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Nicole Flatterys „Nicht Besonderes“ – Hinter den Kulissen von Andy Warhols Factory

von Julia Stanton

Als Valerie Solanas am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schießt, begründet sie ihre Tat mit den Worten: „Er hatte zu viel Kontrolle über mich“. Nur drei Jahre früher sah Solanas in Warhol noch die Chance, ihr Theaterstück produzieren zu lassen. Stattdessen hält er sie hin, bietet ihr an, als Sekretärin für ihn zu arbeiten, lädt sie gelegentlich zu Partys ein, zeichnet Teile ihrer Telefongespräche auf und nutzt diese Aufnahmen ohne Erlaubnis und ohne Kenntlichmachung für einen seiner Filme. Am Anfang gerade so toleriert, wird Solanas, eine radikale Feministin, die heute neben ihrem Attentat besonders für ihr SCUM-Manifesto (Society for Cutting up Men) bekannt ist, bald schon zum Ärgernis und ist in Warhols Kreisen nicht mehr willkommen. Fest davon überzeugt, dass er ihr Theaterstück verloren hat, beginnt sie, ihm wütende Briefe zu schreiben. Sie teilt ihm mit, dass sie eine Waffe kaufen wird und bleibt ihren Worten treu.

Nichts Besonderes, der Debütroman der irischen Autorin Nicole Flattery, beginnt fast 40 Jahre nach Solanas Attentat – 2010. Mae, die Protagonistin, lebt ein ereignisloses Leben. Ein zufälliger Kommentar über Solanas versetzt sie zurück in ihre Zeit als Teenagerin und erinnert sie an ihre eigenen Erfahrungen mit Andy Warhol. 

a, A novel

1966 ist Mae 17 Jahre alt und lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und deren Partner in einer heruntergekommenen Wohnung in New York. Ihr Leben langweilt sie und sie sehnt sich nach etwas Außergewöhnlichem. Sie bricht die Schule ab und wird durch eine Reihe von Zufällen Sekretärin in Warhols berühmter Factory. Dort lernt sie Shelley kennen, die ihr Zuhause verlassen hat, um ähnliche Sehnsüchte wie Mae zu verfolgen. Gemeinsam wird den beiden aufgetragen, Gesprächsaufnahmen von Warhol und seinen Freunden zu transkribieren, die später zu einem Roman werden sollen. 

Flattery erzählt damit im Grunde eine verlorene Geschichte. Den Roman, den Mae und Shelley schreiben und der aus den aufgezeichneten Gesprächen von Warhol und anderen Factory-Stars wie Edie Sedgwick und „Ondine“-Robert Olivo besteht, gibt es wirklich. Er wurde 1968 unter dem Titel „a, A novel“ veröffentlicht. Klar ist, dass Warhol, auch wenn er als einziger Autor namentlich Erwähnung findet, den Roman nicht selbst schrieb. Wer die Frauen waren, die diesen Roman abtippten, ist allerdings unbekannt.  Nichts Besonderes ist daher eine fiktionale Erzählung mit historischen Elementen, in der Flattery die mögliche Geschichte dieser Frauen nachzeichnet. 

Ihr gelingt dies mit scharfem Beobachtungsvermögen und Sensibilität, ohne bekannte und veraltete Mythen über die 60er oder Warhol zu reproduzieren. Nichts Besonderes widmet sich ganzheitlich allem Vergessenen und Unbekannten dieser Zeit und verleiht den damals unsichtbaren Charakteren eine Stimme. Warhol selbst spielt in dem Roman nur eine Nebenrolle und kommt kaum vor. Er besitzt allerdings eine unheimlich wirkende Omnipräsenz, die sich im Verhalten von Mae und anderen Factory Mitgliedern zeigt. Wenn er den Raum betritt, liegt alle Aufmerksamkeit auf ihm und es geht jedem nur darum, ihm zu gefallen. Dadurch verrät der Roman einiges über die Dynamik und die soziale Hierarchie dieser Welt – möglicherweise mehr, als es eine der zahlreichen Warhol-Biografien je könnte. An Stellen wirkt es sogar so, als würde der Roman mit der öffentlichen Person, die Warhol vorgab zu sein, spielen und diese dekonstruieren. Ein Licht scheint der Text dabei besonders auf die extreme Macht, die Warhol auf die Mitglieder der Factory ausübte. 

surrounded by genius, by grace, by people

Das offenbart sich besonders im jungen und naiven Ton, in dem der Hauptteil des Romans erzählt wird. Mae glaubt alles zu wissen und erfahrener zu sein als sie ist. Als sie das erste Mal in Warhols Studio tritt, ist ihre größte Sorge allerdings ein Streit mit ihrer Schulfreundin Maud und Daniel, der Mann, mit dem sie zum ersten Mal schläft. Immer wieder gibt es Stellen im Roman, in denen Mae zwar denkt, Kontrolle zu haben, in denen aber gleichzeitig deutlich wird, wie machtlos sie eigentlich ist und wie sehr die Factory Mitglieder ihre Naivität ausnutzen. 

Das dadurch entstehende Unbehagen wird zusätzlich durch die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Zukunft verstärkt. Die ältere und reifere Mae erzählt in einem anderen Ton und bewertet ihre Erlebnisse von damals in einer Art, die verrät, wie ausbeuterisch ihre Situation war. 

Mit 17 ist Mae aber noch fest davon überzeugt, dass die Factory und die Leute, die dort ein und ausgehen, etwas Besonderes sind und das so auch sie durch ihre Assoziation mit ihnen zu etwas Besonderem wird: „I felt like, I was finally surrounded by genius, by grace, by people who had made decisions about their lives.“ Das ist es auch, was sie motiviert, die Gespräche abzutippen. Mae und Shelley halten sich für Autorinnen, die gerade ein Buch schreiben. Ihnen ist noch nicht bewusst, dass sie für diese Arbeit nie jegliche Form von Anerkennung erhalten werden. Und so tippen sie weiter, mit Präzision und Ehrgeiz, ihr Selbstverständnis eng mit dieser Arbeit verstrickt. Dabei geht es Mae vor allem um das Label als Autorin. 

Der Roman stellt so vor allem die Frage nach Identität und inwiefern Identität mit Arbeit, Kunst und auch Konsum zusammenhängen. Mae kommt mit der Ambition in die Factory ihre gesamte Identität, „the person she had been“, komplett zu verändern; im Grunde so zu werden wie einer der Stars der Factory, zu denen sie aufschaut.

the parties looked like fun

Identität wird hier aber als nichts anderes verstanden als die Art, in der man sich präsentiert, das äußere Erscheinungsbild. Es ist damit dann auch etwas, das man kaufen kann oder sogar kaufen muss, das abhängig ist von den Dingen, die man konsumiert und nicht konsumiert. „I had a list of things I wanted to be, a shopping cart of qualities“, erklärt Mae am Anfang des Romans. 

Ein gutes Leben zu leben und eine interessante Person zu sein, bedeutet, sich in einer Art zu präsentieren, die vor der Kamera gut aussieht. Das gelingt den Mitgliedern der Factory so gut, dass selbst Mae Jahre später auf die Fotos aus dieser Zeit zurückblickt und denkt: „the parties looked like fun“ – auch wenn sie alles andere als das waren. 

Es ist somit auch kaum verwunderlich, dass diese Welt in „ugly“ und „beautiful“ eingeteilt ist – Worte, mit denen der Roman übersättigt ist.  „Ugliness“ hat in der Factory keinen Wert, „you had to be special to register in those rooms“, erklärt Mae. Was „ugly“ ist, wird rausgeschmissen. Es ist Synonym für alles Schlechte und Ungewollte. Ihre Kindheit ist „ugly“ genauso wie die Wohnung, in der sie lebt und so ist Mae froh, dass sie diese Welt endlich hinter sich lassen kann. Das Gegenteil gilt für alles Schöne: „Everyone wanted good things to happen to the really beautiful people. Everyone wanted horrible things to happen to the bad guys, who were obvious to discern.“ 

Mae übernimmt diese Weltsicht so sehr, dass sie alle um sich herum, einschließlich sich selbst, objektifiziert und basierend auf deren Erscheinungsbild bewertet. Selbst Shelley, zu der sie in vielerlei Hinsicht aufblickt, wertet sie konstant ab, weil die Art, in der sie sich kleidet, unpassend ist und nicht den Codes der Factory entspricht: „She [Shelley] wasn’t sexy, and her attempts were hopeless, pitiable, like my mother striking poses when she was drunk.“

famous for fifteen minutes

 „Ugly“, so wird klar, ist das, was die Factory als solches bezeichnet. Mae wirkt in ihren Beschreibungen oft gemein und herablassend, ihre Kommentare sind im Grunde aber nur eine Reflektion ihrer Umwelt, deren Werte sie unkritisch übernimmt. 

Auch wenn der Roman in den 60er Jahren spielt, wirkt der Text an manchen Stellen wie ein direkter Kommentar über unsere heutige Gesellschaft: Unsere Obsession mit Aussehen, mit Sehen und Gesehen werden, den Impuls ständig alles in unserem Leben aufzuzeichnen und auf Social Media ein bestimmtes Image unserer Selbst zu kuratieren, das alles scheint eine direkte Fortführung der Welt zu sein, die Warhol kreierte und die ihn im Gegenzug zu einem der bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts machte.

Wenn es um heutigen Influencer- und Starkult geht, kommt man meist nicht umhin, Warhol zu nennen: „In the future everyone in the world will be world famous for fifteen minutes“, soll eines seiner berühmtesten Zitate lauten. Das Internet und besonders Social Media scheinen dieses Zitat wahr gemacht zu haben: „Instagram hat das Zeitalter der Selbstkommerzialisierung im Internet eingeläutet […] aber TikTok und Twitter haben es noch beschleunigt. Jeder ist gezwungen, die Rolle eines Influencers zu übernehmen“, schrieb der Autor Kyle Chayka vor Kurzem in einem Artikel. Es geht immer darum, so viele Klicks und so viel Reichweite wie möglich zu bekommen; der potentielle Erfolg immer in greifbarer Nähe. Dabei besteht aber auch immer die Gefahr des Scheiterns: „Auf Facebook gibt es weniger eine ‘Bedrohung der Sichtbarkeit’ als vielmehr eine ‘Bedrohung der Unsichtbarkeit’, die die Handlungen von Nutzern zu bestimmen scheint. Das Problem ist nicht, ständig beobachtet zu werden, sondern die Möglichkeit, ständig zu verschwinden, nicht als wichtig genug angesehen zu werden“, bemerkt die Medienwissenschaftlerin Taina Bucher.

Auch wenn es damals weder TikTok noch Instagram gab, verhandelt der Roman diese ständige Bedrohung von Unsichtbarkeit und erzählt wie mächtig, aber gleichzeitig auch wie erdrückend das unerfüllte Bedürfnis nach Sichtbarkeit sein kann. Als Shelley und Mae ihren Roman beenden, werden sie damit auch wertlos für die Factory. „[W]hen the last tape ended, so would our lives“, erklärt Mae. 

