Kategorie: Literarisches und Personal Essays

Dear Literaturbetrieb

Das internationale Autor*innenkollektiv foundintranslation fordert in einem offenen Brief einen vielfältigeren, inklusiven Literaturbetrieb. Der Brief geht aus WESTOPIA – Festival für eine mehrsprachige Literatur der Zukunft hervor, das vom 1.- 5. September 2021 vom Center for Literature (CfL) auf Burg Hülshoff veranstaltet wurde. Das Festival beschäftigte sich mit den toten Winkeln des Literaturbetriebs, der die Vielfalt und Vielschichtigkeit einer mehrsprachigen und multiperspektivischen Gesellschaft nicht abbildet, und der Frage, wie eine inklusive Literaturlandschaft zukünftig aussehen kann.

Dear Literaturbetrieb,

Imagine the literature of a country whose borders are fictions. Imagine a literary scene where competition is imbued with empathy. Where every mother tongue is honoured as a mother. Where common sense is our common ground and translation our common tongue.

Do you remember? That was our destination, but the world has a way of imposing itself, covering complex depth with forgetful surfaces. Can we find our way back to a place yet to be discovered?

Für uns, beginnt die Utopie im Publikum. Wir erträumen einen Raum, groß und schillernd, der nicht nur eine Welt abbildet. Eine Welt mit vielen Weltchen. Die Rampe zur Bühne gibt es nicht. Da ist Nähe, da ist Augenhöhe, da ist der Mut, selbst auch auf die Bühne zu gehören.

We wouldn’t judge a book by its cover — but a publisher if the translator’s name is omitted from its cover.

Wir sehen die Bühne nicht als Repräsentationsfläche, sondern als Präsentationsfläche.

Lieber Literaturbetrieb, we still love you, but we no longer find you attractive.

Bitte, wechselt die Positionen. Wechselt häufiger Jurypositionen. Bezahlt Juryarbeit besser. Besetzt nicht die Jurys mit den immer gleichen Gesichtern. Neue Gesichter, neuere Literaturformen, neueres Publikum. 

Wir möchten den Klang aller Sprachen auf der Bühne erfassen. A través de la música de la lengua extranjera, to acknowledge that a world-view different to ours is possible. Wir möchten uns ins Nichtverstehen verlieben. 

What does »Deutsche Literatur« even mean?

Si los lenguajes de las minorías en nuestro país son islas, que sean las islas a las que queremos viajar.

Dearest, Literaturbetrieb, why so serious? Wir fordern mehr Quatsch. 

Wir wollen flexible Förderanträge ohne modischen Buzz: Antragsprosa has left the meeting.

Who takes care of the carers? Wir fordern Förderung mit Fürsorge. This means, liebe Kulturförderungen, that we take the expenses of partners and family members into account: family-friendly grants and residencies. And do try not to get bogged down in unnecessary details — let us take care of the writing, acknowledging that all creative work is the work of a community, even if through a single person writing in solitude.

Lieber Literaturbetrieb, uns fehlt der Dialog auf der Bühne. Der wahrhaftige Dialog, der die Frage nach Autofiktion übertrifft. Wir möchten in den Bann gezogen werden.

Bücher sind unsere Zufluchtsorte, wir möchten, dass Bühnenräume und Literaturhäuser auch Zufluchtsorte werden.

We recognise that, by definition, any language that serves as an international lingua franca oppresses the tongues that exist in the margins. However, a Kajetian approach encourages us to accept the paradox, ‘to embrace the English language as a tool’ for spreading knowledge and tweaking the cultural discourse. The wise expenditure of such energies requires common ground. 

Let’s take translation as our model, reminding us that no identity, language or culture can ever be separated from its foreignness. Let’s remain open-minded, taking translation as our ever better-failing model for solidarity.

Dearest Literaturbetrieb, your map no longer corresponds to the territory. But that doesn’t mean we can’t find our way. It just means the journey may take a little longer, so consider it a scenic route. Don’t despair. We have time and the best of company.

Wanting you to be ours,

foundintranslation

Beitragsbild von Moritz Wienert

Notizen vom Rand des Schießplatzes

von Dorothee Elmiger

 

I.

