Kategorie: Literarisches und Personal Essays

Sag alles ab – Wie ich einmal fast Stadtschreiber von Gelsenkirchen geworden wäre

von Tobias Siebert

Der Anruf kam, als ich an einem Mittwochmittag im April in einem Second-Hand-Laden in Verona stand. Die Stimme auf der anderen Seite sagte, sie freue sich, mir mitteilen zu können, dass sich die Jury für mich als nächsten Stadtschreiber in Gelsenkirchen entschieden haben. „Oh, da freue ich mich“, stammelte ich verlegen. „Teilen Sie mir doch bis Montag mit, ob Sie das Stipendium annehmen möchten“, sagte die Frau, und wir verabschiedeten uns damit, dass sie mir nochmal eine Mail mit den weiteren Details schicken würde und ich mich bis zum nächsten Montag zurückmelden würde.

Ich war gerade mit Autor*in C im Italienurlaub. Die Bewerbung und das mögliche Stipendium hatte ich so gut wie vergessen. Ich streifte durch den Laden und sagte zu C: „Ich hab das Gelsenkirchen-Stipendium bekommen.“ Nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, wurde mir sofort schlecht. Ich musste den Laden verlassen und eine Zigarette auf dem Vorplatz rauchen. Auf meinem Handy suchte ich nach der Ausschreibung. Drei Monate Gelsenkirchen von Mitte Juli bis Mitte Oktober. Eigene Wohnung plus 1.500 Euro pro Monat, dazu Fahrtkosten für An- und Abreise. Gefordert wurde, Texte über Gelsenkirchen zu produzieren, die das Leben literarisch einfangen. Was auch immer das heißen sollte.

„Womit hast du dich beworben?“, fragte C.

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich dasselbe wie immer. Irgendwas mit Jugendlichen und Subkultur.“

Die Bewerbung hatte ich wie so oft aus älteren Bewerbungen zusammenkopiert, angepasst, übertrieben, geflunkert – eben so, dass es für die Jury richtig klingen könnte. Was ich eigentlich gewollte hatte, war Zeit, um an meinem Roman zu schreiben. Keine Ablenkung, etwas Geld, ein bisschen Ruhe. Die kitschige Vorstellung einer Literaturresidenz eben. Natürlich war ich nicht davon ausgegangen, dass ich das Stipendium überhaupt bekommen würde und hatte mich beworben, weil es halt dazu gehört. Ständig irgendwo irgendwas hinschicken und hoffen, dass es klappt.

Im letzten Jahr hatte ich das Glück, für zwei Residenzen ausgewählt worden zu sein. Glück? Naja.

Ich verbrachte zunächst vier Monate in Altena. Irgendwo zwischen Hagen und Siegen. Ich wohnte allein in einer Wohnsiedlung, traf  so gut wie keine Menschen, ging mit dem Hund spazieren und aß um Punkt 12 Uhr Mittag, schaute das Vorabendprogramm im Fernsehen, aß um 18 Uhr zu Abend und ging manchmal vor um 21 Uhr ins Bett, weil ich nicht wusste, wohin mit mir. Die letzten Wochen und Tage dort waren schlimm. Genoss ich am Anfang noch die Abwechslung des ländlichen Lebens, fieberte ich ab der Hälfte der Zeit darauf hin, zurück nach Leipzig zu kommen, meine Freund*innen zu treffen, Essen zu gehen, Leute zu sehen, raus zu gehen. Als ich Ende Juni wieder in meiner Wohnung ankam, war ich völlig neben der Spur, wusste nicht, was ich tun sollte, konnte kaum rausgehen, Menschenmengen waren mir zu viel. Es war alles zu laut und zu voll. Zugegeben, ich konnte in Altena ziemlich gut schreiben. Ich hatte Struktur, setzte mich jeden Morgen brav an den Schreibtisch und schrieb meine Seiten voll. Als ich wieder in Leipzig war, konnte ich den Text nicht mehr anrühren und brauchte eine ganze Zeit, um mich wieder an das alte Leben zu gewöhnen.

Kurz nach meiner Rückkehr bekam ich eine Residenz in Augustusburg zugesprochen. Bis dahin wusste ich nicht mal genau, wo Augustusburg liegt. Irgendwo bei Chemnitz. Es sah idyllisch aus, mit Schloss und Berg. Die Zusage kam Mitte Juli, die Residenz sollte Ende August beginnen. Ich musste zunächst aushandeln, dass ich später kommen könnte, da ich mir auf der Arbeit nicht so schnell freinehmen konnte. Schon damals fragte ich mich, was es für eine Erwartungshaltung ist, dass ich innerhalb von vier Wochen dort hinkommen könne. Immer alles freihalten, es könnte doch noch eine spontane Zusage kommen. Planbarkeit? Fehl am Platz.

Nun also Gelsenkirchen und die nächste Residenz. Drei Monate weg. Drei Monate kaum soziale Kontakte. Drei Monate in einer fremden Wohnung hocken, die Zeit absitzen. Dazu den Deal eingehen, Texte zu schreiben, die sowieso niemand liest, die irgendwo verschwinden, unbeachtet, aber immerhin mit Lokalbezug. Dafür 1.500 Euro gesponsert von der Gelsenwasser-Stiftung. Lohnen würde sich das Ganze sowieso nur, wenn ich meine Wohnung in Leipzig untervermieten würde und mir so die Möglichkeit nähme zwischen den Orten zu pendeln. Dass das Pendeln sowieso unrealistisch war, stellte ich fest, als ich sah, dass die Zugverbindung zwischen Leipzig und Gelsenkirchen über sechs Stunden betrug.

Natürlich freute ich mich auch über die Zusage und darüber, dass ich ausgewählt wurde, dass sich irgendeine Jury für mich und meine Arbeit entschieden hatte. Trotzdem war der Urlaub an der Stelle für mich gelaufen. Die Vorstellung den ganzen Sommer in Gelsenkirchen verbringen zu müssen, bereitete mir Panik. Ich wusste, dass ich dort nicht hinwollte, obwohl ich mich beworben hatte. Nicht weil ich über Gelsenkirchen schreiben wollte, sondern weil es eben so läuft, weil das der Betrieb so will – noch ein Stipendium, noch eine Residenz für den Lebenslauf. Damit es gut aussieht, damit sich Verlage irgendwann für mich interessieren. Nur für ein kleines bisschen Aufmerksamkeit, um die Karriereleiter aufzusteigen.

Ich weiß, dass meine Situation privilegierter ist als die der meisten. Abgeschlossenes Studium am Literaturinstitut Leipzig, ein flexibler Home-Office-Job, der die Fixkosten deckt und mir Zeit zum Schreiben lässt. Keine Familie, keine Kinder, um die ich mich zu Hause kümmern muss, keine körperlichen Einschränkungen. Denn das wollen die meisten Literaturresidenzen: biegbare Autor*innen – zeitlich und räumlich. Dass ich es mir nicht leisten konnte, drei Monate Leipzig zu verlassen, war mir eigentlich von Beginn an klar. Anfang des Jahres hatte ich erneut eine Therapie angefangen, drei Monate nicht in Leipzig zu sein, würde bedeuten, den langersehnten Platz aufgeben zu müssen. An einem anderen Zeitpunkt wieder von vorne anzufangen. Die eigene psychische Gesundheit auf Halde zu setzen für das Ziel, irgendwann irgendwo ein Buch zu veröffentlichten.

Was bin ich bereit, dafür einzugehen? Was will ich aufgeben? Wie wahrscheinlich ist es, dass ich in Gelsenkirchen einen Buchvertrag finden würde? Tendenz gegen null, gestand ich mir ein. Ich schrieb eine Mail an die zuständige Koordinatorin und fragte nach den genauen Bedingungen der Residenz, log, dass ich erst mit der Arbeit abklären müsste, ob ich so lange fortsein könne, in der Hoffnung, vielleicht eine Lösung zu finden, bei der ich das Stipendiengeld bekommen könnte, ohne 12 Wochen am Stück in Gelsenkirchen sein zu müssen. Denn natürlich freute ich mich über den finanziellen Teil des angekündigte Stipendiums. In der Antwort hieß es, man ginge schon davon aus, dass das Stipendium größtenteils vor Ort wahrgenommen werde, dass man aber bis jetzt noch keinen Vertrag gebraucht hätte, um das festzuhalten, dass es noch bezahlte Lesungen gäbe und dass eben genannte Texte über die Stadt entstehen sollten. Von einer Plattform, auf der die Texte erscheinen würden, war nicht die Rede. Sinnloses Produzieren von Textmaterial als künstlerische Werbung für die Stadt. Mehr nicht. Kein Interesse an einer nachhaltigen Förderung für Autor*innen.

Hier liegt das Problem: Literaturresidenzen, vor allem solche als Stadtschreiber*in, fordern in erster Linie Eingeständnisse von Autor*innen. Ich schreibe jenen Text über eine Stadt, damit ich heimlich an meinem wirklich, richtig, echten Text arbeiten kann. Es ist ein Katz- und Maus-Spiel. Ich verkaufe meine Zeit, meine Anwesenheit an einem Ort, den ich nicht kenne, ohne Leute, die ich kenne. Ich bin auf mich allein gestellt und soll im besten Fall Stadtmarketing betreiben. Ich werde einkauft. 1.500 Euro pro Monat als Vollzeitstelle. 24 Stunden vor Ort sein. Dass dabei die Autor*innen auf der Strecke bleiben, scheint in den meisten Ausschreibungen völlig verdrängt zu werden. Die Städte wollen sich mit Literatur und der großzügigen Geste auf dem Rücken der Autor*innen schmücken. Wer kann es sich denn leisten, mehrere Monate diesen Kompromiss einzugehen? Wer kann überhaupt mehrere Monate von quasi jetzt auf gleich den Ort wechseln? Wer hält es mehrere Monate ohne soziale Kontakte aus?

Die hiesige Literaturförderung hinkt gewaltig und hat nicht erst seit gestern ein strukturelles Problem. Literaturresidenzen gehen oftmals völlig an den Bedürfnissen der Autor*innen vorbei. Natürlich kann ein Ortswechsel in der künstlerischen Arbeit helfen und inspirierend sein, doch es wird eine riesige Kompromissbereitschaft für ein kleinwenig Zeit und Geld erwartet, Vereinbarungen, die nur von den wenigsten überhaupt erfüllbar sind. Das Problem ist nicht die grundsätzliche Bereitschaft Literatur zu fördern, sondern wie viele dieser Programm umgesetzt werden und wie suggeriert wird, es werde etwas für die Literatur und die Autor*innen getan. Als Autor werde ich in eine Ecke gedrängt, in der ich gar nicht stehen möchte, aber vielleicht stehen muss, wenn ich es denn endlich schaffen möchte.

Ich sagte das Stipendium mit einer Lüge ab. Ich schrieb, dass ich es mir aufgrund der Lohnarbeit nicht erlauben könne, drei Monate die Stadt zu verlassen. Meine psychische Gesundheit wollte ich nicht als Grund anführen. Ich hatte keine Lust auf Diskussionen, auf ein Aushandeln, wie oft ich da sein müsste, damit es in Ordnung ist. Natürlich ist es schade um das Geld und die Zeit, aber ich weiß, dass ich diese drei Monate nicht schadenfrei überstanden hätte. Es gibt immer wieder die Momente, in denen ich die Entscheidung, das Stipendium nicht angetreten zu haben, bereue. Habe ich damit alles verspielt? Darf ich überhaupt absagen? Eine Antwort auf meine Absagemail habe ich übrigens nie bekommen.

Ich schrieb diesen Sommer also in Leipzig mit nicht ganz so viel Zeit und mit den Kompromissen der Lohnarbeit. Dafür konnte ich nach dem Feierabend in den Garten gehen, zum See fahren oder mich mit Freund*innen auf eine Limo treffen. Das ist wahrscheinlich wichtiger als eine weitere Zeile im Lebenslauf und drei Monate Selbstausbeutung in Gelsenkirchen.

Foto von Waldemar

„Hoffentlich ist es dann nicht zu spät“ – Ein Stolpertext

von Victor Sattler

Im Exil könnten sie wieder vereint sein, hofften die zwei jüdischen Männer. Was sich Robert Bachrach und Leo Hochner zwischen 1938 und 1944 schrieben, wissen wir nicht im Detail. Ihre Beziehung ließ sich für diesen Text nur auf Umwegen und über Angehörige rekonstruieren.

Für die ‚Stolpertexte‘ arbeiten Autor*innen mit dem Leo Baeck Institut zusammen, das die Nachlasse deutschsprachiger Jüdinnen und Juden bewahrt. Die Briefe von Robert Bachrach an die Feitlers und die Briefe von Leo Hochner an die Feitlers werden hier im Original zitiert, manche Passagen sind leicht gekürzt. Das fiktive Gespräch der Familie Feitler basiert lose auf Briefen und Airgraph-Nachrichten.

1     New York

Das Telefon der Feitlers klingelte seit Roberts Tod „ohne Unterlass“, heißt es in einem Brief aus dem April 1944. Sagen wir, es klingelte alle zehn oder fünfzehn Minuten von Neuem. Es hielt Loni also mit Sicherheit davon ab, zumindest tagsüber ein paar Stunden zu schlafen, nachdem sie die letzte Nacht hindurch wachgelegen hatte. Sie war eine ältere Dame, war erst kürzlich Großmutter geworden und konnte die Aufregung nicht gut vertragen. Sobald der Anrufer seine wahren Beweggründe zu erkennen gab, musste Loni ihn abwimmeln. Sie hängte geräuschvoll den Hörer auf. „Diese Klatschmäuler“, sagte sie, „lassen nichts unversucht. Das einzig Gute ist, dass Robert diesen Skandal um seine Person nicht mehr erleben muss.“

Ihr Ehemann Paul nickte traurig. Er saß auf dem Fußboden bei Cathy, der kleinen Enkelin. Paul bot sich während des Kriegs so oft wie möglich als Babysitter an, um Cathys Eltern zu entlasten. Das war von Paul nicht ganz uneigennützig, denn er fand die Zeit mit seiner Enkelin so tröstlich. Er hatte Robert einmal als seinen „besten Freund in New York“ bezeichnet und sich nie an dessen Homosexualität gestört. Nun waren die Feitlers so etwas wie Roberts einzige Hinterbliebene; bei ihnen meldeten sich alle Leute, die unter Schock standen und nach der Todesursache fragen wollten, weil sie es sich nicht erklären konnten.

Trotz des Dauerklingelns waren die Feitlers sehr hellhörig für den Aufzug in ihrem Wohnhaus. Um vier Uhr nachmittags kam ihre Tochter Elisabeth Gay, nun waren alle drei Generationen versammelt. Elisabeth trug einen Regenmantel und -schirm, sie war bei typischem Aprilwetter einmal quer durch den Central Park gelaufen. An der 104. Straße befand sich die Wohnung der Feitlers mit Parkblick. Hier hatten sie sich nach ihrer Flucht aus Wien ein neues Leben aufgebaut.

Loni kochte als erstes einen starken Kaffee, und Paul berichtete von den gemeinsamen Stunden mit Cathy, um die Stimmung zu heben. „Sie war heute wieder so lustig und fröhlich, sie macht ihrem Nachnamen Gay wirklich alle Ehre“, lobte Paul. „Dann wollen wir dafür sorgen, dass es so bleibt“, sagte Elisabeth. Mit ihrer Tochter auf dem Schoß hatte sie zwei Hände frei, die sie ihr auf die Ohren legen konnte, wenn das Gespräch auf Robert kam. Cathy reagierte mittlerweile auf jede Erwähnung seines Namens mit einer neugierigen Kopfbewegung. Sie konnte sich später als erwachsene Frau daran erinnern, wie oft Roberts Name in ihrer Familie fiel und was er jedes Mal auslöste.

Vor ein paar Wochen, als Elisabeth ihm zum letzten Mal begegnet war, hatte er noch einen gesunden Eindruck auf sie gemacht. Auf dem Totenschein war von einer diffusen Herz-Nieren-Erkrankung die Rede. Davon hatte er ihnen nie etwas erzählt. Vielleicht war es sehr plötzlich geschehen, dachte Elisabeth. Er war Jahrgang 1879, das heißt, er wäre im November dieses Jahres erst 65 geworden, und 65 war doch kein Alter.

Ihre Eltern schwiegen eine Zeitlang. „Wir haben uns in den letzten Wochen schon manchmal Sorgen um Robert gemacht“, sagte Loni schließlich, „ich wünschte, wir wären diesem Instinkt stärker nachgegangen.“ Sie stand auf, mit einer großen Last auf ihren Schultern, um etwas aus ihrem Schlafzimmer zu holen. Sie brachte ein Kuvert, auf dem eindeutig Roberts Handschrift zu erkennen war.

Elisabeth war eine leidenschaftliche Autorin. Wenn sie keinen Brief zu beantworten hatte, schrieb sie Essays und Kurzgeschichten, die ausdrücklich für die Nachwelt bestimmt waren. Fast immer ging es darin um reale Personen, meistens um solche, die ihr persönlich nahestanden. Elisabeth kannte die genauen Lebensumstände vieler jüdischer Familien im amerikanischen Exil, sie erkundigte sich bei allen nach ihrem Wohlergehen. So entging ihr nichts, kein Klatsch und keine lebensverändernden Umbrüche. Da Elisabeth den engsten Briefkontakt zu Robert gepflegt hatte, konnte sie sich jetzt kaum vorstellen, dass Loni ihr etwas Neues über ihn eröffnen könnte.