Ihnen widerfährt damit ein ähnliches Schicksal wie Solanas. Und so ist es kaum verwunderlich, dass Mae am Ende des Romans, obwohl sie sich nicht erinnert, Solanas je kennengelernt zu haben, eine Form von Solidarität verspürt. Mae kommentiert: 

„What they didn’t say was that they understood it too. They understood it when she said he had too much control over my life. […] They had to make her strange because it could have been any of them. Shelley could have done it, but she wouldn‘t have missed, those typing fingers nimble and sure.“ 

Stop recording

Gleichzeitig zeigt der Roman aber auch die Kosten hinter dem ständigen Aufzeichnen des eigenen Lebens, dem ständigen Drang zur Performanz. Die Tapes, die die Mädchen jeden Tag hören, werden immer unerträglicher. Den Stars, die konstant aufgenommen werden, geht es zunehmend schlechter, mental und auch körperlich. Die Schauspielerin Edie Sedgwick hat einen Zusammenbruch und muss in eine Klinik eingewiesen werden. 

„Stop recording“, darum bitten die Stimmen auf den Tapes wieder und wieder, ohne je eine Antwort zu erhalten: „But there was never any response from the man holding the tape recorder, and the red recording light stayed on.“ Je genauer Mae und Shelley zuhören, desto mehr wird ihnen klar, dass ihr Wunsch nach öffentlicher Anerkennung nicht zu der Erfüllung führen würde, die sie sich davon erhoffen.

Auch in diesem Sinne scheint der Roman unsere heutige Beziehung mit sozialen Medien zu reflektieren: Wir sind ständig dazu aufgefordert, jeden Aspekt in unserem Leben aufzuzeichnen und dort eine bestimmte Version unserer selbst zu präsentieren. Über die Kosten, sich selbst ständig in Bildern, Videos oder auf Social Media Profil zu inszenieren, wird aber nur selten gesprochen: „ [W]as bedeutet es eigentlich für so viele junge Menschen […], sich darüber zu definieren, wie sie wahrgenommen werden?“  fragt die Autorin Haley Nahman in einem Essay.

Der Roman gibt eine ernüchternde Antwort. Nichts Besonderes endet 1985, einige Jahre nach den Geschehnissen, antiklimaktisch. Mae arbeitet in einer Bar, in einer nicht nennenswerten Stadt und lebt ein normales Leben. Was für die 17-jährige Mae ein Albtraum gewesen wäre, entpuppt sich als Happy End. Es ist die Umkehr all dessen, wofür Warhol steht. Maes jüngere Kolleginnen blicken auf sie herab, aber sie bemerkt nur: „They didn’t know that was the life I had made and I was proud of it; a life where I didn’t need to be looked at, admired.“

Beitragsbild von Anastasiya Badun

Reparativ, relevant, riskant: Zur Zukunft der Literaturkritik

Lea Schneider und Sebastian Köthe im Gespräch mit Insa Wilke

Die jüngere Generation denkt, fühlt und lebt anders. Auch in der Literaturkritik. Der „Großkritiker“ ist kein role model mehr. Insa Wilke hat die Schriftstellerin und Übersetzerin Lea Schneider nach ihrem Blick auf gegenwärtige Literaturkritik gefragt. Sie wurde gerade mit einer Arbeit über Verletzbarkeit als literarische Kategorie promoviert. Außerdem dabei: Der Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe, der zu Folter, Widerstand und Überleben und der Repräsentation dieser Komplexe in den Künsten forscht und Sandra Hetzls und Kerstin Wilschs deutsche Übersetzung von „Gedichte aus Guantánamo“ herausgegeben und durch ein umfassendes Nachwort ergänzt hat. Ein Buch, das 2007 in den USA Debatten auslöste. Auch hierzulande wählten die einen Kritiker*innen das Buch auf die SWR Bestenliste, während die anderen harsche Kritik übten und sich moralisch unter Druck gesetzt fühlten.

Insa Wilke: Sebastian Köthe, Sie sind Wissenschaftler. Standen für Sie Gefühle am Anfang Ihrer Arbeit?

SK: Am Anfang meiner Arbeit stand die Lektüre eines Folter-Protokolls, verfasst von US-Soldat*innen, die in Guantánamo einen Mann, Mohammed al-Qahtani, 54 Tage lang gefoltert haben. Teilweise werden sie sehr explizit, wenn sie darüber schreiben, was sie diesem Menschen antun. Am Anfang stand für mich der Schock über diesen Text, der Gewalt beschreibt, Gewalt legitimiert und selber Gewalt ausübt. Dieser Schock, dass dieses Protokoll auch Teil einer Kultur, nämlich einer Kultur der demokratischen Folter ist, war einer der Uraffekte meiner Forschungsarbeit.

IW: Wie ging es weiter?

SK: Ich habe zahlreiche Memoiren und Untersuchungsberichte gelesen und habe über Whatsapp und Zoom Überlebende, Anwält*innen und ihre Alliierten kennengelernt. Die vielen Gefühle, die diese Begegnungen in mir ausgelöst haben, habe ich zunächst für mein privates Erleben gehalten. Heute weiß ich, dass diese Gefühle gesellschaftlich relevant sind: Was macht man sozial und kulturell mit dem, was in Guantánamo geschehen ist – und bis heute weiter geschieht? Was muss man sagen, tun und imaginieren, damit die Entlassenen – und auch die Täter*innen, Zeug*innen, indirekt Betroffenen – ein Leben nach der Folter führen können? Bei diesen Fragen kann man Gefühle nicht ausklammern.

IW: Was für Gefühle sind das? Zum Beispiel für eine deutsche Leserschaft.

SK: Es gibt die Fälle von Khaled al-Masri und Murat Kunaz. Letzterer ist durch den Film von Andreas Dresen bekannter. Da gibt es ja eine Art von Mitverantwortung, oder? Da kann man sich involviert und schuldig fühlen, man kann sich peinlich berührt fühlen, man kann auch desinteressiert oder genervt, berührt oder traurig sein. Wenn man die „Gedichte aus Guantánamo“ liest, kann man auch überrascht sein, mit welchem Witz manche der Überlebenden über ihre Erfahrungen schreiben. Ein komplexer Mix aus Gefühlen also. Um den zu thematisieren und also zu verarbeiten, braucht man in meinen Augen literarisches Schreiben und Lesen. Und auch in einer auf Transparenz, Intersubjektivität und Reflexion angelegten Schreibform wie der wissenschaftlichen müssen Gefühle Platz finden, sonst kann man diese Arbeit gar nicht machen.

IW: Ich beziehe das mal auf die Literaturkritik und denke dafür an einen Satz von Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger, die in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ dafür plädieren, Freiheit als Beziehung und nicht als etwas zu denken, das man besitzt. Übertragen auf das literaturkritische Lesen übersetze ich das so: sich in Beziehung zu einem Text setzen, anstatt ein Urteil aus der Position des abgeklärten Wissens zu fällen. Könnte dieser Gedanke eine Rolle spielen für die Reaktionen auf die „Gedichte aus Guantánamo“? Den Gedichten wurde die literarische Qualität abgesprochen, sie wurden sogar als mögliche Objekte einer literaturkritischen Betrachtung ausgeschlossen, wegen vermeintlich fehlender Literarizität bei gleichzeitigem Moralismus.

SK: Wenn man die Fähigkeit zu kritisieren als etwas versteht, das man „besitzt“ bzw. sich angeeignet hat, muss man sie vielleicht auch verteidigen und eine bestimmte Souveränität performen, um seinen Platz in der Arena zu rechtfertigen. Wenn man den Beziehungsaspekt hervorhebt, kann man sich verletzlicher machen, in seiner Schwäche, mit seinen Fragen zeigen. Das ist ja auch ein kritisches Verfahren, da legt man ja auch was vom Text frei.

IW: Wie ließe sich eine solche Form der Literaturkritik verstehen?

SK: Als eine Art Beispiellektüre vielleicht? Indem Kritiker*innen zeigen: So könnte man das Buch lesen, das ist eine Erfahrung, die man beim Lesen machen könnte. Man könnte diese Fragen, diese Gefühle, diese Thesen entwickeln, dieses Missfallen empfinden. Man kann ja vieles über ein Buch sagen, ohne dass man diese universelle Position des letztinstanzlichen Richters einnehmen muss.

IW: Lea Schneider, Sie übersetzen aus dem Chinesischen, schreiben Essays, Prosa und Gedichte und haben gerade Ihre Dissertation über Verletzbarkeit als literarische Kategorie verteidigt. Können Sie etwas mit diesem Gedanken anfangen, sich zu Texten in Beziehung zu setzen?

Lea Schneider: Ich finde die Idee, Freiheit wie auch kritisches Lesen als Beziehung zu denken, sehr schön. In dem Moment, in dem Freiheit kein Besitz mehr ist, sondern erst in Beziehung zu anderen verwirklicht werden kann, wird man allerdings auch viel verletzbarer. Das gilt vielleicht besonders für die Literaturkritik, von der traditionellerweise erwartet wird, aus einer Position von Objektivität, Souveränität und umfassender Expertise heraus zu sprechen. Aber es betrifft auf einer ganz basalen Ebene auch unsere Definition davon, was uns überhaupt zu Subjekten macht: Spätestens seit der Aufklärung leben wir mit der Vorstellung, dass das vor allem unsere Autonomie und unsere Rationalität sind. Wenn wir uns aber als soziale und körperliche Wesen verstehen, die darauf angewiesen sind, dass andere mit ihnen in Beziehung treten, dann sind wir eben alles andere als autonom. Das ist eine Abhängigkeit, die man erst einmal ertragen können muss. Insofern kann ich die Abneigung, die manche Kritiker*innen einer offeneren, weniger souveränen Haltung – und vielleicht auch einem offeneren Literaturbegriff – gegenüber haben, durchaus verstehen.

Wenn Kunst schlecht ist, gilt sie automatisch als unfrei.

IW: Mit was für einem Literaturbegriff fühlen Sie sich denn in der Regel konfrontiert?

SK: Mit einem Literaturbegriff, der um Autonomie und Qualität kreist. Autonomie verstanden als Möglichkeit, in einer konkreten Situation ein von dieser Situation unabhängiges Kunstwerk zu schaffen. Mit diesem Verständnis der Kunstproduktion geht dann ein Autonomietransfer auf die Kritiker*innen einher. Dieses Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit ist, denke ich, sehr wichtig für manche Menschen. Und man möchte das ja auch wirklich nicht einfach so wegwerfen. Diese Freiheit ist ein wichtiges Moment von Literatur, besonders für Menschen in Gefangenschaft. Kombiniert mit einem Qualitätsbegriff wurde mir bzw. den „Gedichten aus Guantánamo“ das dann aber von der Kritik um die Ohren gehauen: Eine autonome, freie, in sich geschlossene Literatur soll irgendwie auch „gut“ sein. Das heißt, sie soll formal verdichtet sein, traditionell aber auch transgressiv, kohärent aber auch selbstreflexiv, konsistent aber auch spannungsreich. Eigentlich paradox: Die Kunst ist frei, aber sie ist nur frei, solange sie auch gut ist. Und wenn sie schlecht ist, gilt sie automatisch als unfrei. Autonomie und Qualität sind auch für mich wichtige Kriterien, aber keine absoluten Werte. Eine Literatur, die sich quer zu diesen Kriterien bewegt oder sogar fern von ihnen, kann genauso wichtig sein.

