Schwankende Kanarien – Auszug aus einem Essay

von Judith Schalansky

Mir war sehr wohl bewusst, dass die Geschichte des Lebens auf der Erde keine Bühnenhandlung war und das menschliche Auftauchen auf selbiger ein erstaunliches, doch flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis, das ebenso verschwinden würde wie eine Reihe anderer wundersamer Wesen. Und trotzdem sah ich noch einmal das Spektakel eines erst brennenden, dann brodelnden und dampfenden, bald schmatzenden Planeten, auf dem sich Wasser zurückzog und Kontinentalplatten verschoben, ungeheure Wälder wucherten, im Ozean allerlei Getier gedieh, das die Landmassen zu erkunden begann, bis nach einer Ewigkeit und einigen eiszeitlichen Sekunden doch noch eine gebückt gehende, behaarte, bewaffnete Kreatur auftauchte, mit der ich mich zu identifizieren gelernt hatte. Der Rest war Sesshaftwerdung und Abholzung, Bergbau, Verstädterung und Satellitenschrott. Ich steckte fest.

Wenn das die Vorgeschichte war und das menschliche Leben keine Tragödie werden sollte, dann brauchte es doch eine Lösung, einen Wendepunkt der Handlung. Aber wie sollte der aussehen? Mein Gehirn, das gerade groß genug gewesen war, um den Geburtskanal zu passieren, stieß offenkundig an seine Grenzen. Was fiel ihm ein? Schlimme Sprüche, ökologisch bewegte Kalenderweisheiten wie »Wir haben die Erde nur geliehen.« oder »Erst wenn der letzte Baum …«, die ich mir einst mit Glitzerstift auf meine Schulhefter geschrieben hatte und deren Halbwertszeit offenbar geringer war als die einer im Gebüsch verrottenden Plastiktüte. Die dramatischere, ebenfalls auf einen Kipppunkt verweisende Zeitansage, es sei bereits »fünf vor zwölf«, schien ironischerweise eine der ältesten Wendungen zu sein und hatte sich selbst komplett überlebt. In Verwendung war jedoch das sinnverwandte, vor allem im englischen Raum weit verbreitete Idiom vom sogenannten »canary in the coal mine«, eine so kryptische wie schillernde Formulierung, die das Bild eines gelben, gefiederten Geschöpfes im verborgenen Erdinnern evoziert. Ein Wesen der Lüfte in der Unterwelt, abgeordnet in eine lichtlose Tiefe, in eine Grube, in der es in einem kleinen Käfig sein Lied singt, weil es nicht anders kann und weil es – aus seinem Zusammenhang gerissen – das tut, was Vögel in Menschengeschichten oft tun: einen Überschuss an Anmut, Schönheit und Sinn produzieren. Wie aber, fragte ich mich, war der Vogel in die Grube geraten, in diese Redewendung, in dieses Sprachbild, ein Bild der Desorientierung, des Elends, des Erbarmens, der Hoffnung, des Anthropozäns?

Für den Essay „Schwankende Kanarien“ erhält Judith Schalansky den WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis 2023. Dieser erscheint am 16.06.2023 als Band 4 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag.

Beitragsbild von Sebastian Tovar

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