2     Zwischen Wien, Budapest, London, New York

Am Anfang hatten sich Loni und Paul Feitler mit Dr. Robert Bachrach angefreundet. Er gehörte ihrer Generation an, nicht Elisabeths. Er arbeitete als Urologe und Chirurg im 8. Bezirk von Wien, war 1,70 Meter groß, mit blauen Augen und braunen Haaren, war fleißig und hatte eine förmliche Ausdrucksweise. Obwohl er mit Loni und Paul all die Jahre per ‚Sie‘ blieb, fand er in den Feitlers eine Wahlfamilie, die ihn akzeptierte: Hier war eine jüdische Familie, die in ihrer Einstellung bereits so großzügig und modern war, und das zu einer Zeit der allgemeinen Ächtung von Homosexualität in Europa. Im Herbst 1938, ein halbes Jahr nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, schrieb Robert wieder einen Brief aus Wien nach New York. Er schilderte, wie sehr seine Zukunftspläne sich jetzt in der Schwebe befanden.

Robert schrieb: »Nach den letzten Entscheidungen gehöre ich zu den Ärzten, denen die Behandlung von nicht-arischen Patienten bewilligt wurde; ob man mir dazu gratulieren kann, wird sich erst herausstellen. Jedenfalls bin ich nicht zum absoluten Nichtstun verurteilt und wäre sonst gezwungen gewesen, anderenfalls meine Emigration vorzeitig zu forcieren, was heute ja fast nicht möglich ist.«

In jedem Halbsatz steckte ein anderer Zwang. Roberts Kundschaft war zwar drastisch verkleinert, aber ein Rest an Struktur und Sinn blieb ihm erhalten. Er schien zwiegespalten darüber zu sein, dass er das fast-nicht-Mögliche vorerst noch nicht versuchen müsste. Da die Feitlers zu dieser Zeit bereits emigriert waren, sorgten sie sich um jüdische Freundinnen und Freunde, die in Wien geblieben waren. Bald pflegte Robert vor allem eine Brieffreundschaft zur jungen Elisabeth, schickte ihr Bücher und Bilder über den Atlantik:

Robert schrieb: »Mein liebes Mädi (Fräulein Elisabeth)! Ich glaube, wir schaffen das Mädi ab, weil Du schon zu erwachsen dazu bist. Es lässt sich denken, dass Du mit Briefeschreiben ebenso viel zu tun hast wie ich, weil wir doch alle die Hälfte unseres Daseins mit dieser Erinnerungsarbeit zubringen.«

Elisabeth bildete den Knotenpunkt eines ganzen Netzes an Brieffreundschaften. Zum Beispiel unterhielt sie auch einen regen Kontakt zu dem Wiener Architekten namens Leo Hochner, der 1938 nach Budapest geflohen war und mit dem Robert bestens vertraut war. Fast hätte Elisabeth beim Beantworten ihrer Briefe durcheinanderkommen können, denn jeder Brief von Leo aus Budapest begann Monat für Monat mit der gleichen Anrede wie Roberts Briefe aus Wien: Mein liebes Mädi. Ob die beiden Männer wohl voneinander wussten, dass sie Elisabeth auf die gleiche Weise ansprachen?

Leo schrieb: »Mein liebes Mädi! Ich erhielt heute einen sehr ausführlichen und lieben Brief von Mutti, auf den ich morgen antworten will. Dir will ich heute nur für Deine Einladung zu der amerikanischen Ice-Cream herzlichst danken, in der Hoffnung, in nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit zu haben, dieser Einladung auch Folge leisten zu können. Ich freue mich unendlich über den heiteren Ton in Deinen Mitteilungen und schliesse daraus, dass Dir der Aufenthalt in der neuen Heimat nicht so schwer fällt wie den vielen anderen Leidens- und Schicksalsgenossen.

Der einzige Lichtblick war vorgestern die Mitteilung von Robert, dass er endlich nach vielen nervenaufreibenden Wochen seinen Auswanderer-Pass erhalten hat und somit die Möglichkeit besitzt, in kurzer Zeit das Land zu verlassen. Dass man ihm sein ganzes Vermögen abgenommen hat und er als Bettler hinausgeht, müsste ich eigentlich gar nicht erwähnen, denn das ist ja die Regel. Er geht über die Schweiz, wo ich ihn hoffentlich treffen werde, nach England, wohin er zunächst ein dreimonatliches, aber verlängerbares Permit hat. In der Zwischenzeit hofft er, die Einreise nach Kalifornien zu erhalten. Du kannst Dir vorstellen, dass mir diese Perspektive auch nicht als das Ideal meiner Lebensziele und Wünsche erscheint, aber man wird jetzt von den täglichen Sorgen so in Anspruch genommen und zermürbt, dass man die Spannkraft verliert, sich auf so lange Sicht Vorstellungen von der Zukunft zu machen.«

Die Spannkraft verlieren, so nannte Leo es. Er musste wohl selber gemerkt haben, wie verändert er war. Es war schwer zu sagen, welche Lebensziele und Wünsche er hatte, die nun in weite Ferne gerückt waren. Er war eigentlich ein leichtherziger Charakter, fast wollte man ihn sogar als leichtlebig bezeichnen; jedenfalls viel leichter als Robert. Vor seiner Flucht aus Wien hatte er reinrassige Dackel gezüchtet, von denen er nur zwei Welpen mit nach Budapest bringen konnte. Zu ihrem 12. Geburtstag hatte er Elisabeth ein Dackelweibchen mit einem langen adligen Namen geschenkt und ihr erlaubt, es einfach nur kurz „Mirli“ zu rufen. Diese Anekdoten würde Elisabeth später immer wieder haargenau so erzählen, bis ins kleinste Detail. Alle Geschichten aus der Zeit vor ihrer Flucht waren wie geronnen.

Wenn Leo zu den Feitlers nach Hause kam, war Mirli ihm ein willkommener Vorwand. Dass er keine eigenen Kinder hatte, schien er manchmal sehr zu bereuen. Elisabeth erkannte das und wusste seine Freundschaft genau in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie nannte Leo ihren Wahlonkel und ein wandelndes Lexikon, weil er so bewandert war. Sein Weltwissen war gar nicht trocken. Legendär war zum Beispiel dieser eine unvergessene Sommertag, als Elisabeths Mutter Loni aus ihrem Roman aufsah und in die Runde fragte, was man sich denn unter einem „Bauchtanz“ vorzustellen habe. Leo stand auf und machte es ihnen vor. Das beschrieb Elisabeth in ihrem Tagebuch. Er war ein außergewöhnlich guter Tänzer, schrieb sie. In Budapest konnte er zum Glück in der Textilfabrik seines Bruders Artúr Hochner arbeiten, auf der Szentendrei-Straße im 3. Bezirk.

Währenddessen war es Robert gelungen, über die Schweiz nach England zu kommen, um in London seine nächsten Schritte zu planen. Er verschickte nun Briefe in beide Richtungen seines Weges: in eine mögliche Zukunft in den USA und in seine Vergangenheit auf dem europäischen Festland.

Robert schrieb: »Von Leo habe ich ziemlich regelmäßig Nachricht. Es ist die einzige Verbindungsmöglichkeit mit meinen Schwestern und mir auch deshalb so wichtig; er schreibt ganz regelmäßig, Du kannst dir vorstellen, was das für ihn für ein Opfer sein muss. Stehst Du wieder mit ihm in Verbindung?« 

Und Leo schrieb: »Der Eindruck, den Du aus Roberts Brief gewonnen hast, dass er ständig in England zu bleiben gedenkt, ist nicht ganz richtig, denn ich habe ihm in meinen letzten Briefen schon geschrieben, dass ich es für besser halte, wenn er die Möglichkeit, nach U.S.A. zu kommen, nicht ungenützt lässt. Ich komme leider langsam selbst zu der Überzeugung, dass es in Europa fast unmöglich ist, sich eine neue Existenz zu gründen, wenn man einmal gewaltsam entwurzelt wurde. Was mich bisher abgehalten hat, mich intensiver mit dem Gedanken an die U.S.A. zu befassen, ist die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist und ich das Gefühl habe, dass meine Anwesenheit für alle notwendig ist, so dass der, an den ich zuletzt denken darf, ich selbst sein werde. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.«

Das war ein bemerkenswerter Brief von Leo. Er korrigierte Elisabeths Interpretation von Roberts letzten Briefen. Er legte Rechenschaft über all die Verstrickungen der letzten Monate ab. Elisabeth blieb an einer Stelle hängen, die sie sich unterstrich:

»die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist«

Dieser beiläufige Nebensatz war im Singular abgefasst. Es war keine Aufzählung all derer, die noch in Europa waren. Leo zählte Robert zu seiner Familie. Einst enge Vertraute in Wien, die durch Leos Emigration getrennt worden waren, standen die zwei Männer nach all dieser Zeit noch immer in Kontakt und nahmen starken Einfluss auf den Weg des jeweils anderen:

Leo gestand: »Ich habe immer Robert zugeredet, die Verwirklichung seiner Überseepläne zu verschieben. Ich halte aber selbst im Falle einer baldigen Beendigung des Krieges die Situation in Europa für wenig aussichtsreich und es ist sehr leicht möglich, dass ich in Verfolgung dieses Gedankenganges mich auch selbst nach U.S.A. orientieren werde.«

Nun war Robert dazu angehalten, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Leos Stimme in seinem Ohr hatte ihre Meinung geändert. Aus dem Zuraten zum Verschieben war plötzlich ein Zuraten zum Verwirklichen geworden. Im Oktober 1940 war es so weit. In Liverpool ging Robert an Bord der S.S. Northern Prince. Ihr Zielhafen war New York – die neue Heimat der Feitlers und so vieler anderer jüdischer Emigrant*innen. Wenn es ihnen dort wirklich so gut ergangen war, wie Elisabeth in ihren Briefen ja eindrücklich geschildert hatte, ohne jemals etwas auszulassen, warum dann nicht auch ihm?

the name of my wife or husband is ——————————

Robert konnte lesen und schreiben, wie alle Passagier*innen auf seinem Schiff. Er gab an, die deutsche und die englische Sprache zu beherrschen. Er kam aus Wien, Deutschland, aber er war geboren in Wien, Österreich, so stand es auf dem Papier. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Dahinter blieben auf dem Formular viele Zeilen frei. Bis auf Robert waren alle ledigen Personen auf seinem Schiff selbst noch Kinder.

3     New York

Für den Anfang durfte er bei den Feitlers wohnen, um sich in Amerika einzugewöhnen und leichter eine Bleibe zu finden. Das war für ihn eine große Erleichterung. Die vorige Wohnung der Feitlers war ebenfalls auf der Upper Westside, nur ein paar Häuserblocks weiter: Sie wohnten alle zusammen in 355 Riverside Drive. Das konnte man sich gut merken. Es hatte sich bei jedem erneuten Formular, das Robert ausfüllen musste, so schön für ihn gereimt. Er benötigte auch eine „Person, die immer meine Adresse kennen wird“, und er nannte dafür seinen guten Freund Paul.

Im Frühjahr 1941 wurde Robert in New York eingebürgert:

(14) Es ist meine Absicht nach Treu und Glauben, ein Bürger der Vereinigten Staaten zu werden und dort permanent wohnhaft zu sein.

(16) Ich bin kein Anarchist, auch kein Anhänger der gesetzwidrigen Beschädigung oder Zerstörung von Eigentum, oder der Sabotage: auch kein Gegner von organisierter Regierung; auch kein Mitglied in jeglicher Organisation oder Gruppe, die sich gegen eine organisierte Regierung stellt. So wahr mir Gott helfe.

Von den Gesetzen geschützt, statt schikaniert zu werden – das war das Versprechen, das Amerika als gelobtes Land für viele traumatisierte Emigrant*innen einlösen konnte. Robert hätte sich die gleiche Hoffnung gemacht. Er fasste langsam Fuß in der neuen Stadt, baute sich ein soziales Netz auf. Er verließ das Zuhause der Feitlers und zog in die 79. Straße, wie aus seinen Gerichtsunterlagen hervorgeht: „308-E79St“, steht als Adresse mit einem spitzen Bleistift hinter dem speckigen Einband des Gerichtsbuchs notiert.

In der Nähe gab es eine Schwulenbar, die Robert in seinem neuen Leben gern besuchte. Im Februar 1944 war sie das Ziel einer Polizeirazzia mit einigen Festnahmen. Robert wurde dem Richter Charles Ramsgate vorgeführt. Am Amtsgericht gab es keine Jury und in dieser Sache auch keinen Kläger, nur einen Polizisten namens Campbell. Robert wurde vor die Wahl gestellt zwischen 15 Tagen Zuchthausstrafe oder einem Bußgeld in Höhe von 50 US-Dollar. Dass er letztlich das Geld zahlte, wurde dort mit einem Häkchen bestätigt.

Die nationalsozialistische Propaganda im Deutschen Reich hatte Homosexualität immer wieder als ein jüdisches Laster bezeichnet. In den Ausgaben des „Stürmers“ wurden Juden mit ihrem Foto und Namen zusätzlich noch als Homosexuelle und Sittlichkeitsverbrecher angeprangert, die die Jugend gefährdeten. Gegen homosexuelle Juden konnten härtere Gerichtsurteile erlassen werden, auch mithilfe der Nürnberger Gesetze. Ihre Deportation wurde oftmals durch ihr Vorstrafenregister erleichtert, ihre Ausreise hingegen durch ihre Einträge ins polizeiliche Führungszeugnis vereitelt. In den Konzentrationslagern waren diese Männer mit einem doppelten Winkel gekennzeichnet (der rosa und der gelbe Winkel, zu einem Davidstern kombiniert) und wurden auffällig oft in den Krankenbau eingeliefert. Sie waren als die „175er“ bekannt, nach dem Paragrafen 175 des Reichsstrafgesetzbuches benannt.

Währenddessen war es im New Yorker Strafrecht die Sektion 722, Abschnitt 8 (unter der Überschrift „Entartung“), die männliche Homosexualität als „Verbrechen gegen die Natur“ ahndete. Zwischen 1923 und 1966 kam dieser Paragraf bei schätzungsweise mehr als 50.000 Männern zum Einsatz. Sie erhielten Geld- oder Haftstrafen, und viele verloren danach ihren Job. Robert Bachrach war einer dieser vielen, ohne in jeder Hinsicht wie sie zu sein. Der spezifische Ablauf war ihm ganz eigen, wie jedem einzelnen der vielen anderen auch. Robert wurde nach dem Gerichtsurteil wegen „moralischer Verwerflichkeit“ aus der New York County Medical Society ausgeschlossen. Er hatte also innerhalb weniger Jahre seinen Arztberuf zweimal, in zwei Ländern und aus zwei verschiedenen Gründen verloren.

4     Budapest

Leo heiratete in Budapest eine Jüdin namens Vera. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn. Wenige Tage später begann unter der Leitung von Adolf Eichmann und im Zuge der „Endlösung“ die massenweise Verfolgung und Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden. Für Leo und Vera erschwerte das ihren Plan, gemeinsam in die USA auszureisen. Um nur überleben zu können, musste sich Leo in der Textilfabrik seines Bruders eine deutsche Uniform anfertigen lassen, die er auf offener Straße tragen konnte; mit gefälschten Papieren, die ihn als Christen und NSDAP-Mitglied auswiesen, und mit nur gekauften Tapferkeitsorden.

Elisabeth schrieb in ihr Tagebuch (und in vielen anderen Zeitzeugnissen ist ebenfalls glaubhaft überliefert), dass Vera und Leo Hochner ein Versteck bei sich einrichteten. Auf dem Dachboden ihrer Wohnung in der Sas-Straße im 5. Budapester Bezirk fanden bis zu sieben Menschen gleichzeitig Platz. Hier kamen Jüdinnen und Juden unter, die aus dem Pester Ghetto geflohen waren oder die Leo von der Straße reingeholt hatte. Ein befreundeter Kinderarzt namens Géza Petényi versteckte Dutzende jüdische Kinder auf seiner Krankenstation. Bei Überfüllung durften einige Kinder zu Leo und Vera kommen.

Dr. Petényi brachte regelmäßig Medikamente und Hygieneartikel vorbei. Vera und Leo trugen dreimal am Tag Essen nach oben. Wenn keine Gefahr bestand, konnten ihre Schützlinge den Dachboden verlassen, um die Glieder zu strecken, ein Bad zu nehmen oder ein Buch zu lesen. Elisabeth schrieb dazu in ihr Tagebuch: Man könnte das hier alles für ein einziges großes Lügenmärchen halten, wenn man ihren Onkel Leo nicht kannte.

Dass Leo und Vera in Budapest blieben, war also einerseits den äußeren Umständen geschuldet und zeugte andererseits von Mut und Selbstlosigkeit. Wenn Robert doch nur hätte wissen können, was sie mit ihrem kleinen Versteck in Budapest leisteten, müsste er sich im April 1944 vielleicht nicht so verlassen fühlen, oder vielleicht entziehen sich Gefühle einer solchen Logik.

Im Herbst 1944 wurde Vera schwanger. In die USA kam die frisch gegründete Familie Hochner erst in den 50er-Jahren. Das war lang nach Kriegsende und nur im Rahmen eines Urlaubs. Sie besuchten die Familien Feitler und Gay in New York, sobald ihr kleiner Sohn Robert alt genug für diese Reise war.

5     New York

Loni bewahrte in ihrer Kommode Robert Bachrachs letzten Brief auf. Er war an sie adressiert, nicht an Elisabeth. Sie überreichte ihn ihrer Tochter und sagte, „diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen“. Spätestens jetzt zweifelte Elisabeth an der Erkrankung als Todesursache.