IW: Und „frei“ meint dann frei vom Markt und von bestimmten politischen Machtstrukturen?

SK: Frei vom Markt, frei von Machtstrukturen, frei von ihrer konkreten Herstellungssituation. Auch frei von einer konkreten politischen Agenda. Im Kontext der Guantánamo-Gedichte fiel dieses Wort der „Moralkeule“, bezogen auf mein Nachwort. Eigentlich wurde gesagt: Ich möchte mich nicht moralisch-ethisch positionieren oder vielleicht sogar verhalten müssen, wenn ich diese Literatur lese. Und das finde ich problematisch.

LS: Es gibt von Seiten der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft auf jeden Fall die Sehnsucht nach einer Literatur, die frei ist von jeder lebensweltlichen Nutzbarkeit. Gebrauchsgedichte oder Anlassgedichte werden abgewertet. Das ist, glaube ich, auch ein deutsches Phänomen.

IW: Inwiefern deutsch?

LS: Im Chinesischen beispielsweise gibt es diese Abwertung gar nicht. Lyrik ist in der chinesischen Literaturtradition DIE politische Gattung schlechthin. Ein Gedicht kann dort die Form sein, mit der man auf ein aktuelles Ereignis reagiert, das heißt, es kann sehr positiv konnotiert sein, wenn ein Gedicht partikular, zeit- und situationsgebunden ist. Die Vorstellung einer Autonomieästhetik, für die Universalität und Überzeitlichkeit harte Qualitätskriterien sind, gibt es in der chinesischen Literaturgeschichte so nicht. Und auch in Deutschland ist diese Autonomieästhetik, die mir heute bei vielen Kritiker*innen tonangebend erscheint, ja keine Naturgegebenheit. Sie entstand im 18. Jahrhundert, im Zuge der Aufklärung, und war in diesem Kontext auch eine Abwehrbewegung gegen die Demokratisierung des Lesens, die damals stattfand. Aufgrund zunehmender Alphabetisierung, günstigerer Buchpreise und der Entstehung von Leihbibliotheken bekamen vor allem Frauen und Angehörige der unteren Schichten Zugang zu Büchern. Die Gelehrten dieser Zeit fürchteten um ihr Bildungsmonopol und versuchten, die „Lesewut“ der neuen Leser*innen zu regulieren. So entstand im deutschsprachigen Raum die Unterteilung in E- und U-Literatur. Unterhaltungsliteratur ist dabei oft ganz klar gegendert: Sie ist Literatur für Frauen, weniger wertvoll, nicht wirklich literarisch. E-Literatur hingegen, also Hochliteratur, ist definiert durch ihre Autonomie, durch die Freiheit von ökonomischen und politischen Zwängen, aber auch von jeder lebensweltlichen Nutzbarmachung. Also im Prinzip, wenn man es radikalisieren will: reine Formarbeit.

IW: Das heißt, welche Qualitätskriterien würden Sie vor diesem Hintergrund selbst kritisch sehen?

LS: Ein bestimmtes Verständnis von Literarizität, in dem Texte rein fiktional und möglichst polyvalent, also vielschichtig sein müssen, um als literarisch oder qualitativ zu gelten. Im besten Fall braucht man eine literaturwissenschaftliche Ausbildung, um sie verstehen zu können. Das ist ja auch eine Strategie, mit der sich eine Expert*innenschicht ihre eigene Relevanz sichert und versucht, ihre Privilegien zu verteidigen: zu sagen, man muss professionell ausgebildet sein, um diese Texte lesen und ausdeuten zu können. Dafür steht für mich dieser Literaturbegriff, der gekoppelt ist an die Qualitätskriterien Universalität, Literarizität und Professionalität. Ich würde gar nicht sagen, dass der per se schlecht ist, ich würde nur sagen, es ist einer unter vielen.

IW: Was stört Sie dann?

LS: Dass dieser Literaturbegriff eben nicht als eine von vielen möglichen Definitionen anerkannt wird. Dass es einen Unwillen in der Kritik gibt, zu sehen, dass Komplexität sehr verschiedene Formen annehmen kann, dass es andere Qualitätskriterien für Literatur geben kann als Polyvalenz, also zum Beispiel so etwas wie Wahrhaftigkeit, Authentizität oder die Dringlichkeit eines Anliegens. Diese Kriterien können sich auch mit den klassischeren Literarizitätskriterien mischen, das muss sich gar nicht gegenseitig ausschließen. Aber es braucht eben auch für ihre Wahrnehmung die entsprechenden Rezeptionsfähigkeiten, zum Beispiel einen Zugang zu den Affekten, die ein Text in einem auslöst, und ein Wissen um andere literarische Traditionen. Die darf man nicht einfach ausblenden und so tun, als wäre dieser eine, in einer spezifischen historischen Situation in Deutschland entstandene Literaturbegriff universal.

IW: Vorhin war die Rede von politischen und ethisch-moralischen Dimensionen von Literatur. Wo sehen Sie die Grenzen?

SK: Mit einer im engeren Sinne politischen Literatur sind für mich bestimmte Positionen verbunden. Also im Falle der Guantánamo-Gedichte: Welche Ideen von Gruppenzugehörigkeiten, Heimat oder Demokratie lassen sich in den Gedichten ablesen? Welche Kritik an den USA findet sich in ihnen? Wie werden Gewalterfahrungen, das Weiterleben oder Vergebung in den Gedichten konzipiert? Das heißt, es geht um Haltungen, um Weltanschauungen, um Großvorstellungen, wie man miteinander leben sollte. Die ethische Dimension wäre für mich, dass ich als lesende Person von diesem Text angesprochen werde, der von einer Person stammt, die in einer Notsituation gefangen ist. Das heißt, ich bin in eine Beziehung geworfen, die durch das Medium Text entsteht. Ich muss mich, ohne Regeln an der Hand zu haben, dazu verhalten. Was mache ich mit diesem Kontakt, dem erworbenen Wissen und auch mit meinem Unwissen, das mir durch den Text aufscheint? Die Konsequenzen können ganz klein sein: Ich kann das Gedicht noch einmal lesen oder das Buch weggeben, ich kann Geld spenden oder jemandem davon erzählen und sagen: Ich habe dieses Buch gelesen und habe diese Erfahrung gemacht, und ich weiß gar nicht, was ich jetzt damit machen soll. Das Ethische wäre für mich eine Umgangsweise, die wenig mit Position und mit Inhalten zu tun hat, die im Bereich des Antwortens liegt. Aus dieser Warte ist einen Text zu lesen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken schon etwas sehr Bedeutsames, weil es eine Kontaktaufnahme und Beziehungsstiftung bedeutet.

IW: Spielt für Sie die Unterscheidung von ethisch und politisch eine Rolle in der Betrachtung von Texten, aber auch im Schreiben und im Übersetzen von Texten?

LS: Ich würde meinen ethischen Anspruch als Übersetzerin, aber auch als Kritikerin vor allem als ein Verantwortungsgefühl dem fremden Text gegenüber beschreiben. Damit meine ich einen offenen, wertschätzenden, auch selbstreflexiven Umgang mit der literarischen Arbeit Anderer. Dazu gehört auch, das eigene Unwissen oder die eigene Unsicherheit nicht zu verstecken. Ich finde kaum etwas interessanter als Textformen, die das Suchen, vielleicht auch das Scheitern von Autor*innen, von Übersetzer*innen, von Kritiker*innen aufzeigen. Ich lese das sehr gern, wenn Menschen ihre Suchbewegungen beim Lesen offenlegen.

Wo stört mich etwas, wie reagiert mein Körper auf den Text?

IW: Wie im Journalismus, wird ja auch von der Literaturkritikerin „Objektivität“ und „Rationalität“ gefordert. Noch mal zum Gefühl: Lässt sich das in Ihren Begriff von Kritik integrieren?

LS: Wenn man einen Literaturbegriff hat, für den Affizierung, die unmittelbare körperliche Reaktion auf einen Text, auch ein Unwohlsein, ein Schwitzen, ein Stöhnen, ein Lachen, Teil der Komplexität eines Textes ist, dann muss das natürlich Teil der Analyse sein. Und dann wäre eine Literaturkritik, die Gefühl und körperliche Zustände beim Lesen ausblendet, eine, die dem Text gar nicht gerecht werden kann. Es gibt historische Gründe, die dazu geführt haben, dass der Körper so wenig vorkommt in unserem Rezeptionswerkzeugkoffer, und sie sind eng verbunden mit rassistischen, sexistischen und klassistischen Diskriminierungsgeschichten. Ich würde darum immer für eine Literaturkritik plädieren, die auch fragt: Wie ist meine eigene, vielleicht auch vorsprachliche Reaktion auf diesen Text? Wo stört mich etwas, wie reagiert mein Körper auf den Text? Macht der Text überhaupt etwas mit meinem Körper? Berührt mich das? Das kann ja auf ganz unterschiedliche Arten funktionieren, sowohl inhaltlich, als auch klanglich, durch Rhythmus zum Beispiel.

IW: Ich erinnere mich, dass ich vor Jahren von einem Literaturredakteur gebeten wurde, das „Ich“ aus einem Artikel zu streichen, in dem es um meine Erfahrung als Deutsche in der Belgrader Theaterszene ging. Das „Ich“ sei eitel und lenke vom Gegenstand ab.

LS: Das kann nur jemand sagen, der nicht „Ich“ sagen muss, weil die Gesellschaft permanent für ihn „Ich“ sagt. Also jemand, der so positioniert ist, dass sowieso die ganze Zeit von seiner Position aus gesprochen wird. Da ist es dann auch naheliegend, dass man Ich-Sagen für eitel hält. Aber sobald man abweichend davon positioniert ist, kann es absolut notwendig werden, „Ich“ zu sagen. Und nicht „Ich“ zu sagen kann ja im übrigen auch eine Strategie sein, um davon abzulenken, dass man die eigene, partikulare Position gerade als universell behauptet.

SK: Wenn ich als Herausgeber „Ich“ sage, möchte ich mich nicht in den Vordergrund schreiben. Ich versuche ein „Ich“ zu entwickeln, das nicht um meine Partikularität, meinen Narzissmus oder meinem Wunsch nach sozialem Aufstieg kreist, sondern das konstellative Aspekte in eine Situation einträgt. Zum Beispiel meinen fachlichen Hintergrund, meine Perspektive, meine Privilegien, die Fördergelder, Interessen und Fragen mit denen diese Gedichte hier versammelt wurden. Das „Ich“ wird hier auch zum sekundären Zeugen: Ich bezeuge, dass ich diese Gedichte so und so gelesen habe. Das Ich zeigt, wie die Darstellung kontextualisiert, situiert, in einem gewissen Sinne konstruiert ist. Das Ich steht auch für eine Leseanleitung für einen Text: Von hier aus gesehen, erscheint er in diesem Licht.