Gleich zu Beginn hältst du fest, es handle sich um eine Situation, um Situationen. Du verstehst diese in diesem Moment hauptsächlich im räumlichen Sinn, als von ihrer Umgebung abgegrenzte Felder, als Gelände von spezifischer Beschaffenheit, umzäunte Ausschnitte, Ansiedlungen, Camps. Und tatsächlich: Noch bis ins 19. Jahrhundert bezeichnet der Ausdruck vor allem geographische Lagen, Ortsbeschaffenheiten; die Situation als ›site‹, als ›Terrain‹, nicht zuletzt im militärischen Sinn. Du siehst dich am unteren Rand einer erst leicht und dann steiler ansteigenden Landform, das Gebiet ist dir bekannt, hier, vor diesen Hügeln, hast du schon als Kind gestanden und in der Ferne die großen Ziffern gesehen:

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Der schlafende Raum träumt von der Wüste

von Rudi Nuss

 

The meaning of life doesn’t seem to shine like that screen
– Weyes Blood

 

I know that many of you are lethargic and suffer from apathy, but is anyone else hyper?
– @WWWtxt Archiv, Foreneintrag Oktober ’94

 

Katzen in kleinen Latzhosen. Jemand verspeist CPUs wie After Eight-Plättchen. Jemand in einem Moomintroll-Ganzkörperanzug und einer Handfeuerwaffe in verschneiten Wäldern. Screencaps diverser 90er-Jahre-Cartoons. Remix von Mark Zuckerberg, wie er »baby rips« sagt, als sei er ein normaler Mensch, der grillt. Bild eines Fearsome Critter Cryptids, ein Elch mit gelenklosen Beinen namens Hugag, der wie auf Stelzen durch dunkle Wälder wankt. Jon Bois twittert: went to the store. @weedhitter twittert: i will eat dog food for money. Burger King veröffentlicht neues Logo. Bild von Joe Biden, wie er an dem Finger seiner Frau lutscht. Der Liminal Space Bot postet einen menschenleeren Swimmingpool, auf den die Sonne scheint. Die Coca-Cola Company veröffentlicht ein Statement zum Capitol Coup am 06.01.2021. John Maus postet einen Tag danach die Rede Papst Pius’ XI. vom 14. März 1937, MIT BRENNENDER SORGE. Furry Fan Art von Frodo und Sam, wie sie unter Tränen miteinander knutschen. Bild von Duchamps Fountain mit der Caption »Pogchamp«. Nancy Pelosis wikiFeet-Seite.

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Die Täter schweigen nicht

von Anne Rabe

 

Karina hatte mich gefragt, ob ich mit ihr ins Ferienlager fahren möchte. Seit der ersten Klasse hatten wir regelmäßig die Sommerferien zusammen verbracht und sie schwärmte von diesem Pferdehof, auf dem man den ganzen Tag machen durfte, was man wollte. Wo man jeden Tag reiten durfte und alles viel lockerer war als in den anderen Ferienlagern, die wir kannten. Es war also klar, dass ich unbedingt dabei sein wollte.

Der Hof lag direkt an einem See. Es gab Ruderboote und tatsächlich nicht den typischen Pferdehofdrill mit festen Stallzeiten, strengen Reitlehrern und übel gelaunten Stallleuten. Es gab keine Reitabzeichen und keinen teuren Pferdemädchen-Dresscode. Stattdessen “Tipis”, Bogenschießen, Reiten ohne Sattel und Schlafen unter freiem Himmel. Weiterlesen

Was Lyrik will, ist ein gesichertes Einkommen – Manifest des Lytter Zines

von Miedya Mahmod & Jonathan Löffelbein

Dies ist das Manifest des Lytter Zines, ein Magazin, das auf Twitter veröffentliche Lyrik sammelt, abdruckt und illustriert. Lytter ist der zwingend scheiternde Versuch Lyrik abzubilden, die mit anderem Content in unmittelbarer Konkurrenz steht. Jeder Satz dieses Manifests wurde auf Twitter geschrieben und dort einzeln veröffentlicht.

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Als ich schrieb (Mutterschaftsvariationen)  

von Marie-Sophie Adeoso

I

Als ich schrieb, hörte ich wieder mal lautes Gebrüll.

Ich stand auf, spendete Trost und kehrte zurück zu den Worten, ich schrieb und da klebte es mir an den Socken, ich stand auf, wischte Saft vom Parkett, wieder trocken, als ich schrieb, dachte ich nach, wie der Satz einmal enden – fiel mir ein, dass der Einkauf noch – mit den Händen griff ich Taschen und  Leergut, griff Kinder und Mützen, griff Gummistiefel, draußen die Pfützen, griff Schlüssel und Mülltüten, die Windeln  stanken, griff alles, ins Treppenhaus – ab mit euch! –  schwankten wir raus, immer raus in den Regen, den Laden, den Alltag, das Leben, als ich schrieb, kam mir all das mal wieder  entgegen, dazwischen –

II

Der Roman schreibt sich nicht von selbst. Ich schreibe mich in ihn ein, Nacht für Nacht, wenn neben mir der Atem eines  kleinen Menschen ruhiger oder unruhiger wird, je nachdem. Ich  schreibe im Kopf, während es an meiner Brust zieht, während ich Hunger oder Durst oder Unruhe stille und in mir die Unruhe Hand in Hand mit der Müdigkeit wächst.