Roberts Briefe aus Europa waren nur ein schlechter Ersatz für ein echtes Gespräch mit ihm gewesen, nie hatte Elisabeth nachhaken können, wie er etwas meinte, jede Antwort ließ auf sich warten und setzte an einem ganz anderen Punkt der Flucht wieder an. Und nun stellte sich also heraus, dass er ihr auch in seiner New-York-Zeit, als Person aus Fleisch und Blut, wohl nicht immer alles erzählt hatte, was in ihm vorgegangen war. In Zukunft blieb ihr nur noch diese stumme Begegnung mit Robert auf dem Papier. Es ist ein Abschiedsbrief, und es gibt ein paar schwer leserliche Stellen darin:

Robert schrieb: »Meine liebe Loni, meine Stunde hat geschlagen, und ich will Ihnen gegenüber noch weniger undankbar erscheinen als zu irgendjemand anderem. Denn Sie haben ein solches Übermaß von Güte an mich verschwendet in diesen letzten Jahren, dass ich es Ihnen niemals hätte danken können. Und nur durch Sie, sowie durch Pauls und Elisabeths Einstellung zu mir, war es mir möglich, durch die letzten wahrlich schweren Jahre aufrechten Ganges durchzuhalten. Aber Sie haben mir noch [weit?] mehr geholfen durch Ihr tiefes Verständnis für meine [persönlichen Sorgen?], durch Ihre niemals ausgesprochene und doch so deutliche Teilnahme an der Sehnsucht nach [denjenigen?], die mich hier allein stehengelassen haben. Denn dadurch habe ich mich doch immer wieder verlassen gefühlt.

Wenn Sie den Leo noch je im Leben wiedersehen sollten, so sagen Sie ihm, dass ich bis zur letzten Minute meines Daseins seiner gedacht habe. Haben Sie Dank, Robert.«

Beitragsbild von sue hughes auf Unsplash

Schwankende Kanarien

von Judith Schalansky

Mir war sehr wohl bewusst, dass die Geschichte des Lebens auf der Erde keine Bühnenhandlung war und das menschliche Auftauchen auf selbiger ein erstaunliches, doch flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis, das ebenso verschwinden würde wie eine Reihe anderer wundersamer Wesen. Und trotzdem sah ich noch einmal das Spektakel eines erst brennenden, dann brodelnden und dampfenden, bald schmatzenden Planeten, auf dem sich Wasser zurückzog und Kontinentalplatten verschoben, ungeheure Wälder wucherten, im Ozean allerlei Getier gedieh, das die Landmassen zu erkunden begann, bis nach einer Ewigkeit und einigen eiszeitlichen Sekunden doch noch eine gebückt gehende, behaarte, bewaffnete Kreatur auftauchte, mit der ich mich zu identifizieren gelernt hatte. Der Rest war Sesshaftwerdung und Abholzung, Bergbau, Verstädterung und Satellitenschrott. Ich steckte fest.

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Wem gehört diese Geschichte?

von Jutta Reichelt

Ich habe mich über nahezu alles Wichtige in meinem Leben geirrt. Ich habe mich auch über die Sprachlosigkeit geirrt, in der ich mich fast mein ganzes Leben lang befunden habe. Zunächst habe ich sie kaum einmal bemerkt. Und wenn ich sie bemerkte, dann war ich überzeugt, dass ich selbst daran schuld war. Weil es so vieles gab, für das ich mich schämte. Wenn die Scham nicht wäre, habe ich gedacht, dann könnte ich auch von mir erzählen. Von dem, was mich ausmacht. Und als ich dann der Scham allmählich Paroli bieten konnte (nicht zuletzt dank einer langen Therapie, für die ich mich ebenfalls lange geschämt habe) und es mit dem Erzählen noch immer nicht klappte, da war ich mir sicher: Wenn ich mich nur besser erinnern könnte, wenn ich mehr wüsste, dann würden sich meine „Erzählprobleme“ auflösen. Aber so war es nicht. Auch als ich endlich genug über das wusste, was mir widerfahren war, verknoteten sich meine Gedanken, sobald ich an mich und meine Vergangenheit nur dachte. Jeder erste Satz brachte mich in Erklärungsnot. Und mit jedem weiteren Satz wurde es nicht klarer, sondern komplizierter. Immer weniger stimmte, je mehr ich erzählte. Und was vielleicht noch seltsamer war: Ich verstand nicht, wie das sein konnte. Was machte das Erzählen noch immer so kompliziert? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass es mir nicht möglich war.

Ich suchte nach Literatur – so wie ich immer nach Literatur suche, wenn mich etwas beschäftigt, wenn ich von einer Frage umgetrieben werde. Ich suchte nach Literatur und war verblüfft, wo ich sie fand: Ich besaß sie längst. Ich fand unzählige Texte, die sich mit Fragen autobiografischen Erzählens beschäftigten, mit Problemen der Erinnerung. Mit der Unmöglichkeit des Erzählens als Traumafolge. Texte über Spaltung. Über Schreiben und Scham. Ich hatte das alles in den vergangenen Jahrzehnten gelesen oder überflogen oder zumindest gesammelt, „einfach so, weil es mich interessierte“, oft ohne dass ich einen Bezug zu mir, zu meinem eigenen Leben gesehen hätte oder auch nur ein verbindendes Thema. Und nun entdeckte ich, dass all die Kopien und Bücher, die sich in meinen Regalen stapelten, einen bislang übersehenen Zusammenhang besaßen: die Bedeutung, die das Erzählen für unser Leben besitzt, und in welche Schwierigkeiten wir geraten können, wenn es uns nicht möglich ist.

Ich fand nicht nur „fremde“ Texte. Ich staunte auch, wie oft ich schon versucht hatte, über mich zu schreiben. Versucht hatte, mir selbst oder anderen etwas zu erklären. Es ging in diesen Texten doch um mich? Oder nicht? Manchmal konnte ich mich weder an den Text erinnern, noch daran, von wem da überhaupt die Rede war: „Ich soll es aufschreiben. Angeblich spielt es keine Rolle, wo ich beginne – ich könne auch mit der Beschreibung des Zimmers anfangen, in dem ich mich gerade aufhalte. Wenn es keine Rolle spielt, kann ich auch so anfangen: Ich soll es aufschreiben. Es. Was mit „es“ gemeint ist, weiß ich und weiß ich nicht. Würde ich nachfragen, wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass ich zu viel nachdenke. Oder über die falschen Dinge. Es. Schreiben Sie es auf.“ Erst nach mehrmaliger Lektüre dieser handschriftlichen Notiz erinnerte ich mich, dass hier nicht von mir die Rede ist, sondern von Thomas Hellweg, dem Protagonisten meines ersten Romans Nebenfolgen, den ich nach der Fertigstellung des Romans noch eine Zeitlang nicht los geworden war, weshalb ich ihn kurzerhand in einer psychosomatischen Klinik unterbrachte, wo er von der zuständigen Psychotherapeutin aufgefordert wurde: „Schreiben Sie es auf!“

Schreiben Sie es auf! Hatte ich diese Aufforderung in einem Text untergebracht, ohne zu verstehen, dass sie nicht nur Thomas Hellweg, sondern auch mir galt? Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich mein halbes Leben lang auf eine Expedition vorbereitet zu haben, ohne es zu bemerken! Schließlich war ich für mich kaum weniger überraschend als für mein soziales Umfeld und noch dazu reichlich spät Schriftstellerin geworden. Ich bloggte Über das Schreiben von Geschichten und hatte einen Geschichten-Generator erfunden. Wie oft schon hatte ich andere Menschen ermutigt, ihr Leben aufzuschreiben in Workshops, die den Titel trugen Meine Geschichte schreibe ich selbst?

Meine Geschichte schreibe ich selbst ist eine schöne, ermutigende Aussage – aber was bedeutet sie für andere, die Teil „meiner Geschichte“ sind? Was ist mit meinen Geschwistern, was ist, wenn sie es vorziehen, „unerzählt“ zu bleiben? Ich konnte, als ich mich vor bald zehn Jahren auf die Suche nach meiner verloren gegangenen Lebensgeschichte machte, überhaupt nicht einschätzen, welche Haltung meine Geschwister diesem Projekt gegenüber einnehmen würden, das mir mit großer Wucht vor die Füße gefallen war. Würden sie es zähneknirschend hinnehmen, als eine weitere Zumutung, die diese Familie für sie bereithielt? Würde mich eine/r von ihnen bitten (vielleicht sogar entschieden auffordern?), von einer Veröffentlichung abzusehen? Was sollte ich dann machen? Sollte ich ihnen eine Art Veto-Recht einräumen gegenüber einzelnen Details, Passagen oder gar dem ganzen Projekt? Aber lag nicht bereits in der Bitte um eine solch „prüfende Lektüre“ eine Zumutung? Ich hatte fast mein ganzes Leben die wildesten Verrenkungen unternommen, um den Abgrund nicht zu sehen, an dem ich mich befunden hatte – und nun sollte ich meine Geschwister an genau diesen Abgrund zerren? Und selbst wenn sie sich der emotionalen Herausforderung einer Lektüre unterzögen – was wäre, wenn sie in sechs Monaten, in sechs Jahren anders darüber dachten als heute? Was dann?

Diese Fragen begleiteten mich viele Jahre und es ist sicherlich kein Zufall, dass einigen der autobiografischen Texte, die mir viel bedeuten, ein „Geschwisterthema“ eingeschrieben ist. Das gilt ganz besonders für das Buch Bergljots Familie von Vigdis Hjorth. In diesem autobiografischen Roman erzählt die norwegische Autorin nicht nur von den sexuellen Übergriffen ihres Vaters, sondern ebenso nah entlang ihres realen Lebens von den Streitigkeiten zwischen den mittlerweile erwachsen gewordenen Geschwistern, die sich an Erbe und Testament des Vaters entzünden und in denen es zugleich um so viel mehr geht: um Anerkennung und Leugnung des erlittenen Unrechts, um die mangelnde Vorstellungsfähigkeit der beiden jüngeren und nicht unmittelbar betroffenen Schwestern, um den Wunsch nach Solidarität und Kommunikation und deren Scheitern, ja Unmöglichkeit. Von all dem erzählt Bergljots Familie eindringlich – und als bedürfe es noch eines weiteren Beweises für das Ausmaß der Konflikte, erzählt davon auch die ganz reale Geschichte, die sich nach der Veröffentlichung des Buches zwischen der Autorin Vigdis Hjorth und einer ihrer Schwestern zugetragen hat: Diese Schwester (die Juristin Helga Hjorth) erwog zunächst, juristisch gegen die Veröffentlichung vorzugehen, entschied sich dann aber dagegen und verfasste stattdessen einen „Gegenroman“. Nur so, nur mit einer anderen Geschichte, glaubte sie, die Aussagekraft des Textes angreifen zu können. Ein Gegenroman – was für eine Geschichte hinter der Geschichte!

Ich halte Bergljots Familie für das beste mir bekannte Buch über innerfamiliale sexuelle Gewalt: darüber, was es bedeutet, unter den Bedingungen eines familiären Irrsinns aufzuwachsen, der sich mit bürgerlicher Normalität tarnt und wie schwer es ist, sich aus solchen familiären Verstrickungen zu befreien. Was für ein großartiges, wichtiges Buch! Aber spielt die Qualität überhaupt eine Rolle bei der Frage, was eine Autor*in anderen zumuten darf? Sind Verletzungen der Intimsphäre bloße Kollateralschäden, lässliche Übel, die der künstlerischen Entfaltung zumindest dann nicht im Weg stehen sollten, wenn für das Werk literarische Ansprüche oder politische Relevanz erhoben werden können? Darf Vigdis Hjorth, was Lieschen Müller nicht darf?

Wie wenig unsere Geschichte allein uns „gehört“, wie wenig wir bestimmen können,  wie sie erzählt wird, davon erzählt Édouard Louis in Im Herzen der Gewalt auf eine sehr spezielle Weise: Über weite Strecken ist es nämlich gar nicht der Ich-Erzähler, der uns von der sexuellen Gewalt erzählt, die ihm widerfahren ist, sondern es ist seine Schwester. Diese erzählt ihrem Mann, was ihm widerfahren ist und es ist diese „belauschte Version“, die er wiederum erzählt …
Dieses indirekte Erzählen vermittelt einerseits, wie schnell sich das von uns Erlebte im (Weiter)Erzählen unserer Kontrolle entzieht – und wie sehr in diese anderen Erzählungen immer auch ein vorgängiges Wissen oder Bewertungen eingehen. Es ist nicht zufällig die Schwester, der wir zuhören, mit der den Ich-Erzähler eine sehr ambivalente Beziehung verbindet.

Ein kompliziertes Geflecht aus Scham und Kränkungen prägt die Beziehung Édouard Louis’, wie auch die Didier Eribons zu ihren Familien. Obwohl unterschiedlichen Generationen angehörend, sind beide homophoben Anfeindungen und Ressentiments ausgesetzt – auch von ihren Geschwistern. Ich schätze die Texte dieser beiden Autoren sehr und habe mich, ein wenig bang, zugleich immer wieder bei der Lektüre gefragt, was ihre Geschwister zu dem Text sagen werden, sagen würden, wenn sie ihn lesen, falls sie ihn läsen. Ich habe mich gefragt, ob das für Eribon, für Louis eine Rolle gespielt hat? Und wenn nicht, warum nicht? Weil so selbstverständlich ist, dass ihre Geschwister die Texte überhaupt nicht lesen würden? Weil es bei all den vorhandenen Differenzen auf die durch die Veröffentlichung entstehenden Probleme dann auch nicht mehr ankam? Es geht mir nicht um eine moralische Bewertung, die mir weder zusteht, noch mich interessiert. Ich würde einfach nur gerne wissen, welche Gedanken sich andere Autor*innen machen, die vor ähnlichen Fragen stehen. Aber vielleicht ähneln sich unsere Situationen nur scheinbar – denn ich habe kein Unrecht durch meine Geschwister erfahren. Im Gegenteil.

In den langen Jahren meiner Arbeit an dem Text klärte sich dann manches „wie von selbst“. Das erste, das mir bewusstwurde: Ich konnte nichts unternehmen, solange der Text und sein Inhalt sich ständig veränderte. Erst, wenn ich eine halbwegs „fertige“ Version zustande gebracht hätte, existierte überhaupt eine vernünftige Basis, um sich darüber – in welcher Form auch immer – mit anderen auszutauschen. Aber mir wurde allmählich auch immer klarer, dass ich diesen für mich so wichtigen Text nicht von der Zustimmung anderer abhängig machen konnte, noch nicht einmal von der Zustimmung meiner Geschwister.

“Good writers are monotonous, like good composers. They keep trying to perfect the one problem they were born to understand“. Natürlich weiß ich nicht, ob ich das bin, was Alberto Moravia, von dem dieses Zitat stammt, sich unter einer „guten Autorin“ vorgestellt hat, aber je länger ich an diesem Text schrieb, desto klarer empfand ich, dass die Überwindung der Sprachlosigkeit das eine Problem ist, das zu verstehen offenbar meine Lebensaufgabe ist.

Hier stehe ich und kann nicht anders. So ist es manchmal im Leben. Aber das bedeutet auch, mit den Konsequenzen zu leben. Zu akzeptieren, dass andere mit dem gleichen Recht anderes wollen oder nicht lassen können. Für mich war es ein wichtiger Schritt zu verstehen, dass es in diesem Konflikt zwischen meinem Recht, meine Geschichte zu erzählen und dem (potentiellen) Recht meiner Geschwister, „unerzählt“ zu bleiben, nicht auf jeden Fall eine „gute Lösung“, einen Kompromiss geben wird, wenn wir uns alle nur genug darum bemühen. Ich habe für möglich gehalten, dass mein Text und seine Veröffentlichung zu Konflikten zwischen uns Geschwistern führt, die ich nicht werde abwenden können – aber zugleich wollte ich alles dafür tun, das mir möglich war, damit es nicht so käme. Schon während des Schreibens habe ich mich daher bemüht, meinen Geschwistern und ihrem (möglichen) Wunsch auf Diskretion so weit entgegenzukommen, wie nur möglich. Sie würden nur da „auftreten“, wo es absolut unvermeidbar war. Ich würde auf Hintergründe, Details, Erläuterungen verzichten, die sie und ihr Leben betrafen. Sie würden Schemen bleiben. Auch das garantierte nicht ihr Einverständnis, ihre Zustimmung, aber es war das, was ich tun konnte.

„Es ist keine Frage nach dem „darf ich das?“ Es ist ein natürliches Gezwungen-Sein“, sagt die Autorin Sandra Hoffmann im Zusammenhang mit ihrem autobiografischen Roman Paula, dessen Entstehung sie eine „Zumutung“ nennt für ihre Familie, und auch für sich selbst. Für mich habe ich das Schreiben meines Textes nur in seltenen Momenten als Zumutung empfunden und mittlerweile weiß ich, dass er das offenbar auch für meine Geschwister nicht ist. Nachdem sie ihn dann tatsächlich gelesen hatten, kam ein anderer Gedanke, kam eine Hoffnung hinzu: Vielleicht wird der Text es nicht nur mir, sondern auch meinen Geschwistern oder ihren Kindern in Zukunft leichter machen, Auskunft zu geben, Fragen zu beantworten. Sich selbst und anderen. Vielleicht wird dieser Text Teil einer verschütteten Familienchronik. Eine Version. Eine Aussage. Eine Zeugenaussage, die es anderen ermöglicht oder leichter macht, von ihren Erfahrungen zu erzählen – so wie es bei Boris Cyrulnik der Fall war. Auch er konnte das, was er erlebt hatte, er konnte die Geschichte seiner sich so unwahrscheinlich anhörenden Rettung erst erzählen, nachdem sie von anderen bezeugt worden war. Erst danach konnte er sich wirklich glauben, was er erlebt hatte.