LS: Ich möchte gern noch etwas zu dieser Vorstellung von Universalität oder Objektivität in der Literatur ergänzen. Die von Kant stammende Idee, Ästhetik beschreibe einen Bereich des „reinen, uninteressierten Wohlgefallens“ – die ist ja eigentlich spätestens seit Pierre Bourdieus Arbeiten zu ästhetischem Klassismus widerlegt. Wir wissen, dass ein Bereich der „reinen“ Ästhetik nicht existiert, sondern dass er geprägt ist von Klassenzugehörigkeit, von Geschlecht, von Rassifizierung oder von anderen Formen der Erfahrung und der Zuordnung, die wir machen. Umso faszinierender finde ich, dass im literaturkritischen Diskurs bis heute daran festgehalten wird, dass es auf der einen Seite die Ästhetik und auf der anderen Seite die Politik oder die Propaganda oder Agitprop oder das woke Schreiben gibt. Manchmal ist das eine gut, manchmal das andere, aber in jedem Fall ist beides klar voneinander getrennt. Als ob nicht jede Ästhetik auch gefärbt wäre von der gesellschaftlichen Positionierung, die Autor*in und Kritiker*in innehaben. Jedes ästhetische Verfahren macht eine politische Aussage. In einer von Zensur geprägten maoistischen Gesellschaft wie dem China der 70er Jahre etwa war ein rein formales Gedicht zu schreiben der politischste Akt, den man überhaupt vollziehen konnte – er hat einen sofort ins Arbeitslager gebracht.

IW: Es gab ja im Umfeld der Verleihung des Peter-Huchel-Preises an Judith Zander solche Debatten. Ich muss sagen, dass ich eine Schreibweise wie die von Judith Zander als heute marginalisiert empfinde, weil sie auch eine Gegensprache darstellt zu journalistischem und politischem Sprechen, einem Sprechen, dass immer die erkennbare klare Aussage formuliere. Das Verstellen solcher Aussagen und das scheinbar erstmal Hermetische ist für mich eine emanzipatorische Praxis. Und ich würde gar nicht sagen, das verstehen nur Leute, die eine germanistische Ausbildung haben, sondern ich würde sagen, man kann sich drauf einlassen, man kann googeln und auf Spuren kommen. Es ist für mich auch gesellschaftlich wünschenswert, einem Text, der erst einmal verschlossen zu sein scheint, geduldig zu begegnen und darauf zu vertrauen, dass man einen Zugang finden kann, weil das für mich auch die Übersetzung ist für eine Reaktion auch auf gesellschaftliche Situationen. Trotzdem bringt mich, was Sie sagen, ins Nachdenken. Neulich wurde ich wieder einmal nach der auffällig häufigen Nominierung von mehrsprachigen Autor*innen mit migrantischer Familiengeschichte bei Literaturpreisen gefragt. Sehr defensiv habe ich geantwortet, dass Jurys nach rein ästhetischen Kriterien bei der Auswahl von Texten vorgehen. Was wäre eine Rektion gewesen, die diesen Rückzug aufs Ästhetische unterläuft, andererseits deutlich macht: Es sind Autor*innen, denen das Schreiben wichtig ist.

LS: Was man natürlich machen kann, ist, diese Frage, die ja von einer Norm der Einsprachigkeit und des Nicht-Migrantischen ausgeht, umzudrehen. Einsprachigkeit stellt in Deutschland historisch gesehen eine ziemlich kurze Ausnahme dar. Bis ins 19. Jahrhundert hinein sind unterschiedliche Sprachen und Dialekte gesprochen worden im sogenannten deutschsprachigen Raum. Es war vollkommen normal, dass Menschen mehrsprachig waren, Sprachen gemischt und für verschiedene Kontexte unterschiedliche Sprachen verwendet haben. Die Linguistin Yasemin Yildiz belegt in ihrem Buch „Beyond the Mother Tongue“ sehr eindrücklich, dass Einsprachigkeit mit viel politischer Mühe durchgesetzt werden musste und an ein explizit nationalistisches Projekt gebunden war: das Projekt der Staatsbildung Deutschlands. Man könnte also umgekehrt auch fragen: Warum waren denn in den Jahren zuvor eigentlich alle Autor*innen bei den Literaturpreisen einsprachig, ist das nicht sehr seltsam in einem Land, dessen Geschichte und Gegenwart so sehr von Mehrsprachigkeit geprägt sind?

Was den Begriff des Ästhetischen angeht, so fürchte ich, dass der möglicherweise verloren ist, zumindest für den Moment. Der Diskurs ist so verfahren gerade, in der Gegenüberstellung von diesen vermeintlich dichotomen Gegensätzen „Ästhetik“ und „Politik“. Vielleicht muss man einfach aufhören, von Ästhetik zu sprechen. Vielleicht wäre auch eine Antwort, zu sagen: Wir wählen Texte aus, die uns interessieren, die uns überraschen, die uns angehen.

SK: Für mich ist das Ästhetische wichtig als Kategorie in seiner Prekarität. Weil man da nochmal eine Sphäre hat, auch wenn es vielleicht nicht ganz stimmt, von der man sagen kann: Hier gelten andere Regeln, hier ist ein anderer Schauplatz, hier ist eine andere Verteilung von Macht. Hier ist nicht zuerst Politik, hier ist nicht zuerst Erkenntnis, sondern hier ist dieser Raum, der irgendwie anders funktioniert. Es gibt Streit darum, wo seine Grenzen sind, aber hier haben wir die Möglichkeit, andere Erfahrungen zu machen, uns anders zu begegnen, anders zu lesen, anders miteinander zu spielen, ohne dass die Regeln letztlich geklärt wären. Für mich pluralisiert dieses Ästhetische den Machtraum und die Handlungsmöglichkeiten.

LS: Ich würde das dann vielleicht eher als das Literarische bezeichnen – und in dem Zusammenhang finde ich es sehr eindrücklich, dass die „Gedichte aus Guantánamo“ oft gar nicht als Gedichte ernst genommen wurden in der Rezeption. Dabei war es offensichtlich notwendig, genau diese künstlerische Form zu wählen, um von den dort gemachten Erfahrungen schreiben zu können. Die Gefangenen hätten auch Essays schreiben können oder Erfahrungsberichte, aber sie haben sich entschieden, Gedichte zu schreiben. Das gilt es doch, ernst zu nehmen. Literatur bzw. Lyrik ermöglicht es offenbar, Dinge mitzuteilen, an denen andere Formen von Sprache scheitern. Das ist dann vielleicht auch wieder ein guter Literaturbegriff: ein Raum, der ein anderes Sprechen, andere Zugänge zu Erfahrung und Erfahrungsverarbeitung, ermöglicht.

IW: Wie haben Sie selbst diese Gedichte denn gelesen? Es ist ja auch widersprüchlich, dass sie als „schlecht“ wahrgenommen werden und gleichzeitig offenbar große Wirkung haben.

SK: Ich habe erstmal gestaunt, dass es diese Gedichte gibt. Und das obwohl wir aus der Geschichte wissen, dass Menschen in existenziellen Notsituationen in der Lage sind und den Drang haben Gedichte zu schreiben. Das heißt, ich habe die Gedichte einerseits mit einem großen Interesse daran gelesen, zu verstehen, was es heißt, ein bedrohtes Leben zu führen. Das ist meine kulturwissenschaftliche, aber auch meine lebenspraktische Frage an die Texte. Diese Autoren haben eine Erfahrung gemacht, die wissen etwas darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein und eine Erfahrung von Sterblichkeit und Leiden zu machen. Sie wissen auch, was es heißt, das dann in eine so kulturalisierte Form zu bringen. In dem Sinne ist die Lektüre auch gar nicht ein menschrechtsaktivistischer Gestus, in der Hinsicht, dass ich aus meiner privilegierten Position großzügig etwas für die Autoren tue. Nein, da ist ein Wissensvorsprung, den ich nicht habe, und der für mich aber relevant ist und der für uns als Gesellschaft relevant ist. Wir können etwas von diesen Gedichten lernen. Und andererseits entscheidet man sowas auch nicht, man ist getroffen und kann das in guten Moment zulassen, ohne es verdrängen zu müssen.

IW: Ich verstehe dabei schon die Frage, inwieweit Menschen, die keine Erfahrung mit dem Schreiben haben, in der Lage sind, Folter, seelisches und physisches Leid in Sprache zu übersetzen. Ich verstehe auch, dass bemerkt wird, dass die Mittel überwiegend recht einfach sind. Allerdings kann man ja, so wie einige Kolleg*innen es auch getan haben, diese Mittel beschreiben und zurückführen auf Formen wie das Gebet. Sofort wird eine andere Einordnung der Texte möglich. Damit kann man ja als Literaturkritikerin was anfangen, ohne sagen zu müssen, das sind schlechte Texte, weil sie schlichte Mittel benutzen.

Lyrik geht an einer Stelle ins Radikale, an der Prosa das nicht tut und nicht tun kann.

LS: Ich muss dabei an einen Satz aus Mark Yakich’s tollem Buch „Poetry: A Suvivor‘s Guide“ denken. Er schreibt da sinngemäß: Wenn Du wirklich gar nichts mehr hast – wenn Du so krank oder so alt oder so pflegebedürftig oder in deinem körperlichen Zustand so prekarisiert bist wie die Gefangenen in Guantánamo – die Gedichte, die du auswendig weißt, werden auch in dieser extremen Situation bei dir bleiben. Als ich von Sebastians Projekt gehört habe, fand ich es darum sofort absolut einleuchtend, dass es gerade Gedichte sind, die in Guantánamo geschrieben wurden. Weil Gedichte auch einen oralen Ursprung haben, einen Lied-Ursprung, weil sie mit Wiederholungen, mit Refrain, mit Reim arbeiten, also sehr nah am Körper gebaut sind, können sie etwas sein, was du hast, wenn du sonst gar nichts mehr hast. Das ist auch einer der Gründe, warum Lyrik mich interessiert, als Form. Ich finde, sie geht an einer Stelle ins Radikale, an der Prosa das nicht tut und nicht tun kann.

IW: Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit einer chinesischen Lyrikerin beschäftigt, der auch fehlende Literarizität vorgeworfen wurde. Wie ordnen Sie diesen Fall ein?

LS: Das ist Yu Xiuhua, deren Texte häufig ausschließlich als Zeugnisliteratur einer Landarbeiterin mit körperlicher Behinderung gelesen werden und denen von der Literaturkritik immer wieder vorgeworfen wird, sie seien eigentlich gar keine Gedichte, weil sie „zu einfach“ seien. Wenn man sich aber mal dran setzt an die Texte, dann findet man darin einerseits eine Dringlichkeit und Intensität, die aus einer verkörperlichten Erkenntnis entstehen. Audre Lorde bezeichnet diese Art von tiefer, aus lebenspraktischer Erfahrung stammender Erkenntnis in ihrem berühmten Essay „Poetry is not a Luxury“ als „insight“, als „Einsicht“ – und diese wiederum als Qualitätskriterium für ein gutes Gedicht. In Sebastians Terminologie wäre sie vielleicht eher ein „Erfahrungsvorsprung“, der zur Sprache kommen will, ein spezifisches Wissen darüber, was es heißt, Mensch zu sein, verwundbar zu sein, sich durch die Welt zu bewegen. Andererseits verwendet Yu Xiuhua aber auch viele klassische literarische Formen: Metaphern, Wiederholungen, Klanglichkeit. Ich glaube, es gibt eine Tendenz, diese formale Arbeit zu übersehen, sobald in einem Text Autobiographie oder Inhalt sehr stark werden. Man tendiert dann sehr schnell dazu, zu sagen: Ahja, hier gibt es ein klares Anliegen, dann passiert da formal sicher nicht so viel. Aber es gibt auch viele Formtraditionen, die durchaus mit klaren Anliegen einhergehen und an die solche Texte anschließen. Also, zum Beispiel wie bei den Guantánamo Poems das Gebet, oder das Lied, oder auch Hip Hop und Spoken Word Poetry.