Mir zerfallen die Jahre unter den Fingern zu Staub, den ich  ständig aufsaugen muss aus den Ritzen im Parkett, in denen er  sich sammelt, gemeinsam mit Essensresten und Spielplatzsand.  Der Staub verfliegt, ein Jahr nach dem anderen, in dem ich  nicht schrieb. In dem ich ansetzte und gleich wieder ab, weil  ich nur mal kurz den Alltag schaukelte im Arm und ein Kind auf  jedem Knie und mir dazwischen die Worte abhandenkamen. Ich  suche sie nachts, wenn neben mir der Atem des einen oder  anderen kleinen Menschen ruhiger oder unruhiger wird, je nachdem. Ich denke ans Schreiben: immer und immer und immer –

so, wie man im Winter an den Sommer denkt, wenn man friert. Ich schreibe den Roman nicht, er schreibt sich in mich ein, schreibt mir den Kopf voll, beherrscht ihn und schreibt sich doch nicht von selbst. Mutter schläft und schreibt nicht und wird früh geweckt.

III

Ich werde alles anders machen als du. Ich werde alles genauso machen wie du. Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast. Ich weiß nicht, wie du meine Mutter warst. Ich weiß nicht, welche Mutter ich sein will, sein kann. Ich hatte keine. Doch, hatte eine. Habe eine. In mir. Sie schreibt sich nach draußen. Totgeburt.

IV

Ich sehe, wie du fällst. Wie du aus meinem Blickfeld stürzt.

Ich sehe, dass ich dich nicht mehr sehe, sehe den Schrei, der mir entfährt, rot in der Luft stehen, sehe mich selbst dorthin hasten, wo ich dich wieder sehen kann, sehe in mir vor mir, wie du zertrümmert auf den Steinen liegst, die Glieder verrenkt, laufe weiter, stolpere, fliege die Treppen hinab, sehe dich wirklich jetzt, klein und komplett, höre dich, greife dich, deine Arme, deine Beine, deinen Kopf, taste dich ab, alles dran, alles da, bist du heil?, sag mir, wo schmerzt  es dich?, herz ich dich, Brennnesselstich, überall pikst es dich und über dir biegt er sich, der Ast, der dich fing, deinen Sturz stoppte, dann knickte, dann brach und dich absetzte im Brennnesselbeet, aua, aua, au, au, wimmerst du;  danke, stammle ich und halte den Ast, der brach, so dass du nicht brächest, nicht in Teile zerfielest, es dich nur pikste  und pikste und ich küsse deine Tränen und ich streichle deine  Stiche und ich halte deine Glieder, die zerstochenen, nicht zerbrochenen, die Glück gehabt haben, was ein Glück, was ein  Glück –

V

Der Roman schreibt sich nicht von selbst. Ich schreibe mich in ihn ein, Nacht für Nacht, ohne Worte. Vielleicht träume ich es nur, wenn die Gedanken sich gegen die Wände werfen, wie ein eingesperrtes Tier, sie sich wundscheuern und weniger werden, wüster und düsterer werden in den Nächten, die keine Nächte sind, weil die Tage länger werden und die Kinder sich sträuben, sie loszulassen und sich den Nachtresten anzuvertrauen, in denen ich schreiben könnte, wenn sie schweigen würden, wenn ich nicht schreien würde, weil ich Ruhe brauche, Ruhe, Ruhe und Schlaf, der mir die letzte Zeit zum Schreiben raubt.

VI

Ich werde schreiben – du hast gemalt. Deine Bilder an meiner Wand. Meine Texte in wessen Buch? Ich werde etwas hinterlassen, das bleibt, wenn ich jetzt sterben müsste. Wenn ich die Kinder hinterließe, so, wie du mich einst zurückgelassen hast. Ich werde schreiben werde bleiben werde leben. Du bist tot. Ich halte dich am Leben, weil es nicht auszuhalten ist sonst. Wie denn sonst –

VII

Plötzlich bist du da. Nachts aus der Wärme geholt auf einen Streich, viel zu früh.

Plötzlich bist du weg, ich bleibe zurück, den Bauch leer, die Brust voll, die Beine taub – ich habe dich doch noch gar nicht gesehen.

Sie fahren mich zu dir, ich kann nicht stehen, ich schaue dich an, du kannst mich nicht sehen, die Augen geschlossen, dein Atem gestützt, dein Körper geschützt vor der Welt, ein bisschen Mensch und sehr viele Kabel, und dann schwindelt es mich und sie betten mich und wir sind wieder allein, du und ich, in unseren Betten getrennt.