Auch ich könnte das, was ich jetzt allmählich beginne, „meine Geschichte“ zu nennen, nicht erzählen, wenn es nicht andere gäbe, die sie bezeugten, insbesondere meine Geschwister. Aber ich habe nicht nur von ihrer direkten Zeugenschaft profitiert, sondern ebenso von den Berichten vieler anderer. Erst durch den Verweis, den Bezug auf sie, kann ich dem Vorwurf der Unglaubwürdigkeit, den ich solange mir selbst gegenüber erhoben habe, begegnen. Erst durch die Texte, die Aussagen anderer höre ich auf, zu sein, was ich solange war: Eine unglaubwürdige Erzählerin meiner selbst.

Dieser Text ist ein für diese Veröffentlichung leicht überarbeitetes Kapitel aus dem Manuskript „Meine Geschichte schreibe ich selbst. Von der Überwindung der Sprachlosigkeit.“

Foto von Kelly Sikkemash

Der Tampon in der geballten Faust

von Any Woman

Während ich schreibe zieht der Schmerz am hinteren Bein entlang bis in den Fuß. Er kommt unterwartet und wirft meinen Atem aus seinem Rhythmus. Ich mag nicht Luftholen, will nur warten, dass er sich verzieht, dieser Schmerz, der ruhelos durch meinen Körper wandert. Ich liege im Bett, im Rücken eine Wärmflasche, eine auf dem Bauch, zwei Paracetamol und einen Krampflöser im Magen, ich habe trotzdem Schmerzen. Meine Brüste tun wegen der Wassereinlagerungen schon seit Tagen weh. Dann diese Müdigkeit, das Gefühl, jemand drücke langsam die Luft aus mir heraus, wie aus einem labbrigen Ballon, der im Gebüsch vor dem Standesamt auf sein Ende wartet.

Dazu kommen die extrem starken Blutungen. Ich benutze die größten Tampons, die es gibt, häufig reichen sie dennoch nicht, dann wache ich in einer Blutlache auf. Neuerdings wecken mich an schlimmen Tagen meine Schmerzen auf, manchmal auch mehrfach in einer Nacht. Ich bin Menstruations-Profi, ich kenne alle Tricks der Schmerzbekämpfung, besitze eine Ansammlung von Wärmflaschen, für den Notfall habe ich Tabletten vom Hexenschuss aufgespart, die den Schmerz nicht an das Gehirn melden. Ich weiß auch genau, wann das Zeitfenster ist, wenn Selbstbefriedigung den Schmerz lindert und Krämpfe löst. Das Glück, sich für einen Moment von der dauernden Anspannung zu lösen. Manchmal muss man dafür teuer mit neuen, intensiveren Krämpfen bezahlen.

Nach zwei bis drei Tagen normalisiert sich alles wieder, die Wassereinlagerungen verschwinden. Meine Menstruation ist so verlässlich wie unzuverlässig. Sie richtet sich nicht nach der Norm von 28 Tagen und ob ich am dritten Tag wieder mein Leben, mein Arbeiten wieder aufnehmen kann, entscheidet sich spontan. Heute ist der dritte Tag und ich möchte eigentlich nur schlafen und kitschige Filme gucken. Seit einiger Zeit beginnen die Blutungen gerade dann, wenn ich sie gar nicht brauchen kann: unmittelbar vor Vorträgen, an wichtigen Arbeitstagen, bei Familientreffen und natürlich bei Dates. Verlässlich sind nur die wiederkehrenden Schmerzen, die Mengen an Blut, die Muskelbewegungen aus meinem Körper pressen. Verlässlich ist auch die Sorge, der Tampon, die Menstruationstasse sei voll, der Weg zur nächsten Toilette zu weit. An den ärgsten Tagen bin ich am liebsten in der Nähe meiner eigenen. Seit einigen Jahren arbeite ich in einem neuen Gebäude mit neuen, sauberen Toiletten, zum ersten Mal in meiner über 30jährigen Menstruationskarriere.

Als der Hausarzt vor einiger Zeit Eisenmangel bei mir feststellt, schickt er mich ohne Absprache zu einer Magen- und Darmspiegelung. Meine Großmutter hatte Darmkrebs, ich bin panisch. Mit dem Darm ist alles in Ordnung, aber meine Monatsblutungen sind in den letzten Monaten noch viel extremer. Ich schlafe nachts mit einem Handtuch zwischen den Beinen. Danach fragt mich meine Hausarzt aber nicht, obwohl es bei Eisenmangel bei Frauen meines Alters absolut naheliegend ist. Mein neuer Hausarzt will später wissen, warum ich in meinem Alter denn schon eine Magen- und Darmspiegelung hinter mir habe. Als ich ihm den Grund nenne, zuckt er mit den Achseln, die Menstruation hätte man eben nicht so im Blick. Jede vierte Person auf der Welt menstruiert regelmäßig, also im Schnitt auch ein*e von vier Patient*innen. Wieso hat man das als Allgemeinmediziner nicht im Blick?

Ich brauche schnell einen Termin und gehe zur Vertreterin meiner Gynäkologin. Nach der Untersuchung sieht sie ratlos aus, denn in meiner Gebärmutter haben sich mehrere Myome ausgebreitet. Sie sind für die starken Blutungen verantwortlich. Krebs könne sie weitgehend ausschließen, um sicher zu sein, müsse man aber ein MRT machen, sagt sie. Dafür bekomme ich frühestens in drei Monaten einen Termin. Ich entscheide mich für eine Operation. Bis zur OP sieben Wochen später begleitet mich die Aussicht auf Krebs, ich schiebe sie weg. Die neue privaten Krankenversicherung stuft mich derweil als Risikopatientin ein: wegen der Myome und wegen der Magen- und Darmspiegelung.

Die Myome lasse ich mir in einer Klinik entfernen, die auf Spätgebärende spezialisiert ist, denn ich will meine Gebärmutter behalten. Dafür muss ich kämpfen, denn ich bin Mitte 40 und da braucht man die Gebärmutter ja nicht mehr. Mit einer Hysterektomie sind Frauenärzte noch immer nicht zimperlich, der angeblich inklusive Begriff „Menschen mit Uterus“ hat medizingeschichtlich einen höchst bitteren Beigeschmack und braucht ganz dringend Ersatz. Myome sind gutartige Gewächse, sie wachsen besonders in der fünften Lebensdekade, man muss ihretwegen keine Organe entsorgen, die keineswegs nur einer Schwangerschaft dienlich sind.

Bei der OP werden sie zertrümmert, in einem von tausend Fällen ist es doch Krebs, dessen Zellen man dann im ganzen Körper verteilen würde, werde ich vorab informiert. Ob ich nicht doch eine Hysterektomie vorzöge. Auch die mich behandelnde Ärztin mault beim post-operativen Gespräch, was der Erhalt denn solle, bei der Diagnose. Das nächste Mal müsse sie dann aber raus, raunt sie. Das nächste Mal, denke ich, bin ich privat versichert und dann operiert mich deine Chefin. Erst nach Weihnachten erfahre ich, dass der histologische Befund unauffällig ist. Die ersten drei Perioden nach dem Eingriff sind erfreulich unauffällig, danach ist alles wieder beim Alten und schlimmer.

Ich hätte gern ein Gesetz wie in Spanien, das Krankheitstage für Menschen mit Hypermenorrhoe und anderen starken Menstruationsbeschwerden vorsieht. Dann müsste ich nicht immer vortäuschen, an etwas anderem erkrankt zu sein, wenn ich vor Schmerzen kaum aus dem Bett komme oder panisch bin, bei der Arbeit so starke Blutungen zu haben, dass ich es nicht mehr bis in die nächste öffentliche Toilette schaffe, es alle mitbekommen. Ich würde gern sagen können: ich kann nicht zur Arbeit kommen, weil ich mich vor Schmerzen winde, nicht zuhören kann und mich fühle, als rausche die ganze Welt durch mich hindurch. Stattdessen melde ich mich zwei Tage krank, am dritten dann wieder gesund, dann benötige ich keinen Nachweis und keinen Arzt. Das tun zu können, Zugang zu Hygieneprodukten, Schmerzmitteln und Krankentagen zu haben, ist ein Privileg, ich weiß.

Überhaupt fällt es so schwer, Worte zu finden für das Menstruieren, in ein Gespräch über dessen Beschwerlichkeiten zu kommen. Wie oft habe ich von Frauen gehört „Damit habe/hatte ich ja keine Probleme“, wenn ich gesagt habe, es geht mir nicht gut. Es ist mir unangenehm, deshalb bei der Arbeit zu fehlen. Ich bin ja eigentlich nicht krank, müsste das doch aushalten können. Andere gehen dann schließlich zum Bouldern. Öffentlich macht uns das Menstruieren ja allen nichts aus, wir sind leistungsstark und machen in dieser Zeit Sport und alles andere wie immer, so will es das Werbenarrativ der Hygieneindustrie. Ich freue mich für alle, denen es so geht. Ich aber bin jedes Mal erleichtert, wenn ich am Wochenende menstruiere, wenn es privat ist, in meiner Komfortzone.

Das Thema ist so voller Scham, nur ein funktionierender Unterleib ist ein erzählbarer Unterleib. Dem erhofften Liebhaber kann ich nicht sagen, dass meine Gebärmutter voller Myome steckt, obwohl ich es ihm gern sagen können würde. Wie ich gerade das Organ verteidigen muss, mit dem ich ihn gern in entfernte Berührung brächte, warum ich mehr behalten will, als nur meinen Gebärmutterhals. Der wird nämlich auch deshalb stehen gelassen, damit er den Beckenboden stabilisiert. Einem anderen guten Freund kann ich nie sagen, wie es mir wirklich geht, beschreiben, was mit mir passiert, stattdessen fasele ich von „Frauenleiden“ oder „Wärmflaschentagen“ und bin wütend auf mich selbst. Nur mit den engen Freundinnen war und ist es anders.

Die weitgehende Sprachlosigkeit begleitet mich schon seit Periode Eins. Meine erste Monatsblutung habe ich im Krankenhaus, nach einer Routineoperation erlebt. Vollkommen unerwartet wache ich im Bett voller Blut auf, es dauert ewig, bis ich frische Kleider und neue Bettwäsche bekomme. Ich bekomme Krankenhausbinden, die ständig verrutschen. Niemand redet mit mir, fragt mich, wie es mir geht. Ich habe mir das schon gedacht, sagt die Krankenschwester bedeutungsvoll zu meiner Mutter, als sei sie eine Expertin für meinen Körper. Ich bin bei meiner ersten Periode schon 14 und spät dran. In der Schule hat fast niemand Worte für das, was jeden Monat mit uns allen passiert, was einige von uns aus der Bahn wirft, quält.

Ich hatte lange nicht verstanden, warum man nicht schwimmen oder beim Sport mitmachen kann, weil die Tante zu Besuch ist, warum das Wort Periode oder Menstruation so unaussprechlich ist, selbst in der Mädchenumkleide. Tampons reichen wir uns heimlich weiter, in der geballten Faust oder hinter dem Rücken, so als würden wir Drogen verticken. Wenn wir eines brauchen, flüstern wir miteinander. Rollt der Tampon auf den Klassenfußboden, dann sind das Momente größter Scham, sogar heute ist es mir noch peinlich, wenn es mir etwa im Zug passiert.

Wären Tampons in meiner Schule, an meiner Uni einfach auf den Toiletten öffentlicher Institutionen verfügbar gewesen, so wie es heute immer üblicher wird, hätte das meiner Generation vielleicht viel Scham erspart, ein anderes Sprechen ermöglicht, nicht nur in mit der besten Freundin, der das Gerede von der Tante zu Besuch auch zu blöd war. Dennoch: Ich habe diesen Text im Ordner privat gespeichert, ich habe ihn voll Sorge einer Freundin zum Lesen geschickt, ob sie meine Aufzeichnungen vielleicht völlig unpassend findet. Mein Name steht nicht darüber, denn ich will schließlich nicht vor allem die sein, die schlimm menstruiert. Vorerst bleibt der Tampon in der geballten Faust.

Titelfoto von Josefin

Anleitung zum Auswandern  

von Natalia Sadovnik

Zuerst machst du den Fernseher kaputt.

Natürlich sagst du deiner Mutter, es sei der Kater gewesen, wenn du die hässliche Blumenvase umstößt, während ein Film mit Jackie Chan läuft und du deinen Tornado-Tritt praktizierst. Zack, läuft das Wasser schon durch das Lautsprecher-Gitter und füllt die Innenseiten des aufgeblähten sowjetischen Schwarz-Weiß-Fernsehers, der selbstgenügsam auf dem glattpolierten Holzregal thront, seit du dich erinnern kannst.

Du hast schon oft Sachen zerbrochen, inzwischen ist es Teil deiner Identität. Aber es ist einfacher geworden, seit der Kater da ist. Ihn schlägt deine Mutter fast nie, vor allem nicht, wenn sie es erst herausfindet, nachdem das Verbrechen bereits verjährt ist. Meist merkt sie nur, dass du an den Abenden stiller bist, an denen sie zu einem kaputten Fenster, dem Loch in der Wand oder dem verschütteten Parfüm nachhause kommt. Dann weiß sie, etwas ist im Busch. Doch gibt es in eurer Wohnung trotz ihrer Größe zu viele Ecken, die sie untersuchen müsste. Und meist ist sie dafür viel zu müde.

Du wirst also über den Fernseher lügen. Deine Mutter wird dir glauben oder nicht, in jedem Fall wird sie den Reparaturmeister anrufen.

Während er über dem auseinander geschraubten Fernseher kniet, wirfst du dein Haarband auf den Perserteppich an der Wand über deinem Bett, sodass der Kater ihm hinterher springt. So bekommst du die Geschichte deiner Auswanderung von Anfang an mit.

„Was machst du noch hier?“, fragt der Meister deine Mutter, während er die Innereien des Fernsehers herausschraubt. Er selbst geht in zwei Monaten aus Odessa weg.

„Wo soll ich denn hin?“, fragt deine Mutter, und die Frage erscheint dir sehr logisch, im Gegensatz zu dem Rest, der später passiert.

Er schließt seinen Koffer, wischt die grauen Haarsträhnen von der verschwitzten Stirn ab und sagt:

„Ich habe einen Mann für dich.“

„Wen denn?“, lacht deine Mutter.

„Einen guten. Meinen Schwiegervater.“

„Will der auch nach Deutschland? Nein, Mischa. Lass mich“, winkt sie ab. Sie sieht plötzlich ernster und älter aus. 

***

Dann musst du sehr krank werden. Du wirst sowieso oft krank, aber diesmal sind es die Bronchien. Ein paar Wochen lang kannst du schlecht atmen, deine Mutter sitzt an deinem Bett und wechselt die feuchten Tücher an deiner Stirn. Wenn es dir besser geht, simulierst du noch ein paar Tage länger, um im Bett zu lesen und zu essen, was du sonst nicht darfst. Danach schreit deine Mutter dich noch wochenlang nicht an und zwingt dich auch nicht, den Borschtsch aufzuessen, den du erst viele Jahre später mögen wirst.

Als nächstes klingelt der Gasmann. Deine Mutter öffnet nicht. Das Telefon ist das einzige, das sie in den letzten zwei Jahren bezahlt hat, denn das kann dezentral abgeschaltet werden. Für alles andere müsste jemand in die Wohnung kommen. Oft bist du allein zuhause, wenn jemand klingelt. Natürlich machst du nie auf, aber du kletterst auf die Heizung in der Küche und versuchst, aus dem kleinen Fenster zu spähen. Auch im Sommer lasst ihr nicht mehr die Tür auf. Wegen der Besuche der Kommunalverwaltung, aber auch weil der Kater sonst weglaufen könnte.

***

Du musst sehr gut in der Schule werden. Aber das fällt dir eh leicht, du magst es dort, auch wenn du es nie zugeben würdest. Du könntest den ganzen Tag lesen und Aufgaben lösen und verstehst nicht, warum sich sonst niemand dafür interessiert. Du hast Freundinnen, obwohl jede von ihnen früher oder später immer weniger mit dir redet und sich schließlich zu jemand anderem setzt. Aber du versuchst, dazuzulernen. Du hebst nicht mehr als einzige deine Hand. Und wenn deine Ukrainischlehrerin vor der ganzen Klasse sagt, deine Rechtschreibung käme von Gott, weißt du bereits: Das wird deine Beliebtheit nicht steigern.

Du bekommst Übung darin, deine Gesichtszüge zu Stein werden zu lassen: Schmale Lippen, ein klarer Blick vor dich hin. In Mathe verstehst du zwar immer weniger, aber nachdem du deine Klausur beendet hast, hast du meist noch die Zeit, mit deiner Sitznachbarin Lena leise die Papiere zu tauschen und auch ihre Aufgaben zu lösen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie am längsten an deiner Seite bleibt.

Sie trägt eine hübsche Uniform mit dem plissierten Rock, ihr Gesicht ist rund und flach, die Augen weit auseinander, ein trübes Grün. Sie ist auf eine beeindruckende Art normal: Ihre Haare sind dunkelblond, sie hat beide Eltern, eine ältere Schwester und sogar einen Labrador, eine Art von Hund, von der du noch nie etwas gehört hast. Sie mag englische Bands, die du nicht kennst, mehr noch, sie hat manche davon schon live gesehen. Eine Woche lang redet sie nur über Kakteen und schreibt in alle Freundschaftsbücher, Kaktus sei ihre Lieblingspflanze. Das fehlt dir: Dinge, die du deins nennen kannst. Du wüsstest nicht, wie du dich für eine Lieblingsblume oder eine Lieblingsfarbe entscheiden sollst. Dinge einzuteilen, das war noch nie deine Stärke. Zumal niemand anderes lila zu mögen scheint und du dir wie eine Idiotin vorkommst.