IW: Ich würde gern mal nach Ihrer Kategorie der Verletzbarkeit fragen. Wie gehen Sie mit dem Unterschied um, zwischen einer performten und einer nicht-performten Verletzbarkeit im Gedicht? Ich meine den Unterschied zwischen einer ästhetischen Strategie und einer Erfahrung, einem Zeugnis wie es mit den Guantánamo-Gedichten vorliegt.

LS: In der politischen Philosophie gibt es eine ganze Forschungsrichtung, die Vulnerability Studies, die sich der Verletzbarkeit widmen und sie als einen grundlegend menschlichen Zustand beschreiben. Theoretiker*innen wie Judith Butler würden sagen: Menschliche Subjekte sind gerade nicht durch Rationalität und Souveränität definiert, sondern durch die grundlegende Verletzbarkeit, die daraus entsteht, dass alle Menschen soziale und körperliche Wesen und also solche immer auf die Sorge und Aufmerksamkeit Anderer angewiesen sind. In gewaltvollen Ausnahmesituationen, wie Guantánamo eine ist, wird diese Verletzbarkeit besonders akut sichtbar, aber eigentlich ist sie ein Merkmal, das alle Menschen betrifft und definiert.

Das besonders intensive Wissen darum, das in den Guantánamo-Gedichten steckt, ist literarisch sicher etwas anderes, eine andere Form, auch ein anderes Thema als die queerfeministischen Ansätze, die ich mir angeschaut habe. Die arbeiten mit einer ganz speziell situierten Verletzbarkeit, nämlich einer, die an der Zuordnung als „weiblich“ hängt, und an der Abwertung, die mit dieser Zuordnung einhergeht. Die Texte, die ich in meiner Dissertation untersucht habe, nehmen sich genau diese Zuordnung vor und performen ihre negativen Attribute selbstbestimmt, in überzogener Form, geradezu aggressiv. Ihre Autorinnen gehen voll in die Klischees von Weiblichkeit hinein, nach dem Motto: Wenn ich als Autorin sowieso immer nur als Frau gelesen werde, mit allen negativen Zuschreibungen, die daran hängen, dann kann ich auch aufhören, zu beweisen, ich könne genauso oder genauso gut schreiben wie ein „Mann“. Stattdessen performen sie absichtlich all das, was ihren Texten später sowieso vorgeworfen werden wird: Kitsch, Naivität, Überemotionalität, Anhänglichkeit, und so weiter.

Beide Formen der Literatur arbeiten mit Verletzbarkeit, aber es sind verschiedene Arten von Literatur und verschiedene Strategien.

IW: Wobei ich Ihre Argumentation in der Dissertation so verstanden habe, dass es schon eine authentische Erfahrung gibt, dass sie aber in der Umsetzung im Gedicht für die Rezipient*innen in eine Unsicherheit gebracht wird.

LS: Genau, durch ihre krasse Überzeichnung. Der Ausgangspunkt dieser Autor*innen ist, dass ihre Texte sowieso immer autobiographisch gelesen werden, während die von weißen, männlichen cis Autoren als universale Aussagen betrachtet werden, und deswegen arbeiten sie mit dieser Zuschreibung. Das Spiel ist kein freies Spiel, weil sie auf etwas reagieren, was ihnen schon von außen zugetragen wird.

SK: Strategie ist für die Autoren der Guantánamo-Gedichte sogar sehr wichtig, in einem ganz praktischen Sinn. Sie mussten sich immer die Frage stellen, wie sie die Texte schützen oder in Gefahr auch vernichten können. Sie haben Gedichte in Becher gekratzt und einander geschenkt, die Becher aber auch selbst die Toilette heruntergespült, wenn Wärter*innen kamen. Es gibt ein essentielles Moment von Strategie bei der Herstellung von Öffentlichkeit, weil die Autoren und ihre Texte entrechtet und straflos verletzbar waren. Zu dieser Strategie gehört letztlich auch die Hoffnung auf Leser*innen, die sich Zeit nehmen für sorgfältige, rekontextualisierende Lektüren und die im Wortsinne schwachen Spuren wieder entziffern. Und da wäre man eben auch wieder bei der Aufgabe von Kritik, ein besonders sensibles Pendel zu sein, das besonders schnell ausschlägt oder besonders feinsinnig auf Spuren achtet, die sonst übersehen werden könnten.

Darf man als Kritikerin nicht in Beziehung zu einem Text treten?

IW: Sie sprechen ja sogar von Zeugenschaftsbeziehung zwischen Autor*innen, Text, Leser*innnen. Als Leser*in kann ich es mir leisten, in eine Zeugenschaftsbeziehung zu einem Text zu treten. Ich finde die Frage berechtigt, ob die analysierende Kritikerin auch in eine Zeugenschaftsbeziehung eintreten darf.

LS: Man tut es ja sowieso. In dem Moment, in dem man den Text liest, ist diese Beziehung ja da. Diese Fiktion von Objektivität aufrecht zu halten, finde ich problematisch. Die Frage müsste genau umgekehrt lauten: Darf man als Kritikerin nicht in Beziehung zu einem Text treten?

IW: Wobei Zeugenschaftsbeziehung ja noch einmal etwas Spezifisches ist, weil ich ja als Zeugin verpflichtet bin zu berichten, was ich gesehen habe. Ich muss eigene Bewertungen raushalten, und das sehe ich schon als Konflikt eines Teils der Aufgabe einer Kritikerin. Die Frage ist nur, ob es rauszuhalten ist aus der Kritik oder ob es ein Element ist, mit dem man dann auch arbeiten kann, ohne dass einem vorgeworfen wird, Partei geworden zu sein.

LS: Das war ja auch genau das Unwohlsein, das einige Kritiker dem Buch gegenüber geäußert haben – das Gefühl: Ja, da kann ich jetzt gar nichts zu sagen, denn das ist ja eh schon moralisch gut.

SK: In der Wissenschaft habe ich ja ein ähnliches Problem. Ich bin zur Objektivität verpflichtet, und ich muss meine Verfahren transparent machen. Gerade wenn ich ein zeitgeschichtliches Projekt habe, dann muss ich meine Quellen transparent angeben, sauber analysieren und so weiter. Ich würde sagen, es bleiben heterogene Schreibformen und Situierungsformen, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kritik. Und ich glaube, dass unterschiedliche, inkompatible Ansprüche an einen gestellt werden, macht die Schwierigkeit aus, aber auch die Produktivität dieser Gattungen. Ich habe für mich diese Antwort gefunden: Die Gefangenen können und müssen Zeugnis ablegen. Das ist nichts, was sie sich ausgesucht haben, sondern etwas, das Machteffekt ihrer Entrechtung ist. Weil die Gefangenen keine Dritten als Zeugen aufrufen können, weil sie keine Beweismittel versammeln können, weil sie keinen fairen Prozess gehabt haben, weil sie von US-Militärs und Geheimdiensten weggesperrt und zensiert werden und so weiter, sind sie auf diese Form des Zeugnisses zurückgeworfen, der ich erstmal nur Glauben schenken kann. Und weil sie kein anderes Mittel haben, ist diese Glaubens- und Vertrauensbeziehung gerechtfertigt und es muss eine Art Vertrauensvorschuss geben. Danach kann ich mich natürlich in einem zweiten Schritt in ein kritisches Verhältnis setzen. Also, ich kann fragen, wie ist es formal gemacht, was sind die literarischen Mittel, woher weiß ich überhaupt, was ich weiß, wenn ich diese Texte gelesen habe? Wie verhält sich der Text zu anderen historischen Dokumenten? Einen ähnlich vielgliedrigen Prozess würde ich mir auch von der Kritik wünschen. Und ich muss ehrlich sagen: Im Angesicht des universellen Folterverbots ist mir Unparteilichkeit suspekt, ich nehme da Partei. Trotzdem darf man die eigenen Interessen an die Texte herantragen: In der Frage nach bestimmten Traditionen, Gestaltungsmerkmalen, anregenden oder irritierenden Formelemente. Man kann doch auch die Heterogenität des eigenen Zugangs zulassen.

IW: Ich habe mehrfach erlebt, dass Kolleg*innen angesichts von scheinbar autobiographischen Texten sagen, sie haben Respekt vor der Erfahrung, die der Text bezeugt, aber literaturkritisch betrachten können sie ihn nicht. Das ist interessant, weil es ja den Autor*innen die Souveränität abspricht, zu sagen, ich gestalte einen Text und stellen ihn der Öffentlichkeit zur Verfügung. Wie sehen Sie das? Ist die Literaturkritik angesichts von Dokumentarischem, Zeugnissen, Autobiographischem, Authentischem, zum Schweigen verpflichtet? Sind Hemmungen berechtigt?

LS: Der Begriff des Memoir, den es im englischsprachigen Raum gibt, hat sich in Deutschland leider bisher noch nicht wirklich durchgesetzt. Auch das Genre der Literary Nonfiction, der nicht-fiktionalen Literatur, scheint im deutschen Literarturbetrieb nach wie vor kaum vorstellbar zu sein: Auf einem Buch muss immer entweder Roman oder Sachbuch stehen. Viele spannende Autor*innen, deren Essaybände beispielsweise in den USA als Belletristik verkauft werden, landen als deutsche Übersetzung im Sachbuchregal, weil Literatur bei uns immer noch gleichbedeutend ist mit Fiktionalität. Was ja auch einen Schutzschild bildet, sowohl für die Kritikerin als auch für die Autorin: das kann jetzt hier nicht zu persönlich werden, denn das ist ausgedacht. Dabei zeigt die Literaturkritik in anderen Sprachen und Ländern, beispielsweise eben im Englischen, dass man sehr gut über nicht-fiktionale Texte sprechen kann, in denen das Autobiographische stark ist. Man beurteilt ja dabei nicht die Erfahrung der Autorin, sondern nähert sich dem Text, der aus dieser Erfahrung entstanden ist – und der eigenen Berührung durch diese Text gewordene Erfahrung.

Ich verstehe nicht, woher diese Fetischisierung des Verreißens herkommt.

