowicz im Alter von 37 Jahren in Manhattan.

Posthume Bedeutung

Sein Körper wurde zwar nicht auf die Treppe der FDA geworfen (1992 wurde aber in der Tat die Asche von anderen an AIDS Verstorbenen vor dem Weißen Haus verstreut), das ändert aber nichts an Davids Vermächtnis, das bis heute relevant ist, weit über sein soziales Engagement hinaus. Die Retrospektive History Keeps Me Awake At Night vom Whitney Museum wanderte 2019 ins Reina Sofía in Madrid und danach ins Mudam in Luxemburg. Die Bedeutung seiner Kunst bleibe, sagt Cynthia Carr aus heutiger Perspektive, die die Ausstellung im Reina Sofía sah. „Sie befand sich in einem Raum direkt unter Picassos Guernica. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass David das sehr geliebt hätte! Ein so wichtiges Gemälde. Eine so wichtige Botschaft.“ Davids Botschaft bleibe ebenfalls bestehen. „Die Bedeutung von Guernica hat sich ja auch nicht geändert, obwohl der Krieg, auf den es sich bezieht, längst vorbei ist.“

Cynthia Carr veröffentlichte 2012 die Biografie Fire In The Belly, in der sie unter anderem drei zweistündige Gespräche, die sie 1990, nach dem Protest der American Family Association wegen des Jesus-Bilds, mit ihm geführt hatte, einfließen ließ. Fünf Jahre lang schrieb sie (auf Bitte von Tom Rauffenbart übrigens) an dem umfangreichen Buch, das für zahlreiche Preise nominiert war, und in dem sie neben David Wojnarowicz auch die gesamte künstlerische Szene des prä-gentrifizierten East Village auferstehen lässt.

Wenn er heute noch leben würde, wäre er 67 Jahre alt. Was würde er tun? Was hätte er getan? Hätte er immer noch so einen Einfluss? Oder wäre er einfach in der Versenkung verschwunden?“, fragt sich Alan Barrows. Auch Rilo Chmielorz hat ähnliche Gedanken: „Das Revue passieren zu lassen, hat mich traurig gemacht. Er ist mit 37 gestorben, wir haben uns vor 36 kennengelernt, fast seine Lebenszeit.“ Würde er von den Toten auferstehen, gäbe es zwei Dinge, die er kaum glauben könnte, sagt Carr im Gespräch. „1) Das World Trade Center wurde durch einen Terroranschlag zerstört und 2) Donald Trump wurde Präsident der Vereinigten Staaten. Letztere Nachricht würde er für einen Witz halten, vielleicht würde er auch in Ohnmacht fallen.

Heute, an seinem 30. Todestag, geht die Website www.onedaythiskid.com online, auf der man sein eigenes Foto in eins der ikonischsten Werke von David Wojnarowicz einfügen kann. „One day this kid will get larger“, heißt es in dem Text, der im Original ein Kindheitsfoto von David flankiert. „This kid will lose his constitutional rights against the government’s invasion of his privacy. […] He will be subject to loss of home, civil rights, jobs, and all conceivable freedoms. All this will begin to happen in one or two years when he discovers he desires to place his naked body on the naked body of another boy.” Eine Message, die angesichts des aktuellen politischen Klimas in den USA wieder so aktuell ist wie zu den Lebzeiten von David Wojnarowicz.

Die Recherchen wurden teilweise durch ein Stipendium des Programms Neustart Kultur der VG Wort ermöglicht. Die Förderung hat keinen Einfluss auf den Inhalt des Artikels.

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