Nach Schulschluss geht ihr beide langsam nach Hause, die Rucksäcke lässig an einer Schulter hängend, ihrer hellrosa, fast beige, und deiner alt und abgewetzt, wieder in diesem viel zu emotionalen Lila. Wenn sich eure Wege am Milchladen trennen sollen, gehst du normalerweise noch ein Stück mit ihr mit, auch wenn es die entgegengesetzte Richtung ist. Es sind nur zehn Minuten, du genießt die Sonne und die Gespräche mit ihr. Am letzten Schultag holen ihre Eltern sie ab und du gehst allein nachhause. Der Weg ist unangenehm kurz.

Nach den Sommerferien erfährst du, dass sie umgezogen ist. Du fragst dich, warum Menschen immer irgendwohin gehen müssen und nie einfach am selben Ort bleiben können.

***

Du musst immer noch gute Noten bekommen, trotz deiner Matheprobleme, außerdem liest du sehr viel. Also beschließt deine Mutter, dich auf eine jüdische Schule zu schicken. Sie ist öffentlich und daher kostenlos, aber viel besser als deine reguläre Schule.

„Ausgebucht“, sagt die Schulleiterin, eine Nichtjüdin, wie deine Mutter später betonen wird.

„Aber es ist Mai. Das Auswahlverfahren hat noch nicht einmal begonnen.“

„Nun, unsere Plätze sind begrenzt…“

„Sie haben gar nicht gefragt, in welche Klasse meine Tochter geht.“

„Wie bitte?“

„Sie ist sehr intelligent.“

„Schön, aber…“

„Gibt es oder gibt es keine freien Plätze für eine Zehnjährige?“

„Nun. Ich müsste erstmal ihre Noten sehen.“

Deine Mutter steht auf. „Ich lasse ihre Dokumente hier“, sagt sie und legt die Mappe auf den Tisch vor der Schulleiterin. „Und komme in einer Woche wieder.“ Die Schulleiterin betrachtet die Mappe und steht nicht auf.

Draußen stößt deine Mutter auf Sergej, einen einstigen Liebhaber ihrer besten Freundin.

„Was machst du hier?“, fragt er.

„Ich versuche, meine Tochter reinzukriegen.“

„Ach? Vielleicht sitzt sie ja bald neben Saschka. Er wurde gerade aufgenommen.“

Deine Mutter schaut auf. „Dein Sohn? Wie ist er denn reingekommen?“ Mit er meint sie – kein Jude.

Er lacht und reibt seinen Daumen gegen den Zeige- und Mittelfinger.

„Ja, das hat sie gerade auch bei mir versucht“, schnaubt deine Mutter.

„Was machst du eigentlich noch hier?“, fragt Sergej. Auch er hat nicht vor zu bleiben. Aber er braucht eine jüdische Frau. Allein lassen sie ihn nirgendwo rein, sagt er und zwinkert meiner Mutter zu. Sie winkt wieder ab. In der Nacht träumt sie von Müllbergen. Das bedeutet Geld, sagt deine Oma, die ein Buch über Traumdeutung geschrieben hat. Am nächsten Tag geht deine Mutter zum Markt. Sie trifft ihre Freundin Karina und ihre Schwester Sveta. Karina war einmal Lehrerin, jetzt verkauft sie Klamotten in einem Container auf dem „Siebten Kilometer“. Sveta wohnt seit zwei Jahren in Köln, weil ihr Mann eine jüdische Oma hatte. Nach einem mageren Einkauf lädt deine Mutter beide ein. Du sitzt auf dem Sofa und liest, während sie Wein aus Sektgläsern trinken.

„Was machst du eigentlich noch hier?“, fragt Sveta.

Deine Mutter erzählt ihnen von Sergejs Vorschlag. Was für ein Aferist, sagt sie.

„Du bist echt dumm“, sagt Sveta. „Du kannst doch jederzeit zurück.“

Deine Mutter guckt sie an. „Zurück?“

„Weißt du denn nicht, wie viel Geld du aus ihm rausschlagen könntest?“ 

„Zurückgehen“, sagt deine Mutter langsam. „Ja, das wäre möglich.“

Wenn sie gegangen sind, räumt sie die Sektgläser weg. Dann macht sie dir einen Salat aus Tomaten, Gurken und Radieschen und während du beim Essen liest, schaut sie lange aus dem Fenster. Dann nimmt sie das Telefon und ruft den Reparaturmeister an.

„Mischa“, sagt sie. „Ich habe nachgedacht.“

„Wir kommen in einer Stunde“, sagt er.

***

Der Mann, den deine Mutter heiraten soll, hat ein braunes, gesundes Gesicht und hervorquellende blaue Augen, weswegen er dich an einen freundlichen Esel erinnert. Seine Frau, zotteliges graues Haar und schwarze Augen, sieht aus wie eine zappelige Baba Yaga. Sie haben sich bereits scheiden lassen. „Hättest du nur einen Tag später angerufen, wären wir schon auf dem Weg nach Deutschland“, sagt Mischa. Sein Zug fährt um acht Uhr abends, danach steht ihm noch eine sechsunddreißigstündige Busfahrt bevor.

Die Baba Yaga grinst verlegen und sagt: „Am Ende verlässt er mich tatsächlich noch.“ Alle lachen sehr, sehr laut. 

***

Deine Mutter bekommt einen neuen Job als Kassiererin in einem Computerhandel. Es ist schon Winter, um fünf wird es dunkel, um sechs schalten sie den Strom ab, um sieben kommt sie nach Hause. Du darfst keine Kerzen anzünden, also setzt du dich für eine Stunde auf die Fensterbank und schaust auf die Straße. Die Straßenlaternen sind das einzige, was den Raum beleuchtet, allerdings sind die Schatten lang und deswegen versuchst du, nicht ins Zimmer zu gucken. Du spähst nach deiner Mutter, aber du siehst sie nie, wahrscheinlich kommt sie aus einer anderen Richtung. Ihr wohnt im Erdgeschoss. Du könntest die Passanten berühren, wenn kein Glas und Gitter zwischen euch wäre. Die meisten eilen mit eingezogenem Nacken vorbei und sehen dich nicht. Einmal bleibt ein Mann genau vor dir stehen und schaut dich an. Du erstarrst. Erst schaust du an ihm vorbei, als stünde er nicht da, dunkel und stumm, dann kommt dir ein günstiger Gedanke, eine glückliche Gewohnheit, die dich seit eh und je rettet: Lügen. Du stehst auf und winkst, winkst einem unsichtbaren Retter irgendwo in der Ferne, winkst so lange, bis der Mann endlich weggeht. Selbst zwanzig Jahre später, wenn das Haus, in dem du deine Kindheit verbracht hast, von der Landkarte verschwindet, wirst du manchmal von ihm träumen, wie er hinter dem verschnörkelten Gitter steht, ohne den Blick von dir abzuwenden.

Im Januar heiratet deine Mutter den freundlichen Esel im Standesamt am Operntheater. Du bist nicht dabei. Danach füllt sie die Formulare aus und schickt sie nach Deutschland. Die Wartezeit beträgt zwei Jahre. Deine Mutter bekommt die erste Rate vor dem Esel, und du probierst zum ersten Mal im Leben weiße Schokolade. Seit langer Zeit kommt niemand mehr, um die Gaskosten einzutreiben.

Du fragst deine Mutter: „Können wir in Deutschland eine Badewanne haben?“

„Bestimmt“, sagt sie. Und lacht.

Es ist wieder Sommer. Der Baum im Hof hat Aprikosen geworfen, du hast einen vollen Eimer gesammelt. Es wird das letzte Mal sein. Später vertrocknet er, die Erde wird mit Zement übergossen, der Hof als Parkplatz genutzt – aber erstmal kocht deine Mutter jede Menge Marmelade.

Während sie in der Küche steht und rührt, hört ihr einen Knall im Hof. Eure Tür ist offen, es ist ein schöner Sommertag und die Kommunalverwaltung wurde bezahlt. Deine Mutter rennt raus, du hinter ihr. Du siehst drei Schatten in blauen Overalls auf dem Boden. Einer bewegt sich langsam, als würde er in Zeitlupe schwimmen. Daneben Ziegelsteine, Betonplatten und ein umgestoßener Kübel mit weißer Farbe, die sich langsam auf dem Boden ausbreitet, bis unter den Arm des Mannes, der sich noch leicht bewegt.

„Geh wieder rein“, sagt deine Mutter ruhig und fest. Etwas in ihrem Ton duldet keine Widerrede. „Und rühr die Marmelade.“

Heb den Kopf. In der dritten Etage, wo früher ein Balkon war, klafft die Wand auseinander und gibt ihr Inneres preis, nur Drähte und Gitter. 

***

„Es wäre nicht passiert, wenn der dritte nicht raufgekommen wäre“, sagt Gala, die runzlige Nachbarin mit fleckiger Haut.

„Das wird nicht der letzte Balkon sein“, sagt deine Mutter. „Niemand kümmert sich. Wie immer.“

Gala nickt und wechselt das Thema.

 „Ich habe gehört, du ziehst nach Deutschland?“

Normalerweise erzählt deine Mutter den Nachbarn nie etwas Persönliches, aber heute ist sie freigiebiger.

„Wir haben gerade die Anträge abgeschickt.“

„Für Deutschland hatten wir uns auch angemeldet. Aber dann kam die Green Card.“

„Wann war das?“, fragt deine Mutter.

„Das ist schon zwei Jahre her. Bald müssten wir dran sein“, lacht Gala.

„Gala“, sagt deine Mutter plötzlich. „Haben Sie sie noch? Die Formulare?“

***

Der freundliche Esel zieht ein, für den Fall, dass die Konsulat-Mitarbeiter sehen wollen, ob die Ehe echt ist. Morgens, wenn du schon wach bist, bleibst du lange im Bett mit geschlossenen Augen, um nicht mit ihm reden zu müssen. In der ersten Woche kneift er dich immer wieder in die Wange und nennt dich Nachteule. „Er ist ein guter Mensch“, sagt deine Mutter. Und fügt hinzu: „Auch wenn er nicht viel im Kopf hat.“

Monate vergehen. Du beginnst die siebte Klasse. Deine Mutter hat das mit der neuen Schule aufgegeben, da du bald sowieso nicht mehr hier sein wirst – dank Galas Formularen geht das jetzt noch schneller als gedacht. Mathe ist nun in Algebra und Geometrie aufgeteilt. Du bist in beidem nicht gut. Lena ist in den Pausen immer öfter bei anderen Mädchen. Manchmal stellst du dich dazu, aber hast das Gefühl: Wärst du innerhalb einer Sekunde verschwunden, hätte es niemand bemerkt.

In der zweiten Schulwoche träumt deine Mutter von Feuer. „Freudige Botschaft“, sagt deine Oma dazu. Am nächsten Tag kommt der Brief mit der Einreise-Erlaubnis.

***

Deine Mutter bekommt die zweite Rate von dem Esel und kauft einen neuen Fernseher.  Der alte hat seit Wochen nicht mehr funktioniert. Eines Tages kommt ein Ehepaar, schaut sich die Wohnung an. Sie würden sich um den Kater kümmern, bis ihr ihn mitnehmen könnt. Die Frau hat schmale Augen und lange Haare, sie riecht nach Menthol-Zigaretten. Der Mann schaut sich hastig um, stellt kurze Fragen, die deine Mutter nur teilweise beantworten kann. Der Kater bleibt während des ganzen Gesprächs hinter dem Sofa und lässt sich erst wieder blicken, wenn die beiden gehen. 

Du erzählst Lena, dass du in einem Monat nach Deutschland ziehst. Sie nickt, als wüsste sie bereits Bescheid. Bald wissen es alle, aber niemand spricht dich darauf an. Für jedes Fach müsst ihr nun den Raum wechseln und meist setzt sich Lena nun auch im Unterricht zu jemand anderem. An manchen Tagen redet ihr gar nicht miteinander.

****

Am Bahnhof trinken alle Sekt aus Plastikbechern. Sieben karierte Taschen nehmt ihr mit. Und den Karton mit dem Fernseher. „Wo willst du nur hin?“, seufzt deine Oma, die selbst drei Jahre später nach Israel ziehen wird. Diesmal hat sie von schmutzigem Wasser geträumt. Das heißt schlechte Nachrichten. Als der Zug abfährt, trinkt deine Mutter Wodka und schweigt. Du bestehst darauf, oben zu schlafen. Du bist noch nie Zug gefahren. Es ist aufregend. Auch wenn du das Gefühl hast, dein Magen wäre auf den Gleisen geblieben.

Jahre später wirst du beteuern, wie leicht euch dieser Umzug fiel, der offiziell als Flucht bezeichnet wurde. „Das war doch keine Flucht“, wirst du denen sagen, die eines Tages tatsächlich fliehen werden.

Nach einem Tag Zug- und einem Tag Busfahrt kommt ihr müde und übel riechend in Schleswig-Holstein an. Ihr werden an einem großen Haus ausgesetzt, das dich an ein altes Krankenhaus aus einem viktorianischen Roman erinnert. Das Zimmer ist zwölf Quadratmeter groß, Hochbetten, du nimmst wieder das obere. Toilette und Dusche auf dem Flur. Was dir komisch vorkommt: Keines der Fenster in der Stadt hat Gitter. Es ist ein milder Herbst, aber die Stadt ist noch grün, nur wenige Bäume wechseln ins Braune und Gelbe. Die Enten in den Teichen, die kleinen freistehenden Häuschen: Bei Stadtspaziergängen fühlst du dich an Andersens Märchen erinnert. Deine Mutter mag die spitzen Dächer. Die Straßen sind meist leer. Einige alte Menschen drehen sich oft um und starren euch an. Als du zum ersten Mal einen Supermarkt betrittst, bist du beinahe ehrfürchtig. Nur den Kater vermisst ihr. Ihr redet häufig darüber, zurückzugehen, ihn mitzunehmen und heimlich in die Baracke zu bringen, nur solange ihr keine richtige Wohnung habt, wo Katzen erlaubt sind.  

Der Esel bringt dir bei, Fahrrad zu fahren. Seine Hände gleiten an deinem Rücken, bevor du in der Luft schwebst und dich mühelos durch den Hof der Baracke schlängelst, in die man euch versetzt hat. Du hast ein ramschiges pinkes Fahrrad, das dir wie ein Schatz vorkommt. Abends, wenn deine Mutter schon schläft, siehst du oft, wie der Esel Fernsehen schaut. Nackte Brüste, nackte Hintern, Männer, die sich als Frauen verkleiden, all das hast du noch nie gesehen.

Du drehst dich im Bett um und guckst mit. Eines Tages merkst du, dass er nicht den Bildschirm, sondern dich anguckt. Du drehst dich schnell um. Doch nun verändert sich alles. Nun verbindet euch etwas.

Dann fängt es an. Ein Halbsatz hier, ein Blick dort.

 „Was machst du denn, wenn ich dich schnappe?“

„Dann schlage ich Ihnen ins Knie“, sagst du.

„Dir, nicht Ihnen. Wir sind eine Familie.“

„Sind wir nicht!“

Deine Mutter kommt rein. Du rennst aus dem Zimmer.

***

Wenn sie fragt, erzählst du ihr alles, auch wenn es deiner Meinung nach nicht viel zu erzählen gibt. Als du am nächsten Tag aus der Schule kommst, sieht er dich nicht an. Deine Mutter stellt dir Essen hin. Er bekommt keins. Dann geht er raus und kommt erst spätabends zurück. So vergehen Wochen.

Langsam fangen sie wieder an, miteinander zu reden. Wenn niemand im Flur ist, gehst du raus und lässt die Tür leicht geöffnet. Du hörst, wie deine Mutter ihm sagt: „Die schmeißen dich aus dem Land, bevor du bis drei zählen kannst.“ Später belauschst du sie am Telefonautomaten, wenn sie ihre beste Freundin in Odessa anruft. „Bei mir kam er nicht weiter. Und dann das! Kannst du dir das vorstellen?“

Er bringt einen neu aussehenden grünen Sessel vom Schrott. Auch das wirst du später denen erzählen, die nach dir kommen: Schleswig-Holstein scheint ein Land zu sein, in dem man fast alles auf der Straße finden kann. Deine Mutter redet wieder normal mit ihm und stellt ihm auch Essen hin. Auch dich sieht er wieder an, aber fasst dich nicht mehr an. An Weihnachten schmückt ihr den Baum zusammen. Deine Mutter beobachtet euch. Sie sagt: „Wir könnten nachhause fahren. Zu Besuch. Wir haben genug Geld.“

Zwei Tage später kommt ein Anruf von den Untermietern. Der Kater ist weggelaufen. 