SK: Ich habe mich nie gefragt, ob die Gedichte gut oder schlecht sind. Ich habe mich auch nie gefragt, ob die Mittel einfach oder komplex sind. Bei den Cahiers de Cinema gab es die Regel, die Person rezensiert den Film, die den Film am besten fand. Das hat mir immer als ein Verfahren eingeleuchtet, und andererseits würde ich sagen, wenn man denkt, ein Text der von einer extremen biographischen Leiderfahrung erzählt, ist wirklich schlecht und hätte nicht so geschrieben werden sollen, dann kann man auch dazu stehen. Aber dann muss man eben auch damit leben, dass man sich selber ebenfalls angreifbar macht. Ich würde wirklich nochmal die Frage stellen, woher kommt das Begehren zu urteilen und warum sind andere Interessen an den Texten nicht stärker als das? Die Texte sind doch so reich an Erfahrungen, Appellen und ästhetischen Formspielen, man kann sich doch immer auf die Momente konzentrieren, die besonders produktiv für einen sind und so ein bisschen großzügig sein. Ich verstehe nicht, woher diese Fetischisierung des Verreißens herkommt. Vielleicht könnte man da einen Shift zu einem mehr reparativen Moment suchen.

LS: Reparative Literaturkritik finde ich einen tollen Begriff. Ich würde mir überhaupt einen Ansatz wünschen, der, wenn er in einem Text etwas nicht versteht oder generell nichts entdecken kann, erstmal davon ausgeht, dass es einem selber an Wissen, Kontext oder Interpretationsfähigkeiten fehlt. Ich würde mich jedem Text erstmal mit Demut nähern. Egal, ob ich „nur“ Leserin oder Kritikerin bin. Die Grundannahme muss sein: Dieser Text könnte etwas enthalten, das ich nicht kenne und für das mir vielleicht sogar (noch) die Fähigkeit fehlt, zu sehen, was es ist.

IW: Wobei es ja sehr produktiv ist, wenn man am Text argumentierend auch seinen Mangel formuliert. Den muss man aber eben durch die Beschreibung des Textes zuspitzen und nicht, indem man die Fähigkeiten der Person, die ihn geschrieben hat, in die Mangel nimmt. Ich glaube, das ist immer der Trick, dass man viel schreiben kann und auch viel Negatives schreiben kann, wenn man es begründet am Text, weil damit ja auch offen liegt, was man gelesen und was man nicht gelesen hat.

LS: Das stimmt; ich würde diese Demut auch nur als eine erste, wenn auch grundlegende Haltung beim Aufeinandertreffen mit einem Text sehen. Nur aus der Demut eine Rezension zu schreiben, das würde nicht reichen, auch nicht spannend sein. Aber sich erstmal selber zu verdächtigen und nicht den Text, das ist, glaube ich, eine gute Ausgangsposition. Immerhin gibt es wesentlich mehr formale und ästhetische Mittel, literarische Traditionen und Definitionen von Literatur, als eine einzelne Kritikerin kennen kann – und wenn man diesen Anspruch des Großkritikers aufgibt, muss man das ja auch gar nicht, sondern darf andere um Hilfe fragen, suchen, die eigenen Unsicherheiten als produktiv und aussagekräftig verstehen.

IW: Also am Ende eine Art Punkteprogramm für Literaturkritik? Erstens: Reflektiere dich selbst in deiner Perspektive und Position. Zweitens: Bedenke, dass der literarische Raum ein pluraler ist. Drittens: Habe keine Angst davor, einige dieser Richtungen nicht zu kennen und dich zu irren. Vor allem: Habe keine Angst.

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„Hoffentlich ist es dann nicht zu spät“ – Ein Stolpertext

von Victor Sattler

Im Exil könnten sie wieder vereint sein, hofften die zwei jüdischen Männer. Was sich Robert Bachrach und Leo Hochner zwischen 1938 und 1944 schrieben, wissen wir nicht im Detail. Ihre Beziehung ließ sich für diesen Text nur auf Umwegen und über Angehörige rekonstruieren.

Für die ‚Stolpertexte‘ arbeiten Autor*innen mit dem Leo Baeck Institut zusammen, das die Nachlasse deutschsprachiger Jüdinnen und Juden bewahrt. Die Briefe von Robert Bachrach an die Feitlers und die Briefe von Leo Hochner an die Feitlers werden hier im Original zitiert, manche Passagen sind leicht gekürzt. Das fiktive Gespräch der Familie Feitler basiert lose auf Briefen und Airgraph-Nachrichten.

1     New York

Das Telefon der Feitlers klingelte seit Roberts Tod „ohne Unterlass“, heißt es in einem Brief aus dem April 1944. Sagen wir, es klingelte alle zehn oder fünfzehn Minuten von Neuem. Es hielt Loni also mit Sicherheit davon ab, zumindest tagsüber ein paar Stunden zu schlafen, nachdem sie die letzte Nacht hindurch wachgelegen hatte. Sie war eine ältere Dame, war erst kürzlich Großmutter geworden und konnte die Aufregung nicht gut vertragen. Sobald der Anrufer seine wahren Beweggründe zu erkennen gab, musste Loni ihn abwimmeln. Sie hängte geräuschvoll den Hörer auf. „Diese Klatschmäuler“, sagte sie, „lassen nichts unversucht. Das einzig Gute ist, dass Robert diesen Skandal um seine Person nicht mehr erleben muss.“

Ihr Ehemann Paul nickte traurig. Er saß auf dem Fußboden bei Cathy, der kleinen Enkelin. Paul bot sich während des Kriegs so oft wie möglich als Babysitter an, um Cathys Eltern zu entlasten. Das war von Paul nicht ganz uneigennützig, denn er fand die Zeit mit seiner Enkelin so tröstlich. Er hatte Robert einmal als seinen „besten Freund in New York“ bezeichnet und sich nie an dessen Homosexualität gestört. Nun waren die Feitlers so etwas wie Roberts einzige Hinterbliebene; bei ihnen meldeten sich alle Leute, die unter Schock standen und nach der Todesursache fragen wollten, weil sie es sich nicht erklären konnten.

Trotz des Dauerklingelns waren die Feitlers sehr hellhörig für den Aufzug in ihrem Wohnhaus. Um vier Uhr nachmittags kam ihre Tochter Elisabeth Gay, nun waren alle drei Generationen versammelt. Elisabeth trug einen Regenmantel und -schirm, sie war bei typischem Aprilwetter einmal quer durch den Central Park gelaufen. An der 104. Straße befand sich die Wohnung der Feitlers mit Parkblick. Hier hatten sie sich nach ihrer Flucht aus Wien ein neues Leben aufgebaut.

Loni kochte als erstes einen starken Kaffee, und Paul berichtete von den gemeinsamen Stunden mit Cathy, um die Stimmung zu heben. „Sie war heute wieder so lustig und fröhlich, sie macht ihrem Nachnamen Gay wirklich alle Ehre“, lobte Paul. „Dann wollen wir dafür sorgen, dass es so bleibt“, sagte Elisabeth. Mit ihrer Tochter auf dem Schoß hatte sie zwei Hände frei, die sie ihr auf die Ohren legen konnte, wenn das Gespräch auf Robert kam. Cathy reagierte mittlerweile auf jede Erwähnung seines Namens mit einer neugierigen Kopfbewegung. Sie konnte sich später als erwachsene Frau daran erinnern, wie oft Roberts Name in ihrer Familie fiel und was er jedes Mal auslöste.

Vor ein paar Wochen, als Elisabeth ihm zum letzten Mal begegnet war, hatte er noch einen gesunden Eindruck auf sie gemacht. Auf dem Totenschein war von einer diffusen Herz-Nieren-Erkrankung die Rede. Davon hatte er ihnen nie etwas erzählt. Vielleicht war es sehr plötzlich geschehen, dachte Elisabeth. Er war Jahrgang 1879, das heißt, er wäre im November dieses Jahres erst 65 geworden, und 65 war doch kein Alter.

Ihre Eltern schwiegen eine Zeitlang. „Wir haben uns in den letzten Wochen schon manchmal Sorgen um Robert gemacht“, sagte Loni schließlich, „ich wünschte, wir wären diesem Instinkt stärker nachgegangen.“ Sie stand auf, mit einer großen Last auf ihren Schultern, um etwas aus ihrem Schlafzimmer zu holen. Sie brachte ein Kuvert, auf dem eindeutig Roberts Handschrift zu erkennen war.

Elisabeth war eine leidenschaftliche Autorin. Wenn sie keinen Brief zu beantworten hatte, schrieb sie Essays und Kurzgeschichten, die ausdrücklich für die Nachwelt bestimmt waren. Fast immer ging es darin um reale Personen, meistens um solche, die ihr persönlich nahestanden. Elisabeth kannte die genauen Lebensumstände vieler jüdischer Familien im amerikanischen Exil, sie erkundigte sich bei allen nach ihrem Wohlergehen. So entging ihr nichts, kein Klatsch und keine lebensverändernden Umbrüche. Da Elisabeth den engsten Briefkontakt zu Robert gepflegt hatte, konnte sie sich jetzt kaum vorstellen, dass Loni ihr etwas Neues über ihn eröffnen könnte.

2     Zwischen Wien, Budapest, London, New York

Am Anfang hatten sich Loni und Paul Feitler mit Dr. Robert Bachrach angefreundet. Er gehörte ihrer Generation an, nicht Elisabeths. Er arbeitete als Urologe und Chirurg im 8. Bezirk von Wien, war 1,70 Meter groß, mit blauen Augen und braunen Haaren, war fleißig und hatte eine förmliche Ausdrucksweise. Obwohl er mit Loni und Paul all die Jahre per ‚Sie‘ blieb, fand er in den Feitlers eine Wahlfamilie, die ihn akzeptierte: Hier war eine jüdische Familie, die in ihrer Einstellung bereits so großzügig und modern war, und das zu einer Zeit der allgemeinen Ächtung von Homosexualität in Europa. Im Herbst 1938, ein halbes Jahr nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, schrieb Robert wieder einen Brief aus Wien nach New York. Er schilderte, wie sehr seine Zukunftspläne sich jetzt in der Schwebe befanden.

Robert schrieb: »Nach den letzten Entscheidungen gehöre ich zu den Ärzten, denen die Behandlung von nicht-arischen Patienten bewilligt wurde; ob man mir dazu gratulieren kann, wird sich erst herausstellen. Jedenfalls bin ich nicht zum absoluten Nichtstun verurteilt und wäre sonst gezwungen gewesen, anderenfalls meine Emigration vorzeitig zu forcieren, was heute ja fast nicht möglich ist.«

In jedem Halbsatz steckte ein anderer Zwang. Roberts Kundschaft war zwar drastisch verkleinert, aber ein Rest an Struktur und Sinn blieb ihm erhalten. Er schien zwiegespalten darüber zu sein, dass er das fast-nicht-Mögliche vorerst noch nicht versuchen müsste. Da die Feitlers zu dieser Zeit bereits emigriert waren, sorgten sie sich um jüdische Freundinnen und Freunde, die in Wien geblieben waren. Bald pflegte Robert vor allem eine Brieffreundschaft zur jungen Elisabeth, schickte ihr Bücher und Bilder über den Atlantik:

Robert schrieb: »Mein liebes Mädi (Fräulein Elisabeth)! Ich glaube, wir schaffen das Mädi ab, weil Du schon zu erwachsen dazu bist. Es lässt sich denken, dass Du mit Briefeschreiben ebenso viel zu tun hast wie ich, weil wir doch alle die Hälfte unseres Daseins mit dieser Erinnerungsarbeit zubringen.«

Elisabeth bildete den Knotenpunkt eines ganzen Netzes an Brieffreundschaften. Zum Beispiel unterhielt sie auch einen regen Kontakt zu dem Wiener Architekten namens Leo Hochner, der 1938 nach Budapest geflohen war und mit dem Robert bestens vertraut war. Fast hätte Elisabeth beim Beantworten ihrer Briefe durcheinanderkommen können, denn jeder Brief von Leo aus Budapest begann Monat für Monat mit der gleichen Anrede wie Roberts Briefe aus Wien: Mein liebes Mädi. Ob die beiden Männer wohl voneinander wussten, dass sie Elisabeth auf die gleiche Weise ansprachen?