Und wo, fragt der Mann am Bett neben meiner Einsamkeit, und wo, fragt der Mann, dessen Frau neben meinen Schmerz gebettet  wurde, und wo, fragt der Mann, ist denn Ihr Kind eigentlich? Wenn es nicht lebt, sagt der Mann, der sein Neugeborenes auf dem Arme wiegt, dann können Sie ja noch eines  –

Sie sind doch noch jung.

VIII

Als ich schrieb, schreiben wollte, schrieb ich mal wieder nicht. Vertagte auf später. Hielt dicht. Biss mich durch. Durchhalten, Leben gestalten, das der anderen, das an meinem hängt. An meinem Schreibtisch mit Aussicht, mit Aufsicht türme ich  Bauklötze und Überstunden auf nie geschriebene Sätze

auf die Plätze

fertig

̶l̶o̶s̶

IX

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass die ungeschriebenen Sätze sich festsetzen, ohne dass ich sie lesen könnte.

Sie kitzeln mich wach, ziehen mir die Decke weg und strecken mir ihre Füße ins Gesicht. Ihre ungesetzten Worte tanzen durchs Haus, lachend, unbeschwert, werfen die Milch um, knallen mit Türen und wischen ihre Marmeladenfinger an mir ab.

Die ungeschriebenen Sätze schicken mir E-Mails und Rechnungen, sie flimmern auf allen Bildschirmen und folgen mir bis aufs  Klo.

Sie sind schon wieder so groß geworden, denke ich mir, umarme sie und wünschte, ich wäre mehr für sie da.

X

Ich kenne mich nur als schreibenden Menschen. Du gingst, ehe ich schreiben konnte. Was lese ich da hinein? Was hast du in mich eingeschrieben? Was ist geblieben von dir? Was bleibt von mir?

Schreib mir.

XI

Der Roman schreibt sich nicht von selbst.

Mein Leben schreibt die besten Geschichten ohne mich auf und scheißt auf die schiefen Sprachbilder an den Wänden

Meine Reime sind Schweine und grunzen im Takt

Meine Kinder spielen Fußball in meinen Worten und zerschlagen kichernd Satz für Satz

Sie lernen reden und lesen und schreiben

Im Hier und Jetzt spielt die Musik. Tanzen, Mama!, rufen sie.  Tanzen! Und ich tanze und ich lache und ich schwebe und ich  schwitze und ich kitzle und ich singe und ich springe und ich  fliege mit ihnen um die Welt

Schreiben ist ein Kinderspiel

Mutterschaft ist ein Gedicht

XII

Als ich schrieb, hörte ich wieder mal lautes Gebrüll.

Ich stand auf, spendete Trost und kehrte zurück zu den Worten, ich schrieb und da klebte es mir an den Socken, ich stand auf, wischte Saft vom Parkett, wieder trocken, als ich schrieb, dachte ich nach, wie der Satz einmal enden – ich stand auf, setzte den Punkt und trug beide gemeinsam ins Bett.

 

Photo by Chris Barbalis

…und bey den Liechten Sternen stehen – Gedichte zu Sibylla Schwarz‘ 400. Geburtstag

Sibylla Schwarz, die am 14. Februar 1621 geboren wurde, feiert an diesem Tag ihren 400. Geburtstag. Das Werk der Dichterin, die auch „pommersche Sappho“ genannt wurde, ist vielfältig, inspirierend und von der Literaturgeschichtsschreibung nicht ansatzweise ausreichend gewürdigt. Im Jahr 1638 verstarb die Barocklyrikerin im Alter von nur 17 Jahren. Sie hatte ihr ganzes Leben in den Wirren des 30jährigen Krieges verbracht. Nach ihrem Tod veröffentlichte ihr Hauslehrer Samuel Gerlach ihre Gedichte.

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Rattenfängerin

eine Erzählung von Sonja Lewandowski 

 

Den Maulwurf fand ich im Hof. Alle Viere von sich gestreckt, lag er auf dem Beton, kein Erdhügel in Sicht, aus dem er gestiegen sein konnte. Ich steckte ihn in die Brusttasche meiner Latzhose und ließ die noch feuchte Steckdosennase herausschauen, sie sahen ja alle nichts. Mit geschwollener Brust ging ich an diesem Morgen in die Schule. Dort bahrte ich ihn in einem Schuhkarton auf, aus dem ich die gestern gebastelte Vierzimmerwohnung riss, stellte mich neben die Toiletten auf dem Schulhof und nahm in den Pausen Eintritt für einen Blick. Weiterlesen