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Die Bestatter – Eine Erzählung

Auszug aus einer Erzählung von Thilo Dierkes

Der Test sollte Heranwachsenden, die dem Thema bisher mit zu viel Fantasie begegnet waren, eine genaue Vorstellung ihres beruflichen Werdegangs geben. Durchgeführt wurde er im Hauptsitz der Arbeitsagentur, am Ende einer langen Abfolge von Furnierholztüren und kryptischen Raumbezeichnungen. Fragen, die über einen Röhrenbildschirm flackerten und auf die psychische Verfasstheit der Getesteten abzielten: Wie viel Zeit benötigen Sie, um in einem beliebigen Café Ihre Bestellung zu formulieren? Was fühlen Sie beim Anblick eines Rapsfeldes? No7 rutschte auf einem Stuhl herum. Halten Sie Ihre Bestellungen für gerechtfertigt? Halten Sie eine Entlohnung für angemessen? Halten Sie gerne Reden? Können Sie mit Menschen? Der Test nahm den Großteil des Morgens, des Vor- und frühen Nachmittags in Anspruch. No7 musste sich zusammennehmen, um nicht einem früh erlernten Impuls vorauseilender Enttäuschung nachzugeben. Was können Sie mit Menschen? Als er aus dem Gebäude trat, war er sich nicht mehr sicher, ob er es am Morgen durch diese Tür betreten hatte. Einige seiner Mitschüler_innen standen noch auf dem Parkplatz herum, als sei ihr einziger Zweck einen Schatten zu werfen. Auch er glaubte, versagt zu haben.

Der entsprechende Brief kündigte sich, wie Briefe es oft tun, durch eine Reihe schlechter Omen an: Schwarze Katzen, verunglückende Schornsteinfeger_innen, Scherben, die explodierte Feuerwerksfabrik, zwei Verkehrstote auf der Ausfallstraße, der Winterschlussverkauf, die höchsten Temperaturen, die jemals in einem mitteleuropäischen April gemessen wurden. No7s Großmutter las die Schlagzeilen des Lokalteils vor, während er aus dem Küchenfenster schaute. Es war die einzige Art von Gespräch, die sie führten; zwischen ihnen der Umschlag in tonlosem Grau. No7 sah seine Zukunft vor sich gerinnen; seine Großmutter, die Tanten vor Tagesanbruch im Schatten der Häuserblocks, neben ihnen die Fahrradanhänger mit den Zeitungen. Immerzu schlechte Nachrichten durch Treppenhäuser tragen. Er öffnete den Umschlag, zog den Zettel heraus, wie man ein Pflaster entfernt. Bestatter, stand da. Er stutzte. Ich soll Bestatter werden.

Wie viele seiner Mitschüler_innen bemerkte No7 den allgemeinen Stimmungsumschwung erst, als er sich bereits vollzogen hatte. Eine bleierne Mutlosigkeit hatte sich über den Schulhof gelegt, die sich grundsätzlich von der Großen Panik des letzten Jahres, von der Kleinen Panik des Jahres davor, auch von der latenten Angst unterschied, den Querelen, der Quengelphase und den Wochen des Trotzes. Jene, die bereits einen Brief erhalten hatten, rotteten sich zu verschlossenen Schicksalsgemeinschaften zusammen. Ein Flüstern ging um; haarsträubende Geschichten über Pausenräume und Stechuhren, Versicherungsbeiträge, heimliche Zigaretten in der Lieferzufahrt; von Grußkarten war die Rede, von plastikverschweißten Präsentkörben und Weihnachtsfeiern. Schaudernd imitierten die Schüler_innen einen schwachen Händedruck oder eine Lohnverhandlung, aber stets verstrichen danach einige Momente, ohne dass jemand lachte. Im Gegenteil schien jedes Gespräch damit zu enden, dass die Beteiligten grübelnd und ohne sich zu verabschieden in unterschiedliche Richtungen gingen, auch wenn sie ins selbe Klassenzimmer mussten.

No7 fand sich von all dem ausgeschlossen. Außer ihm sollte niemand Bestatter werden; die ganze Schüler_innenschaft war ihm eine Masse entfernter Bekannter geworden, denen er im Vorübergehen kaum ein Nicken, geschweige denn ein teilnahmsloses Hallo entlocken konnte. Er verbrachte die Pausen größtenteils am Tor stehend, wie um niemand Bestimmtes an der Schule zu empfangen, und beobachtete die Gruppen am Wasserspender, bei den Mülltonnen und an der Tischtennisplatte. Sie sahen jeweils auf ihre eigene Art traurig aus. No7 wusste nicht, ob er traurig war. Erleichtert vielleicht, einen Namen für das zu haben, was er von seinem Leben erwarten konnte; nicht einer der Unglücklichen zu sein, die noch keinen Brief erhalten hatten und mit gesenkten Köpfen über den Schulhof rannten, als fürchteten sie, dass ein enormer Gegenstand auf sie stürzen könne. Zwar kursierte das Gerücht, im Werkraum, zwischen den Farbregalen, träfen sich außerhalb der Unterrichtszeit die Abgeschlagenen, um Bescheinigungen zu fälschen oder Originale gegen Sammelkarten, Alkopops und seltene Kaugummiarten zu tauschen, aber mit Ausnahme der Armbanduhr, die No7 zur Konfirmation bekommen hatte, besaß er nichts von Wert und wollte außerdem vor seinen Eltern nicht lügen müssen. Zumal er schon eine ungefähre Vorstellung seines kommenden Berufslebens hatte.

No7 kannte die Bestatter. Er hatte sie auf der Beerdigung seines Großvaters gesehen. Wächserne Männer in schwarzen Anzügen, die sich während der Zeremonie im Hintergrund hielten, die Arme hinter den Rücken verschränkt und stets bereit den Trauernden handbestickte Taschentücher anzubieten, wenn die Tränen kamen. Die Bestatter besaßen ein ausgeprägtes Gespür für alles Zwischenmenschliche. Sie wussten, wann Abstand geboten war, wann wiederum ein sanftes Berühren des Unterarms Beileid zum Ausdruck brachte. Sie kannten die Unwägbarkeiten von Trauergesprächen, Antworten auf das Warum und Was wäre wenn. Die Bestatter vermieden die offensichtlich und die weniger offensichtlich falschen Worte. In ihren Stimmen lag ein Klingen wie von einem weit entfernten Glockenspiel. Sie rochen immerzu nach Lilien; und ihr Händedruck ließ den Gegenüber mit keinem unangenehmen Gefühl zurück.

Obwohl die Beerdigung wenig mehr als zwei Jahre zurücklag erinnerte sich No7 kaum an den genauen Ablauf. Nur die engste Familie, seine Großmutter, Tanten und Eltern waren dort gewesen. Auf einem Klapptisch hatten Thermoskannen mit Kaffee und angeschnittener Kuchen gestanden, No7 in zweiter Reihe vor dem ausgehobenen Grab. Fliegen auf dem Büffet. Die Fliegen hatten sich ihm ins Gedächtnis gebrannt; und dass plötzlich ein Bestatter neben ihm stand, mit glänzenden Schuhen und Wangenknochen, der in die Knie ging, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Er hielt ein silbernes Kreuz in der Hand, drehte es, als würde er es betrachten. Ließ es letztendlich in eine Anzugtasche gleiten und legte die Hand auf No7s Schulter. Überraschend schwer war diese Hand. Die Grashalme ringsum schienen sich von ihnen abzuwenden, die Grabrede nahtlos ins Rauschen der Birken ins Summen der Fliegen überzugehen. Ein süßlicher Duft stieg um No7 auf. Die Hand des Bestatters auf seiner Schulter wurde schwerer und schwerer. Der schien geradewegs durch ihn hindurch zu schauen, seine Augen in ihre Höhlen zurückzuweichen. Stille.

No7 wähnte sich allein auf der Hinterseite der Welt. Er stand auf dem gekippten Friedhof, umringt von angewinkelten Birken, das Licht fiel hin und her. Jeder Wind scheuchte die Silhouetten kleinerer Tiere durch das Gras entlang der Wege. Zuerst, dachte er, fühlte er nichts. Dann einen ungekannten Schmerz, etwas Bleiernes, Heißes, das in seiner Magengrube wuchs. Er beugte sich über, verkrampft. Er schrie, aber der Schmerz nahm zu. Als würde er ausgekocht. Siedende Säure in seinem Hals, der Schaum, geplatzte Äderchen. Er wollte sich stützen, wollte sich an irgendetwas festklammern, wollte alles zerschlagen und abreißen, wenn nötig. Wollte greifen und fassen, aber seine Hände fanden nur Luft. Nur Luft und Luft und Luft und Schaum in seinem Mund und Säure in seinem Hals und das brennende Ding in seinem Magen – Atmen. Das Gesicht des Bestatters, diesmal besorgter, Schweißperlen auf seiner Stirn. Atmen, Junge, sagte er, die Hände tastend in den Anzugtaschen. No7 nickte, schluckte. Fand seinen Körper, nicht brennend, im rechten Winkel zur Erde. Der Bestatter zog die Hände aus den Anzugtaschen, leer. Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick ging zum Grab, das ein Friedhofsgärtner gerade begann zuzuschaufeln. Ich kann dir nicht sagen, dass es besser wird. Es wird eine ganze Zeit nicht besser werden. Nicht heute. Nicht Morgen. Der Bestatter wandte sich wieder zu No7. Aber das weißt du. No7 nickte erneut. Was du nicht weißt – und das ist schmerzvoll. Aber du kannst darum herum leben.

Was ist, wenn ich nicht darum herum leben will?

Niemand möchte das, sagte der Bestatter und drückte kurz No7s Arm. Aber, damit richtete er sich auf, es gibt keine Alternative. Mein Beileid, sagte er und ging den anderen Bestattern nach, die bereits am Friedhofstor standen und ihre Taschenuhren kontrollierten. Der Motor eines Autos sprang an, die Birken rauschten, die Fliegen waren fort.

Irgendwann dann war die Beerdigung für beendet erklärt worden. No7s Tanten hatten den Kuchen eingepackt, die Großmutter noch ein letztes Gespräch mit Gott und dergleichen geführt. Kurz darauf waren sie alle zusammen nach Hause gefahren.

Im Kreis der Familie war der Brief auf allgemeine Zustimmung gestoßen. No7s Großmutter hatte über den Rand der Zeitung geblickt und gesagt: Da bin ich aber froh, seine Tanten hatten ihm überschwänglich gratuliert, als sie aufgestanden waren, seine Eltern hatten ihn abends in die Arme geschlossen und waren ihm durchs Haar gefahren. Neuerdings sagten sie Sätze wie: Dann machst du ja auf eine Art etwas Handwerkliches oder Man braucht nicht für alles ein Studium. Wann immer Bilder von Krawatten in den Werbeprospekten waren, schnitten sie die Seiten heraus und hängten sie an die Kühlschranktür. Es handelte sich dabei um einen einfachen Trick, der die Familie an gemeinsame Ziele, Wünsche, Hoffnungen erinnern sollte. No7s Eltern benutzten ihn oft. Wenn sich sein Vater ein Feierabendbier aus dem Kühlschrank nahm, blieb sein Blick häufig an einem Zeitungsschnipsel hängen, der die Mittelmeerstrände pries, die darüber aufragenden Felsklippen, die darauf thronenden Dörfer. Auf dem dazugehörigen Schwarzweißfoto konnte man das Türkis des Meeres förmlich sehen. No7 kannte diesen Blick; er galt allem Verlorenen. Seine Mutter sah ihn manchmal so an, wenn sie über den Schulabschluss sprach oder Anzüge oder Grundstückpreise in der Region.

Nach dem Tod des Großvaters hatten sie dessen Werkstatt entrümpelt, den Keller, ein vollgestopfter Raum mit niedriger Decke, der in No7 stets das Gefühl hervorrief, eine geheime zweite Tür übersehen zu haben. Die Werkbank, das Transistorradio, alles überzogen von einer dünnen Schicht Staub und Sägespäne. Ein gutes Dutzend halbfertiger Möbelstücke hatten sie herausgeholt, Hocker mit schiefen Beinen, keiner zu gebrauchen. Krumme Regale, in die man nichts hineinstellen konnte. No7 hatte versucht, sich seinen Großvater vorzustellen, rotierend inmitten des Gerümpels, einen Stuhl vor Augen, einen Tisch. Wie ihm die Anzeichnungen misslungen waren, die Säge entglitten. Wie er immer wieder probiert haben musste, sich auf einen der Hocker zu setzen und dann, nach dem fünften Versuch, auf dem Boden liegend weitergetrunken hatte.

Während der Entrümpelung war No7 zu der unbewussten Auffassung gelangt, eines Tages auf eine plötzliche, möglicherweise gewaltvolle Art ums Leben kommen zu müssen, und ahnte ähnliches für seinen Vater, dessen Alltag aus undurchsichtigen Tätigkeiten in einem Lagerhaus am Stadtrand bestand, aus Paketen, die in erratischen Mustern verschoben werden mussten, um eine unheilvolle Maschine zufrieden zu stellen; für seine Mutter, die im Büro stets noch eine kurze Notiz schreiben, eine Akte bearbeiten, ein Fenster öffnen oder schließen musste, bevor sie dazu kam, etwas zu essen oder zu trinken. Nur seine Großmutter und Tanten würden ewig leben. Und wenn sie dann doch stürben, würden die Zeitungen den Betrieb einstellen, die Verlagshäuser Trauerkarten drucken und darauf würde stehen: Wir danken für die Zusammenarbeit.

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Wovon wir sprechen, wenn wir Versöhnung sagen oder: Wer fabriziert hier wem einen Popo?

von Mia Raben

Ich bin ein von innen verschmutztes, kluges, auffällig musikalisches, ordentlich frisiertes Mädchen mit Kragen. Ich bin irgendwie anders, aber sympathisch, denn ich bin anpassungsfähig. Ich lese den Erwachsenen ihre Wünsche aus den Gedanken ab, bevor sie sie selbst formulieren können. Zum Beispiel: Zeige dich lässig und unbeeindruckt vom Reichtum deiner Freundinnen und Freunde. Tu so, als sei es ganz normal, vier Mercedesse vor dem Haus stehen zu haben, alle mit fast gleichem Kennzeichen, immer Hamburg und die Initialen meiner Freundin. HH-DH. Tu so, als gehörtest du dazu. Als hättet ihr in der Familie dieselben Rituale, wie alle anderen auch. Lindenstraße gucken. Das Auto waschen. Sonntagsfrühstück. Mahlzeiten immer zur selben Zeit. „Wir essen immer um 18.30 Uhr”, höre ich mich sagen. Das ist nicht wahr. Wir essen, wann es uns in den Kram passt. Manchmal erst um neun. Damit das nicht rauskommt, und auch andere Dinge nicht, die bei uns „komisch“ oder anders sind, übernachte ich lieber bei meiner Freundin, anstatt sie bei mir. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Erst zwei Jahrzehnte später werde ich erleichtert feststellen, dass meine Kinder gern andere Kinder zu uns zum Übernachten einladen.

Schamhafte Wahrheiten. Wie sich ihnen nähern?

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Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils

von Volha Hapeyeva

Präambel

Im Sommer 2020 gab ich der Journalistin eines einflussreichen Portals ein Interview zu meinem neuen Gedichtband. Ein paar Tage später teilte sie mir mit, dass der Redakteur das Material nicht angenommen hätte, und begründete seine Ablehnung mit dem Satz: »This is not the time for poetry« (»Dies ist nicht die Zeit für Poesie«). Das Land, mein Land, Belarus, bereitete sich auf die Präsidentschaftswahlen vor.

Schiffe vor Anker, Autos auf Parkplätzen,
aber ich bin diejenige, die kein Zuhause hat

Wo immer ich hingehe, wo immer ich bleibe, auch wenn es nur für eine Nacht ist, fange ich sofort an, diesen Ort mein Zuhause zu nennen. Ein Hotelzimmer ist mein Zuhause, ein Gästezimmer bei einem Freund – Zuhause; Flughäfen, Bahnhöfe – auch die. Das ist eine Art nomadisches Denken. Der Versuch dazuzugehören. Wenn man keine eigene Wohnung hat, wird jeder Ort zu einem potenziellen Zuhause. Ist das Verzweiflung oder Hoffnung? Viele Jahre des Reisens und das Fehlen einer eigenen Wohnung haben mich daran gewöhnt.

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Ein schöner Tod

von Susanne Wedlich

Mein Vater ist am 31. Oktober 2020 um 16.34 Uhr gestorben. Es war ein schöner Tod. Für ihn, davon bin ich überzeugt, aber auch für uns. „Das war genau richtig so“, sagte meine Tante. „Das war schön“, sagte meine Schwiegermutter, nur um sich gleich zu verbessern: „Schön“ sei natürlich das falsche Wort. „Das war eine schöne Zeit“, sagte meine Mutter, brach in Tränen aus und bekräftigte dann: „Doch, es war schön.“ Das zu schreiben fühlt sich morbide an, aber es stimmt. Der Tod meines Vaters war schön, auch wenn das Wort zu kurz greift, zu flach, beliebig und alltäglich ist. Sein Tod war dunkel und voll Schmerz, aber auch existenzieller und intensiver als alles andere, was ich zuvor je erlebt hatte. 

„Ich lernte, dass Sterben, aus nächster Nähe, nicht das ist, was man sich vorstellt“, schreibt die britische Palliativmedizinerin Rachel Clarke. „Denn die Sterbenden sind am Leben, wie alle anderen. Das ist die Quintessenz des Lebens – des schönen, bittersüßen, zerbrechlichen Lebens…”[1] Es geht nicht um Ästhetik oder darum, einen schrecklichen Verlust zu verklären, auch wenn das möglich ist, wie der Journalist Bartholomäus Grill anhand der Reaktionen auf den Doppel-Selbstmord zweier Teenager beschreibt: „Der Tod wurde zum Verbündeten, zum schönen, süßen Tod, wie ihn die Romantiker glorifiziert hatten.“ Es geht auch nicht um die Kunst des Sterbens, eine auf das Jenseits gerichtete, aber lange aus der Mode gekommene Ars moriendi

Uns als Familie fehlt der Bezug zur Religion, auch wenn sich eine Assoziation unvermutet aufdrängte. „Er sieht wie ein geschundener Heiland aus“, dachte ich, als ich meinen Vater Tage vor seinem Tod reglos liegen sah. Fast nackt, weil er keinen Stoff auf der Haut ertrug, eingefallen und, ja, blutig geschunden, weil er unablässig Pflaster abriss, Nadeln aus dem Arm zog und selbst im Schlaf mit den Fingern im Gesicht kratzte, um sich vom Sauerstoffschlauch in der Nase zu befreien. 