Leo schrieb: »Mein liebes Mädi! Ich erhielt heute einen sehr ausführlichen und lieben Brief von Mutti, auf den ich morgen antworten will. Dir will ich heute nur für Deine Einladung zu der amerikanischen Ice-Cream herzlichst danken, in der Hoffnung, in nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit zu haben, dieser Einladung auch Folge leisten zu können. Ich freue mich unendlich über den heiteren Ton in Deinen Mitteilungen und schliesse daraus, dass Dir der Aufenthalt in der neuen Heimat nicht so schwer fällt wie den vielen anderen Leidens- und Schicksalsgenossen.

Der einzige Lichtblick war vorgestern die Mitteilung von Robert, dass er endlich nach vielen nervenaufreibenden Wochen seinen Auswanderer-Pass erhalten hat und somit die Möglichkeit besitzt, in kurzer Zeit das Land zu verlassen. Dass man ihm sein ganzes Vermögen abgenommen hat und er als Bettler hinausgeht, müsste ich eigentlich gar nicht erwähnen, denn das ist ja die Regel. Er geht über die Schweiz, wo ich ihn hoffentlich treffen werde, nach England, wohin er zunächst ein dreimonatliches, aber verlängerbares Permit hat. In der Zwischenzeit hofft er, die Einreise nach Kalifornien zu erhalten. Du kannst Dir vorstellen, dass mir diese Perspektive auch nicht als das Ideal meiner Lebensziele und Wünsche erscheint, aber man wird jetzt von den täglichen Sorgen so in Anspruch genommen und zermürbt, dass man die Spannkraft verliert, sich auf so lange Sicht Vorstellungen von der Zukunft zu machen.«

Die Spannkraft verlieren, so nannte Leo es. Er musste wohl selber gemerkt haben, wie verändert er war. Es war schwer zu sagen, welche Lebensziele und Wünsche er hatte, die nun in weite Ferne gerückt waren. Er war eigentlich ein leichtherziger Charakter, fast wollte man ihn sogar als leichtlebig bezeichnen; jedenfalls viel leichter als Robert. Vor seiner Flucht aus Wien hatte er reinrassige Dackel gezüchtet, von denen er nur zwei Welpen mit nach Budapest bringen konnte. Zu ihrem 12. Geburtstag hatte er Elisabeth ein Dackelweibchen mit einem langen adligen Namen geschenkt und ihr erlaubt, es einfach nur kurz „Mirli“ zu rufen. Diese Anekdoten würde Elisabeth später immer wieder haargenau so erzählen, bis ins kleinste Detail. Alle Geschichten aus der Zeit vor ihrer Flucht waren wie geronnen.

Wenn Leo zu den Feitlers nach Hause kam, war Mirli ihm ein willkommener Vorwand. Dass er keine eigenen Kinder hatte, schien er manchmal sehr zu bereuen. Elisabeth erkannte das und wusste seine Freundschaft genau in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie nannte Leo ihren Wahlonkel und ein wandelndes Lexikon, weil er so bewandert war. Sein Weltwissen war gar nicht trocken. Legendär war zum Beispiel dieser eine unvergessene Sommertag, als Elisabeths Mutter Loni aus ihrem Roman aufsah und in die Runde fragte, was man sich denn unter einem „Bauchtanz“ vorzustellen habe. Leo stand auf und machte es ihnen vor. Das beschrieb Elisabeth in ihrem Tagebuch. Er war ein außergewöhnlich guter Tänzer, schrieb sie. In Budapest konnte er zum Glück in der Textilfabrik seines Bruders Artúr Hochner arbeiten, auf der Szentendrei-Straße im 3. Bezirk.

Währenddessen war es Robert gelungen, über die Schweiz nach England zu kommen, um in London seine nächsten Schritte zu planen. Er verschickte nun Briefe in beide Richtungen seines Weges: in eine mögliche Zukunft in den USA und in seine Vergangenheit auf dem europäischen Festland.

Robert schrieb: »Von Leo habe ich ziemlich regelmäßig Nachricht. Es ist die einzige Verbindungsmöglichkeit mit meinen Schwestern und mir auch deshalb so wichtig; er schreibt ganz regelmäßig, Du kannst dir vorstellen, was das für ihn für ein Opfer sein muss. Stehst Du wieder mit ihm in Verbindung?« 

Und Leo schrieb: »Der Eindruck, den Du aus Roberts Brief gewonnen hast, dass er ständig in England zu bleiben gedenkt, ist nicht ganz richtig, denn ich habe ihm in meinen letzten Briefen schon geschrieben, dass ich es für besser halte, wenn er die Möglichkeit, nach U.S.A. zu kommen, nicht ungenützt lässt. Ich komme leider langsam selbst zu der Überzeugung, dass es in Europa fast unmöglich ist, sich eine neue Existenz zu gründen, wenn man einmal gewaltsam entwurzelt wurde. Was mich bisher abgehalten hat, mich intensiver mit dem Gedanken an die U.S.A. zu befassen, ist die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist und ich das Gefühl habe, dass meine Anwesenheit für alle notwendig ist, so dass der, an den ich zuletzt denken darf, ich selbst sein werde. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.«

Das war ein bemerkenswerter Brief von Leo. Er korrigierte Elisabeths Interpretation von Roberts letzten Briefen. Er legte Rechenschaft über all die Verstrickungen der letzten Monate ab. Elisabeth blieb an einer Stelle hängen, die sie sich unterstrich:

»die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist«

Dieser beiläufige Nebensatz war im Singular abgefasst. Es war keine Aufzählung all derer, die noch in Europa waren. Leo zählte Robert zu seiner Familie. Einst enge Vertraute in Wien, die durch Leos Emigration getrennt worden waren, standen die zwei Männer nach all dieser Zeit noch immer in Kontakt und nahmen starken Einfluss auf den Weg des jeweils anderen:

Leo gestand: »Ich habe immer Robert zugeredet, die Verwirklichung seiner Überseepläne zu verschieben. Ich halte aber selbst im Falle einer baldigen Beendigung des Krieges die Situation in Europa für wenig aussichtsreich und es ist sehr leicht möglich, dass ich in Verfolgung dieses Gedankenganges mich auch selbst nach U.S.A. orientieren werde.«

Nun war Robert dazu angehalten, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Leos Stimme in seinem Ohr hatte ihre Meinung geändert. Aus dem Zuraten zum Verschieben war plötzlich ein Zuraten zum Verwirklichen geworden. Im Oktober 1940 war es so weit. In Liverpool ging Robert an Bord der S.S. Northern Prince. Ihr Zielhafen war New York – die neue Heimat der Feitlers und so vieler anderer jüdischer Emigrant*innen. Wenn es ihnen dort wirklich so gut ergangen war, wie Elisabeth in ihren Briefen ja eindrücklich geschildert hatte, ohne jemals etwas auszulassen, warum dann nicht auch ihm?

the name of my wife or husband is ——————————

Robert konnte lesen und schreiben, wie alle Passagier*innen auf seinem Schiff. Er gab an, die deutsche und die englische Sprache zu beherrschen. Er kam aus Wien, Deutschland, aber er war geboren in Wien, Österreich, so stand es auf dem Papier. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Dahinter blieben auf dem Formular viele Zeilen frei. Bis auf Robert waren alle ledigen Personen auf seinem Schiff selbst noch Kinder.

3     New York

Für den Anfang durfte er bei den Feitlers wohnen, um sich in Amerika einzugewöhnen und leichter eine Bleibe zu finden. Das war für ihn eine große Erleichterung. Die vorige Wohnung der Feitlers war ebenfalls auf der Upper Westside, nur ein paar Häuserblocks weiter: Sie wohnten alle zusammen in 355 Riverside Drive. Das konnte man sich gut merken. Es hatte sich bei jedem erneuten Formular, das Robert ausfüllen musste, so schön für ihn gereimt. Er benötigte auch eine „Person, die immer meine Adresse kennen wird“, und er nannte dafür seinen guten Freund Paul.

Im Frühjahr 1941 wurde Robert in New York eingebürgert:

(14) Es ist meine Absicht nach Treu und Glauben, ein Bürger der Vereinigten Staaten zu werden und dort permanent wohnhaft zu sein.

(16) Ich bin kein Anarchist, auch kein Anhänger der gesetzwidrigen Beschädigung oder Zerstörung von Eigentum, oder der Sabotage: auch kein Gegner von organisierter Regierung; auch kein Mitglied in jeglicher Organisation oder Gruppe, die sich gegen eine organisierte Regierung stellt. So wahr mir Gott helfe.

Von den Gesetzen geschützt, statt schikaniert zu werden – das war das Versprechen, das Amerika als gelobtes Land für viele traumatisierte Emigrant*innen einlösen konnte. Robert hätte sich die gleiche Hoffnung gemacht. Er fasste langsam Fuß in der neuen Stadt, baute sich ein soziales Netz auf. Er verließ das Zuhause der Feitlers und zog in die 79. Straße, wie aus seinen Gerichtsunterlagen hervorgeht: „308-E79St“, steht als Adresse mit einem spitzen Bleistift hinter dem speckigen Einband des Gerichtsbuchs notiert.

In der Nähe gab es eine Schwulenbar, die Robert in seinem neuen Leben gern besuchte. Im Februar 1944 war sie das Ziel einer Polizeirazzia mit einigen Festnahmen. Robert wurde dem Richter Charles Ramsgate vorgeführt. Am Amtsgericht gab es keine Jury und in dieser Sache auch keinen Kläger, nur einen Polizisten namens Campbell. Robert wurde vor die Wahl gestellt zwischen 15 Tagen Zuchthausstrafe oder einem Bußgeld in Höhe von 50 US-Dollar. Dass er letztlich das Geld zahlte, wurde dort mit einem Häkchen bestätigt.