Der gemarterte Körper allein war es aber nicht, es ging noch mehr um die Würde, die mein Vater ausstrahlte. Mehr Würde, als die Gesellschaft und wohl auch wir ihm wie allen gebrechlichen Alten bis dahin zugestanden hatten. Nie war er offenkundig älter und kränker, fragiler und hilfloser gewesen als in diesen Tagen. Nie kam er mir stärker, stolzer und über jedes Urteil erhaben vor. Gabriele von Arnim hat die Würde ihres Mannes bewundert, der fast über Nacht zum schweren Pflegefall wurde. Seine Würde konnte er auch in scheinbar entwürdigenden Situationen behalten. Es sei seine „innere Unabhängigkeit“ gewesen, sagt von Arnim in einem Interview. 

Kann das auch gelten, wenn Menschen nur dahindämmern? Würde hängt zum Glück nicht von äußeren Umständen ab. Mehr noch, zum ersten Mal verstehe ich nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, wie machtvoll das Bild sein kann von einem Gottessohn, der jämmerlich am Kreuz verreckt. Zumindest in Gesellschaften und bei Menschen, die Siechtum und Tod nicht so entfremdet sind wie ich. Ich erlebe diese existenzielle Krise zum ersten Mal mit fast 50 Jahren. 

„In der heutigen entwickelten Welt ist es möglich, eine ganze Lebenszeit lang zu leben, ohne jemals den Tod direkt zu Gesicht zu bekommen…”, schreibt Clarke. „Vor weniger als einem Jahrhundert war diese Entfernung vom Sterben unvorstellbar. Unweigerlich schieden wir so aus der Welt, wie wir in sie hineingekommen waren, inmitten unserer Familien, hautnah und persönlich, nicht von Krankenhauslaken umschlungen, sondern von der Intimität unseres eigenen Zuhauses.” [2]

Ich war nicht vorbereitet, habe mir den Tod meiner Eltern als eine Art Orkan vorgestellt, der unweigerlich über mich hinwegziehen wird. Meine passive Rolle: Ducken, warten und dann den Rest meines Lebens notdürftig mit der Verwüstung leben. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich das Sterben meines Vaters als lebensbejahend erleben werde. Wenn es diese Geschichte gibt, so kenne ich sie nicht, nur den Tod als Erlösung aus unerträglichen Schmerzen oder als Ansporn für die Hinterbliebenen, das eigene Leben bewusster zu leben.

Das macht aber noch keinen schönen Tod aus. Eine Voraussetzung dafür ist sicher ein guter Tod, den ich als Abwesenheit von Faktoren definiere, die das Sterben unerträglicher und den Verlust unverzeihlicher machen können. Die Sollbruchstellen – oder eher Mussbruchstellen – waren auch bei uns offenkundig: die Umgebung, die Nähe, der Körper. Wir hatten Glück. Mein Vater ist nicht im Krankenhaus gestorben, sondern daheim. Er war nicht allein, sondern in unserer Mitte. Er musste keine unerträglichen Schmerzen leiden. 

Der schöne Tod war aber noch mehr als eine Abwesenheit, auch wenn mir die Worte dafür fehlen. Vielleicht hilft ein Bild: Es war eine Welle wie eine Naturgewalt, die uns mitgerissen und über unseren Schmerz getragen hat. Es tat und tut immer noch sehr weh, natürlich, aber wir sind nicht zerbrochen oder mussten uns erst wieder zusammensetzen. Wir haben überlebt mit einer empfindlichen Narbe. Fast als ob die klaffende Wunde seines Verlustes so schnell verheilt wäre wie sie geschlagen wurde. Anders: Wir haben den Verlust meines Vaters erlebt und erlitten und gleichzeitig ihn ertragen gelernt. 

Vielleicht habe nur ich als Tochter gespürt, dass sich ein Kreis zwischen uns geschlossen hat, auch weil ich mich in seinen letzten Tagen um ihn wie um ein Kind gekümmert habe. Ganz selbstverständlich gehörte zur Pflege eine ungewohnte Körperlichkeit. Ein Geschenk. Rachel Clarke hat dies ähnlich nach dem Tod ihres Vaters erfahren: „Dass ich meinen Vater waschen kann, so, wie er mich einmal gewaschen hat, ist eine Ehre, ein Geschenk, ein letzter Liebesbeweis, ein Moment unübertroffener Intimität.“ [3]

In seinen letzten Tagen war Kommunikation mit meinem Vater kaum mehr möglich. Wir sind trotzdem zusammengewachsen, haben Reibungspunkte und Konflikte ohne viele Worte wegfallen lassen. „Zwischen uns eine Stille, eine sanfte Stille und darin eine überraschende Harmonie, ein Einklang zwischen ihm und mir. Was im Leben so oft gefehlt hatte, schien uns im Sterben zu gelingen“, schreibt von Arnim über ihren so lange leidenden Mann. 

Die Vorgeschichte meines Vaters war weniger drastisch und ist schnell erzählt: Vorerkrankungen, auch eine Herzschwäche, dann ein schwerer Infarkt und OP, Rippenbrüche und eine Lungenentzündung. Ganz alltäglich in Deutschland, aber eben auch nicht: Im Jahr 2020 war jede Krankheit, jedes Sterben, jeder Tod im Krankenhaus von Corona überschattet. Nur eine Stunde pro Tag durfte meine Mutter in die Klinik, ich habe mit meinem Vater telefoniert. Oft war er hellwach, manchmal auch verwirrt oder weggetreten. Aus der zeitlichen Distanz scheint mir, sein Organismus war schon damals möglicherweise unaufhaltsam ins Trudeln gekommen. 

Zunächst ging es ihm aber so viel besser, dass er fürs Krankenhaus nicht krank, fürs Pflegeheim aber auch nicht stabil genug war. Ein versorgerisches Niemandsland. Sein geistiger Zustand war ein Problem, wenn ein paar fest in seinem Kopf verankerte Ideen die Wirklichkeit überlagerten. Seit einer nicht plangemäß verlaufenen Operation vor Jahren fühlte er sich von der deutschen Ärzteschaft verfolgt, überwacht und kontrolliert. Und davon ließ er sich nicht abbringen. Ich vermute, dass das eigentliche Problem tiefer lag: Er war als Patient nicht richtig aufgeklärt worden, fühlte sich als Mensch übergangen und seiner Würde beraubt. 

Seine selbstgewählte Mission bestand darin, die Öffentlichkeit vor Ärzten zu warnen, die über die Köpfe ihrer Patienten hinweg schwerwiegende Entscheidungen treffen. Was ich hiermit übernehme: Ob sie ihn nicht heimnehmen wolle, wurde meine Mutter von einem Arzt gefragt. In Ermangelung anderer Optionen stimmte sie zu, ahnte aber nicht, dass ihr von einem Tag auf den anderen ihr schwerkranker Mann vor die Füße gelegt werden würde. Bewegungsunfähig und mit tropfendem Blasenkatheter. Ohne Ausstattung, ohne Krankenbett, ohne Unterstützung. 

Nur meine Mutter, Mitte 70 und mit kaputter Hüfte. Um meinen Vater zur Couch zu bringen, habe sie ihn halb auf dem Rücken tragen und halb ziehen müssen, erzählte sie mir später. Seine Beine hochlegen? Daran sind sie trotz gemeinsamer Anstrengung gescheitert. „Ich dachte, wir legen uns jetzt beide auf den Boden und sterben“, sagte sie. 

Meine Mutter lebt ihr Leben nach zwei Grundsätzen: „Wir schaffen das schon“ und „Das wird schon wieder“. Hier habe sie aber die Koordinatorin der Klinik (welche Koordination?) so angeschrien, dass die sich nur noch den Ton verbitten konnte. Ich bin sehr stolz auf meine Mutter. 

Und mein Vater kam wieder in die Klinik, wo sich dann plötzlich doch eine neue Option auftat. Eine Einrichtung, die auch ältere Menschen mit unzuverlässiger Bodenhaftung in der Realität aufnimmt. Für uns war das die Rettung und für mich eine Art Unterwasserwelt. Die Zimmer gingen links und rechts vom Gang ab, auf dem unablässig Patienten im gedämpften Licht drifteten, langsam ihre Runden drehten, schlurften und trippelten. 

Der Alt-Rocker mit Lederjacke und Stahlwollbart bis auf die Brust war völlig in sich versunken. Der Herr, der mit steifem Kreuz im Rollgestell steht, beäugte mich nur aus den Augenwinkeln. Die zierliche Dame mit den weißen Haaren lachte immer alle freundlich an. Einmal traf sie mich mit verweinten Augen an, blieb stehen, lächelte ihr strahlendstes Lächeln und sagte: „Wäre es nicht schön, wenn wir alle schon im Himmel wären?“

Von bizarren Begegnungen abgesehen blieb hier aber alles ruhig. Die Fürsorge für meinen Vater und auch für uns war greifbar. Wir wussten nicht, dass Pflege in Deutschland so aussehen, so zugewandt und respektvoll sein kann. Das hat mit dem Personal zu tun, vor allem aber mit der Arbeitssituation. Hier ist Zeit für jeden Menschen, für die im Bett und für die auf dem Stuhl daneben. An einem besonders schweren Morgen brachte eine Schwester meiner Mutter Frühstück und führte sie untergehakt eine kleine Runde durch den Garten. 

Trotzdem war es schwer, meinen Vater so zu sehen. Kälte schien er nicht mehr zu spüren, tolerierte weder eine Bettdecke noch ein Laken oder Nachthemd. Pflaster kratzte er sofort und selbst im Schlaf ab. Schläuche riss er sich aus der Nase und Nadeln aus dem Arm. Zerschunden sah er aus, übersät mit Kratzern und Blutergüssen. An seinem Unterarm, der flach auf dem Bett lag, war der rote Pegel bis zur Hälfte gestiegen. Hier hatte er eine Nadel gezogen, das Blut musste ins Gewebe gesickert und es gesättigt haben. „Die Haut wird ihm zu eng“, sagte meine Schwiegermutter. Ich dachte trotzdem nicht, dass er sterben könnte.

Wir lernten mit wenigen Worten und Gesten Wesentliches zu sagen. Er legt mir schwer die Hand auf den Kopf und streicht über mein Haar: „So stolz.“ Als mein Mann seine Hand hält, lacht er verschmitzt und sagt etwas, das wir erst im zweiten Anlauf verstehen. „Mein Wunschkandidat“ nennt er den Schwiegersohn von fast einem Vierteljahrhundert. Keine Missverständnisse mehr, nur tiefe Zuneigung.

Einmal dürfen die beiden Enkel aufs Zimmer. Sie wollen den Opa sehen, er sie auch. Lange schaut er sich die beiden Kerle an. Tischtennis? Das war seine Leidenschaft in der Jugend. Die Jungs haben den Sport übernommen und sind noch begeistert dabei. Schule? Alles gut, Opa, sagen sie und erzählen von den guten Noten, die sie nur ein klein wenig schönrunden. Dem Opa zuliebe und der ist zufrieden. 

Das war ein Abschied, aber ich dachte noch immer nicht, dass er sterben könnte. 

Dazu brauchte es eine weitere oder wiedergekehrte Lungenentzündung, die auf die Therapie nicht ansprach. Die Ärzte sind ratlos, wissen nicht, ob die Behandlung versagt oder gar nicht ankommt, weil mein Vater keine Nadeln toleriert. Es gebe nur zwei Optionen: Zurück in die Klinik, sedieren und künstlich beatmen, um das Antibiotikum zuverlässig verabreichen zu können. Oder Palliativpflege. Meine Mutter und ich sollen entscheiden. Wir brechen zusammen. 

Jetzt sind wir allein im medizinischen Niemandsland. Seit vielen Jahren recherchiere ich beruflich jeden Tag komplexe Fragen. Nun kann ich diese Lungenentzündung nicht entschlüsseln, weiß gar nicht, wo anfangen. Ist das eine akute Infektion? Oder Symptom eines Systems in Schieflage? Mein Vater wollte nie im Krankenhaus an Maschinen angeschlossen enden. Aber jetzt? Wir können das nicht entscheiden, weil wir eine emotionale Antwort auf eine medizinische Frage suchen. Oder eine medizinische Antwort auf eine emotionale Frage. 

Vielleicht gibt es auch gar keine Antwort, weil schlicht die Wegweiser fehlen. Jeder Versuch von „Wenn ja, dann links“ und „Wenn nein, dann rechts“ führt uns in den Systemfehler. Das ist, also ob ich mit dem Kopf unter Wasser Rettungsringe auf ihre Tauglichkeit hin prüfen sollte. Welcher wird das Ertrinken am wenigsten schlimm machen?

Ich kann mich nur entlanghangeln an dem, was ich weiß, und sehen, wohin uns das führt. Ich weiß, dass mein Vater in der Klinik menschenunwürdig behandelt wurde, anders als jetzt. Ich weiß, dass er uns braucht, auf der Intensivstation aber allein, orientierungslos und dann betäubt wäre. Besuche wären verboten. Und ich weiß, dass ihm schon ein Pflaster unerträglich ist. Soll ich diesem Menschen die Gewalt einer Betäubung und Beatmung antun? So bleibt nur die Palliativpflege. 

Das entscheiden wir, nur um sofort wieder zu zweifeln, nur um uns in der Entscheidung zu bestärken, nur um wieder zu zweifeln. Wir sind so entsetzlich allein, dass jeder Strohhalm herhalten muss. Als eine junge Schwester, die wahrscheinlich weder Erfahrung noch tiefe Kenntnis von der Krankengeschichte meines Vaters hat, anmerkt, dass alles andere nur Quälerei für ihn gewesen sei, klammere ich mich an diesen Satz, als ob er Substanz hätte. 

Ab jetzt liegt mein Vater im Einzelzimmer und wir dürfen ihn rund um die Uhr besuchen. Meine Mutter, meine Schwiegermutter, mein Mann mit mir: Wir wechseln uns ab, er soll nicht mehr allein sein. Und so unerwartet wie uns die resistente Lungenentzündung in tiefste Verzweiflung gestürzt hat, werden wir wenig später in die Stratosphäre katapultiert. Ihrem Mann gehe es erstaunlicherweise besser, ob sie ihn heimbringen möchte, wird meine Mutter von einem Arzt gefragt. 

Dieses Mal ist alles anders, wir müssen erst ein Krankenbett und Equipment besorgen, auch den medizinischen Dienst informieren, der helfen soll. Meine Mutter will die letzten 24 Stunden bei ihm in der Einrichtung verbringen, kommt aber wenig später aufgewühlt wieder nach Hause. Sie sei heimgeschickt worden: Einzig unser Landkreis ist erneut im Lockdown. Es ist die schlimmste Phase im Sterben meines Vaters, noch heute macht mir die Erinnerung an die Angst oder ihr Echo das Herz schwer. Ich fürchtete, er könne ohne uns körperlich oder geistig abbauen, für den Transport am nächsten Tag zu schwach oder verwirrt sein. Ich fürchtete, wir könnten ihn nie wiedersehen. 

Wir werden uns wirklich viel verzeihen müssen, heißt es, wenn es um die Pandemie geht. Das gilt sicher besonders für jene, die sich nicht von ihren Liebsten im Krankenhaus verabschieden konnten. Uns bleibt das erspart. Aber das weiß ich noch nicht.

Die verbleibende Zeit rüste ich für die Versorgung meines Vaters auf. Wir müssen ihn nicht nur heimbringen, sondern auch daheim behalten können. Es ist die Angst, dass wir scheitern könnten, er doch noch in ein Heim mit für uns verschlossene Türen kommt. Die Schwestern auf der Station haben mich angelernt im Waschen und Wenden, dem Wichtigsten aus der Pflege. Das ist nicht viel in der kurzen Zeit, aber genug, um zu verdeutlichen, dass zwei Leute nötig und alle paar Stunden im Einsatz sein werden. Wie soll ich diese Dauerbelastung und schwere körperliche Arbeit mit meiner Mutter bewältigen? Denn mein Mann muss mit den Kindern zurück zu uns nach Hause, ist jetzt mehrere hundert Kilometer entfernt.

Ich versuche, eine Pflegekraft zu organisieren, stolpere durch ein Dickicht von Corona-Bestimmungen, Einreise-Vorschriften und anderen Regeln. Ich komme nicht einmal so weit, mich wegen der Finanzierung zu sorgen. Der erste Haken: Pflegekräfte haben Anspruch auf acht Stunden Nachtruhe. Das ist an sich verständlich, hilft uns aber nicht. Tagsüber würde uns der mobile medizinische Dienst unterstützen. Die Nächte sind das Problem.

Dann aber kommt mein Vater, wird durch den Garten bis zum Haus getragen, wo ich auf ihn warte. Ich weiß nicht, welche Version meines Vaters ich vor mir habe. Krank vor Schmerz? Verwirrt? Weggedämmert? Er rührt sich nicht, nimmt nur alles mit kleinen und sehr wachen Vogelaugen in sich auf. „Papa“, sage ich, „wie geht´s Dir?“ Ich warte und habe Angst. „Bier“, sagt er. Ich bin erleichtert. Im Haus wird er konkreter: „Bier. Helles. Paulaner“. Später dann: „Breze“ und „Mandarine“. 

Ich sehe, was ich sehen will und das ist mein Vater, der zurück ins Leben will. Den ich aufpäppeln werde. Ich sehe nicht, dass er nur einen Schluck Bier aus der Schnabeltasse trinkt und nie mehr als zwei Löffel voll isst. Ich sehe nicht, dass er seine Erinnerungen schmecken will, sein Appetit ein Abschied ist. Er baut ab, während ich eine Mauer hochziehe aus Babybrei in Gläsern, energiereiche Getränke für Senioren in Flaschen und Protein-Pulver in der Dose. Ein Bollwerk und Bunker im Kampf gegen die Welt da draußen. 

Ich weiß, dass dieser gebrechliche Mann sein Bett aus eigener Kraft nicht mehr verlassen wird. Seine Beine sind nur Haut und Knochen. Könnte er ein Leben im Liegen ertragen? Immerhin hat er Jahre ohne echte eigene Mobilität nach einem Leben voll Sport ausgehalten. Wo verläuft die Grenze zwischen gerade noch gut genug und zu wenig? Wo fängt Leben an, unwürdig zu werden? Gibt es das überhaupt? Gabriele von Arnim zitiert in ihrem Buch einen Freund, der wie sie mit ihrem Mann schon lange mit seiner kranken Frau lebt: „Es gibt viele Arten zu leben.“

Die Frage stellt sich nicht mehr. Über den Tag und die folgende Nacht hinweg zieht sich mein Vater immer mehr zurück, wird stiller, isst und trinkt noch weniger. Der Leiter des mobilen Palliativteams kommt vorbei, sitzt am Bett meines Vaters und schaut ihn lange an. „Das sind aber schon sehr lange Atempausen“, sagt er dann. Und: “Sie wissen ja selbst, dass er diese Reise angetreten hat.“ 

Unter der Haut an der Schulter soll ein Morphinzugang gesetzt werden, der kaum zu spüren ist. Eine Mitarbeiterin erklärt mir, wie ich das Gerät bedienen und die Dosis bei Bedarf erhöhen kann. Ich fange an zu weinen und versuche zu erklären, dass wir vor kurzem noch auf eine Besserung gehofft hatten. „Da war diese falsche Hoffnung“, sage ich. Sie lässt mich ausreden und beruhigen und erwidert dann: „Das war keine falsche Hoffnung. Das war einfach nur Hoffnung.“ 

Das ist vielleicht der Zeitpunkt, an dem ich akzeptiere, dass mein Vater wirklich sterben wird. Und ich werde ganz ruhig. Ich entdecke eine innere Stärke, die ich bis dahin nicht kannte. Ich weiß, dass ich das, was kommt, überstehen kann. Erst Wochen später versuche ich diese unerwartete Quelle der Kraft und das Hochgefühl zu ergründen, lese viel über den Tod. Seit Jahren steht The Still Point of the Turning World in meinem Regal, ungelesen, weil ich mich zu sehr als Voyeur fremden Leids gefühlt hätte. Emily Rapp erzählt darin das Sterben ihres Sohnes Ronan an Tay-Sachs, eine unfassbar grausame Krankheit. 

Jetzt trauere ich auch. Ist es vermessen, das friedliche Ende eines langen Lebens mit dem Tod eines kleinen Jungen zu vergleichen? Hier hallt das Gespräch am Bett meines Vaters in mir nach: Wenn Hoffnung einfach Hoffnung ist, dann ist Trauer vielleicht einfach Trauer. “Wie jede tiefgreifende menschliche Erfahrung ist Verlust nicht quantifizierbar – gäbe es einen Trauerwettbewerb, wer würde ihn gewinnen wollen?”, schreibt Rapp dazu.

Ihr Buch hilft mir, weil sie ebenfalls von schönen Momenten berichten kann: “Auch fühlte ich mich aufgedreht, elektrisiert und gewahr, als ob ich brennen würde oder Feuer schlucken oder Funken sprühen könnte, etwas niederbrennen … Ich spürte eine ungezähmte Klarheit, eine unaufhaltsame Trauer und, manchmal, ein Aufblitzen von Traurigkeit wie eine trübe Erinnerung, als ob ich in eine Höhe des Rauschs emporgestiegen wäre, die ich noch nie erlebt hatte.” [4]

Das war es oder kommt in der Beschreibung dem am nächsten, was den schönen Tod meines Vaters ausmachte: wilde und ungebändigte Klarheit oder auch Klarsichtigkeit und nicht zu erklärende euphorische Augenblicke. Nie hatte ich weniger Zweifel an mir und meinem Tun. Nie habe ich Entscheidungen leichter getroffen und leichter mit ihnen gelebt als in dieser Zeit. 

Spät am Abend prüfe ich die Morphinpumpe und mein Vater, der weder sehen noch sprechen kann, packt mich und zieht mich in seine Arme. Es ist das letzte Mal. Nur einmal reagiert er noch: Nachts trete ich an sein Bett und sage ein paar Worte. Er macht die Augen auf und wendet mir sein Gesicht zu. Dann war er für uns nicht mehr zu erreichen. 

Nur manchmal und ohne erkennbaren Anlass reißt er plötzlich die Augen auf und reckt die Arme hoch. Mich erinnert sein Schrecken an meine Kinder, den startle reflex der Babys, die wie panisch zu schreien beginnen, wenn sie schlafend ins Bett gelegt werden. Als ob sie etwas sehen könnten, das uns verborgen bleibt. Immer wieder nehme ich meinen Vater in die Arme. „Ich halte Dich fest“, sage ich. „Ich lass Dich nicht los. Ich lass dich nicht fallen.“ Auch wenn es genau das ist, was ich machen muss. Der Autorin Karen Fisher wird ein Satz zugeschrieben, dessen Kontext ich nicht kenne: „Du musst alles fallen lassen, was fallen will.“ [5]

Im Lauf der nächsten Stunden zieht sich mein Vater weiter in sich zurück und doch nimmt er uns mit. Noch gehen wir dieses Stück Weg mit ihm. Er ist mein Fokus und ich bin fast erleichtert, dass mein Mann und die Kinder nicht mehr da sind. Ich würde mich in jede ihrer Regungen verstricken, mich um sie kümmern. Ich kann ahnen, was sie gerade bei uns daheim machen. Trotzdem sind sie nicht nur eine Tagesreise entfernt, sondern in einem anderen Universum. Meine Welt hat sich auf ein Zimmer reduziert. Es gibt nur noch meinen Vater, meine Mutter, mich und die Menschen, die uns begleiten. 

Unfassbar, dass sich der Planet da draußen weiterdreht. Das Gefühl kenne ich, schon einmal habe ich diese Isolation in einem anderen Still Point of the Turning World erlebt. Eines unserer Kinder musste nach der Geburt zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, wir aber wurden ohne Baby, aber mit unserer Verzweiflung entlassen. Mehrmals täglich fuhren wir zwischen Wohnung und Klinik hin und her, abgekapselt vom Rest der Welt. Staunend sah ich vom Auto aus den Menschen in den Straßen zu. Wie konnten sie lachen? Wie Kaffee trinken? Wie ihr normales Leben abspulen lassen, wenn doch nichts normal war? 

Schon einmal habe ich einen Tod in der Familie erlebt, stand damals aber vor der geschlossenen Zimmertür, hinter der dieser Orkan wütete. Meine Großmutter starb bei uns daheim wenige Tage nach meinem 17. Geburtstag. Der Schmerz darüber war viele Monate später noch genauso frisch wie am ersten Tag. Ich hielt mich deshalb über Jahrzehnte für zu schwach, um mit einem solchen Verlust umzugehen. Heute denke ich, dass mir ein Abschied vielleicht geholfen hätte.

Am nächsten Morgen kommen mein Onkel, meine Tante und meine Kusine, um meinen Vater ein letztes Mal zu sehen. Er liegt unerreichbar im Bett und ist doch der Magnet, an dem wir uns ausrichten. Jahrzehnte gemeinsamer Geschichte mit Nähe und Distanz, mit Zuspruch und Auseinandersetzung verkürzen sich auf das Band, das ihn mit jedem von uns verknüpft. 

Da ist mein Onkel, der dem großen Bruder über viele Stunden die Hand hält und sie wortlos streichelt. 

Da ist meine Tante, die sechzig Jahre mit dem Schwager geteilt hat. Als sie hochschwanger war und die Wehen überraschend einsetzten, war mein Onkel nicht da. Mein Vater fuhr sie in die Klinik und sagte den Satz, der nun zur Familienfolklore gehört: „Lass Dir ruhig Zeit, es pressiert nicht.“ Pressiert hat es dann aber doch. Meine Kusine konnte mit Glück gesund geboren werden. Sie verabschiedet sich nach mehr als einem halben Jahrhundert von ihrem Onkel.

Als sie gehen muss, bleiben wir zu fünft zurück. Meine Mutter. Meine Tante. Mein Onkel. Ich und mein Vater. Wir wachen an seinem Bett. Wir sprechen und wir erinnern uns. Wir lachen. Am späten Nachmittag dann, das Gespräch der anderen plätschert dahin, höre ich seinen Atem aussetzen. Oder vielleicht ahne ich es auch nur, habe ein Gespür dafür entwickelt. Seine Hand nehme ich nicht, auch wenn es schwerfällt, ich möchte ihn nicht halten. Aber ich blicke wie so oft in den letzten Tagen auf seinen Hals und die Ader, die da pocht. Einmal, zweimal, dreimal, eine Pause. Noch ein Pochen, noch eine Pause. Noch ein leichter Schlag. Stille. 

Wir verabschieden uns. Ich danke ihm. Wir waschen ihn und ziehen ihn an, nicht verkleidet im Anzug, sondern in der leicht ausgebeulten Cordhose und einem Karohemd mit Jacke. Vielleicht friert er nun ja wieder. Meine Schwiegereltern kommen. Noch ein schwerer Abschied. Mehr Familie kommt. Weitere Abschiede. 

All das nimmt uns mit, aber wir halten durch. Meine Stärke bricht nicht. Sie bringt mich nach seinem Tod durch das Treffen mit dem Arzt, der den Totenschein ausstellt. Ich ertrage die Bestatter. Ich komme durch die Nacht und die nächsten Tage. In den Tagen danach tasten meine Mutter und ich uns gegenseitig mit Blicken und Worten ab, aber es ist noch alles dran. Der Orkan ist über uns hinweggezogen. Wir stehen noch.

Ein Leben muss ein gut gelebtes Leben sein, wenn die Druckwellen seiner Implosion weit und bis zurück in die Zeit reichen. In den folgenden Tagen und Wochen melden sich alte Bekannte und Freunde, entfernte Familie, alle sind erschüttert, rufen immer wieder an. Eine langjährige Freundin beendet ein Gespräch: „Entschuldigung, jetzt muss ich ein bisschen weinen.“ Das ist unerwartet für uns, mein Vater hatte schließlich aus eigenem Antrieb lange schon zurückgezogen gelebt. „Sie wussten, dass er ein lauterer Mensch war“, sagt meine Mutter.

Die wilde Klarheit, wird sie bleiben? Nein, mit der Rückkehr zu meiner Familie und in mein normales Leben bin ich auch wieder mein gewohnt verzagtes und von Selbstzweifeln geplagtes Selbst. Was nicht schlecht sein muss. Im täglichen Leben ist die wild clarity verdammt nah dran am Bullying. Nie habe ich weniger darüber nachgedacht, was andere über meine Entscheidungen denken könnten. 

Mein Vater ist einen schönen Tod gestorben. Schön für ihn, denke ich, aber ganz überraschend auch für uns Angehörige. Wir sind mit ihm im Reinen, wir sind mit uns im Reinen, haben unseren Frieden gemacht. Ich kann nicht erklären, nur beschreiben, was war. Und für die unerwartet euphorischen Gefühle die Worte von Emily Rapp borgen, die sie beschreibt als „Momente des strahlendsten, ausgedehntesten und alle Logik erschütterndsten Glücks”, die sie je erlebt habe. [6]

Trotzdem bin ich nicht dieselbe nach dieser Erfahrung, muss mich an ihr abarbeiten. Mein Unterbewusstsein scheint aber weniger mit dem Sterben und dem Tod meines Vaters zu hadern als mit unserer Hilflosigkeit angesichts unmöglicher Entscheidungen. Nacht für Nacht träume ich mich in bizarre Szenarien hinein, die nur eines gemein haben: Ich muss ein unlösbares Rätsel lösen, eine Frage ohne Antwort beantworten, eine überwältigende Aufgabe bewältigen. Immer ahne ich, dass eine perfekte Lösung, Antwort und Strategie vor mir liegt, aber ich kann sie nie greifen. 

Dann stehe ich etwa auf einem Berg in Japan und kann den Heimweg nicht finden. Die Schilder lassen sich nicht entziffern und meine Adresse kenne ich auch nicht. Oder ich träume, dass meine Mutter schwer erkrankt. Nur ein experimenteller Wirkstoff könnte sie retten, aber sie möchte nicht an der Studie teilnehmen. Ich rekrutiere Barack Obama und er spricht geduldig auf sie ein. „Das wird schon wieder“, sagt meine Mutter und lächelt. „Das kriegen wir schon wieder hin”. 

Das nächste Mal versuche ich aus einem Wald zu entkommen, der mit einem Fluch belegt ist. In letzter Not springe ich auf ein Schiff, aber der Fluss führt über Berge und Täler immer wieder in den Wald hinein, der bei jeder Runde dunkler und bedrohlicher wird. Und wenn meinem Kopf die Ideen ausgehen, versetzt er mich einfach in den Krimi, den ich vor dem Einschlafen beiseitegelegt habe. Pech für die Mordopfer: Ich kann den Täter nicht entlarven, irre über Stunden durch die leeren Gänge eines verlassenen Hauses. 

Der, um den es eigentlich gehen müsste, lässt sich nur kurz blicken. Ich bin weinend eingeschlafen, weil ich dachte, mich nicht an den Händedruck meines Vaters erinnern zu können. Im Traum taucht eine Gestalt auf, das Gesicht verschattet, drückt mir im Vorbeigehen die Hand und ist gleich wieder verschwunden. Das macht nichts, ich bin ja ohnehin damit beschäftigt, eine wichtige Frage nicht zu klären oder ein einfaches Rätsel nicht zu lösen. 

Diese Träume kommen jede Nacht und zwar über Wochen. Am Ende bin ich so zermürbt, dass mir vor dem Einschlafen graut. Ich wünsche mir fast den Klassiker der Albträume zur Entspannung zurück: Matheabitur, ob mit oder ohne Kleidung ist egal. Immerhin wird mir jetzt klar, warum mich ausgerechnet die zu Schulzeiten so geliebte Mathematik über die Jahre immer wieder heimsucht. Wenn schon gymnasialer Horror, dann müsste mich eigentlich Caesar über schiefe Ebenen jagen. 

Latein und Physik taugen aber nicht so gut zum Albtraum. Es ist die Mathematik mit ihrer rätselhaften Sprache, die nur Kundigen elegante Wege zur Lösung eröffnet. Wer die Sprache nicht spricht, bleibt auf der Strecke. Kann ich mir nicht verzeihen, dass wir uns gegen die Hightech-Medizin entschieden haben? Fürchte ich, dass wir meinen Vater zu früh aufgegeben haben? Nein, ich denke, er ist den Tod gestorben, den er sterben sollte. Vielleicht ist das eigentliche Problem, dass wir in höchst emotionalen Situationen vor medizinische Entscheidungen gestellt werden, die uns an unsere Grenzen bringen.

Allen kritischen Eingriffen zum Trotz hat die Medizin meinem Vater zusätzliche Jahre geschenkt. Er hatte ein langes Leben und einen schönen Tod. Ich würde mir und meinen Angehörigen und jeder und jedem anderen auch ein solches Sterben wünschen. Das lässt sich nur nicht planen. Aber mich tröstet das Wissen, dass ein lebensbejahender Tod möglich ist. Und vielleicht muss das genug sein. „Ich hatte eigentlich immer Angst vor dem Tod“, sagte mein Mann nach einem Besuch bei meinem Vater in der Klinik. „Aber wenn das Sterben so sein kann, dann fürchte ich mich nicht mehr.“ 

Englische Originaltextstellen, alle ins Deutsche übersetzt von Peter Hintz:

[1] “I learned that dying, up close, is not what you imagine”, ”For the dying are living, like everyone else. It is the essence of living – beautiful, bittersweet, fragile life…” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[2] “In today’s developed world it is possible to live an entire lifetime without ever directly setting eyes on death…” , “Little more than a century ago, this distance from dying was inconceivable. We invariably departed the world as we entered it, among our families, close up and personal, wreathed not in hospital sheets but in the intimacy of our own homes.” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[3] “That I can wash my father, as once he washed me, is an honour, an offering, a last act of love, a moment of unrivalled intimacy.” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[4]“Loss, like any profound human experience, is not quantifiable – if there did exist a competition for grief, who would want to win it?”, “I also felt switched on, electrified and aware, as if I were on fire or could eat fire or spit sparks, burn something down…I felt a wild clarity, an unstoppable grief and, sometimes, a flash of sadness like a dim memory, as if I had climbed a ladder into a realm of ecstasy I had never experienced before.”(Emily Rapp: The Still Point of the Turning World, 2013.)

[5] “You must let everything fall that wants to fall.“

[6] „moments of the brightest, most swollen and logic-shattering happiness” (Emily Rapp: The Still Point of the Turning World, 2013.)

Foto von George Hiles