Die nationalsozialistische Propaganda im Deutschen Reich hatte Homosexualität immer wieder als ein jüdisches Laster bezeichnet. In den Ausgaben des „Stürmers“ wurden Juden mit ihrem Foto und Namen zusätzlich noch als Homosexuelle und Sittlichkeitsverbrecher angeprangert, die die Jugend gefährdeten. Gegen homosexuelle Juden konnten härtere Gerichtsurteile erlassen werden, auch mithilfe der Nürnberger Gesetze. Ihre Deportation wurde oftmals durch ihr Vorstrafenregister erleichtert, ihre Ausreise hingegen durch ihre Einträge ins polizeiliche Führungszeugnis vereitelt. In den Konzentrationslagern waren diese Männer mit einem doppelten Winkel gekennzeichnet (der rosa und der gelbe Winkel, zu einem Davidstern kombiniert) und wurden auffällig oft in den Krankenbau eingeliefert. Sie waren als die „175er“ bekannt, nach dem Paragrafen 175 des Reichsstrafgesetzbuches benannt.

Währenddessen war es im New Yorker Strafrecht die Sektion 722, Abschnitt 8 (unter der Überschrift „Entartung“), die männliche Homosexualität als „Verbrechen gegen die Natur“ ahndete. Zwischen 1923 und 1966 kam dieser Paragraf bei schätzungsweise mehr als 50.000 Männern zum Einsatz. Sie erhielten Geld- oder Haftstrafen, und viele verloren danach ihren Job. Robert Bachrach war einer dieser vielen, ohne in jeder Hinsicht wie sie zu sein. Der spezifische Ablauf war ihm ganz eigen, wie jedem einzelnen der vielen anderen auch. Robert wurde nach dem Gerichtsurteil wegen „moralischer Verwerflichkeit“ aus der New York County Medical Society ausgeschlossen. Er hatte also innerhalb weniger Jahre seinen Arztberuf zweimal, in zwei Ländern und aus zwei verschiedenen Gründen verloren.

4     Budapest

Leo heiratete in Budapest eine Jüdin namens Vera. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn. Wenige Tage später begann unter der Leitung von Adolf Eichmann und im Zuge der „Endlösung“ die massenweise Verfolgung und Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden. Für Leo und Vera erschwerte das ihren Plan, gemeinsam in die USA auszureisen. Um nur überleben zu können, musste sich Leo in der Textilfabrik seines Bruders eine deutsche Uniform anfertigen lassen, die er auf offener Straße tragen konnte; mit gefälschten Papieren, die ihn als Christen und NSDAP-Mitglied auswiesen, und mit nur gekauften Tapferkeitsorden.

Elisabeth schrieb in ihr Tagebuch (und in vielen anderen Zeitzeugnissen ist ebenfalls glaubhaft überliefert), dass Vera und Leo Hochner ein Versteck bei sich einrichteten. Auf dem Dachboden ihrer Wohnung in der Sas-Straße im 5. Budapester Bezirk fanden bis zu sieben Menschen gleichzeitig Platz. Hier kamen Jüdinnen und Juden unter, die aus dem Pester Ghetto geflohen waren oder die Leo von der Straße reingeholt hatte. Ein befreundeter Kinderarzt namens Géza Petényi versteckte Dutzende jüdische Kinder auf seiner Krankenstation. Bei Überfüllung durften einige Kinder zu Leo und Vera kommen.

Dr. Petényi brachte regelmäßig Medikamente und Hygieneartikel vorbei. Vera und Leo trugen dreimal am Tag Essen nach oben. Wenn keine Gefahr bestand, konnten ihre Schützlinge den Dachboden verlassen, um die Glieder zu strecken, ein Bad zu nehmen oder ein Buch zu lesen. Elisabeth schrieb dazu in ihr Tagebuch: Man könnte das hier alles für ein einziges großes Lügenmärchen halten, wenn man ihren Onkel Leo nicht kannte.

Dass Leo und Vera in Budapest blieben, war also einerseits den äußeren Umständen geschuldet und zeugte andererseits von Mut und Selbstlosigkeit. Wenn Robert doch nur hätte wissen können, was sie mit ihrem kleinen Versteck in Budapest leisteten, müsste er sich im April 1944 vielleicht nicht so verlassen fühlen, oder vielleicht entziehen sich Gefühle einer solchen Logik.

Im Herbst 1944 wurde Vera schwanger. In die USA kam die frisch gegründete Familie Hochner erst in den 50er-Jahren. Das war lang nach Kriegsende und nur im Rahmen eines Urlaubs. Sie besuchten die Familien Feitler und Gay in New York, sobald ihr kleiner Sohn Robert alt genug für diese Reise war.

5     New York

Loni bewahrte in ihrer Kommode Robert Bachrachs letzten Brief auf. Er war an sie adressiert, nicht an Elisabeth. Sie überreichte ihn ihrer Tochter und sagte, „diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen“. Spätestens jetzt zweifelte Elisabeth an der Erkrankung als Todesursache.

Roberts Briefe aus Europa waren nur ein schlechter Ersatz für ein echtes Gespräch mit ihm gewesen, nie hatte Elisabeth nachhaken können, wie er etwas meinte, jede Antwort ließ auf sich warten und setzte an einem ganz anderen Punkt der Flucht wieder an. Und nun stellte sich also heraus, dass er ihr auch in seiner New-York-Zeit, als Person aus Fleisch und Blut, wohl nicht immer alles erzählt hatte, was in ihm vorgegangen war. In Zukunft blieb ihr nur noch diese stumme Begegnung mit Robert auf dem Papier. Es ist ein Abschiedsbrief, und es gibt ein paar schwer leserliche Stellen darin:

Robert schrieb: »Meine liebe Loni, meine Stunde hat geschlagen, und ich will Ihnen gegenüber noch weniger undankbar erscheinen als zu irgendjemand anderem. Denn Sie haben ein solches Übermaß von Güte an mich verschwendet in diesen letzten Jahren, dass ich es Ihnen niemals hätte danken können. Und nur durch Sie, sowie durch Pauls und Elisabeths Einstellung zu mir, war es mir möglich, durch die letzten wahrlich schweren Jahre aufrechten Ganges durchzuhalten. Aber Sie haben mir noch [weit?] mehr geholfen durch Ihr tiefes Verständnis für meine [persönlichen Sorgen?], durch Ihre niemals ausgesprochene und doch so deutliche Teilnahme an der Sehnsucht nach [denjenigen?], die mich hier allein stehengelassen haben. Denn dadurch habe ich mich doch immer wieder verlassen gefühlt.

Wenn Sie den Leo noch je im Leben wiedersehen sollten, so sagen Sie ihm, dass ich bis zur letzten Minute meines Daseins seiner gedacht habe. Haben Sie Dank, Robert.«

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Die Deutschen und ihr Dichter – Über Hermann Löns

von Markus Thielemann

Da es ohne eindeutige Meldeadresse unmöglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sind Straßennamen ein untrennbarer Teil unseres Alltags. Aus diesem Grund gibt es Petitionen und Proteste, die Namen von Mördern von den Schildern und aus den Adressbüchern zu entfernen. Denn die allerwenigsten Menschen möchten bei der wöchentlichen Onlinebestellung den Namen eines Faschisten oder Kolonialgenerals in die Suchmaske eintragen.

Nach dem Schriftsteller und “Heidedichter” Hermann Löns sind über eintausend Straßen und Plätze in Deutschland benannt.[1] Damit steht er nicht alleine. Es gibt eine ganze Reihe von Schriftstellern, deren Namen in ähnlichem Ausmaß deutsche Stadtbilder prägen: Goethe, Schiller, Lessing, Hölderlin, Heine und Eichendorff sind zwar wie Löns, allesamt Männer, doch damit hat es sich mit den Gemeinsamkeiten. Die Werke der genannten Dichter sind bis heute Teil eines über Jahrhunderte gewachsenen Literaturkanons, und gleichsam tief im kulturellen Gedächtnis dieses Landes verankert.

Hermann Löns gehört einer anderen, jüngeren Generation an. Er starb im Jahr 1914 mit 48 Jahren, das Gros seiner Werke veröffentlichte er im zwanzigsten Jahrhundert. Im Deutschunterricht spielt er heute keine Rolle mehr (Spoiler: zu Recht). Und trotzdem: Kein*e deutschsprachige*r Schriftstellerer*in der Moderne ist in Deutschland derart oft verewigt worden wie er. Kein Mann, kein Kafka, kein Remarque, weder Nietzsche noch Hauptmann, noch Rilke, von Schriftstellerinnen ganz zu schweigen. Zum Vergleich: Es gibt in Deutschland mehr Straßen und Wege mit “Löns” im Namen als solche mit “Schmidt”, “Meier” oder “Adenauer”. Es gibt Apotheken, die nach ihm benannt wurden, es gibt eine ganze Stadt (Hermann-Löns-Stadt Walsrode), es gibt sogar ein Fußballstadion (Paderborn) und einen bis heute beliebten Festzeltschlager (“Hermann Löns, die Heide brennt”).

Wie kommt das? Wie kam es so? Warum ist dieser Mann mit seinen (ziemlich kitschigen) Natur- und Tiergedichten, seinen simplen Jagdgeschichten und seinen Romanen über Heidebauern in nur zwanzig Jahren für immer in das kollektive Gedächtnis eines ganzen Landes vorgedrungen?

Ideelles Bollwerk gegen die Moderne

Geboren wurde Hermann Löns 1866 in Chełmno (damals Culm) im heutigen Polen. Er zog mit seiner Familie nach Münster, machte das Abitur, trat ein Studium an und brach es wieder ab. Sein Alkoholkonsum führte zum Bruch mit seinen Eltern. Er begann als Journalist zu arbeiten, nach ein paar Stationen in verschiedenen Städten landete er 1892 in Hannover, wo er sich nach und nach als satirischer Kolumnist, “Lebemann” und Dandy einen Namen machte. In seiner Freizeit zog es ihn aufs Land, in die “Heide”.

Diese Kulturlandschaft zwischen Hannover und Hamburg, die bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts große Flächen Norddeutschlands bedeckt hatte, befand sich zu Löns Lebzeiten bereits unwiederbringlich in der Auflösung. Die voranschreitende Industrialisierung hatte die traditionelle Heidebauernwirtschaft, deren Hauptprodukte Honig und Wolle waren, innerhalb weniger Jahre unrentabel gemacht. Industriezucker verdrängte den Bedarf an Honig, die raue Wolle der Heidschnucken war gegen die Baumwolle aus den USA und Schurwolle aus Australien und Neuseeland nicht konkurrenzfähig. Zusätzlich war es durch den Einsatz von Industriedüngern Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts erstmals möglich, die bis dato nahezu unfruchtbaren, sandigen Flächen intensiv zu bewirtschaften. Der Rest wurde mit genügsamen Kiefern aufgeforstet.

Der Stadtmensch und Dichter Löns jedoch fand in den kargen Flächen seine Heimat. Die Ödnis wertete er innerhalb weniger Jahre in ein urdeutsches Landschaftsideal um, das er in Liedern und Gedichten besang, und das er als Gegenentwurf zum komplexen Gewusel der Städte und zum Dreck der Fabriken in Stellung brachte. Die Heide war sein ideelles Bollwerk gegen die Moderne. Die Heidebauernfamilien, die Bewohner des dünn besiedelten Landstrichs, waren in diesem Konstrukt die idealen Menschen: Reinrassig, blond, tief verwurzelt in Natur und Landschaft, hart, wortkarg, leidgeplagt und doch herzlich. Löns behauptete: “Der Bauer ist das Volk, ist der Kulturträger, der Rasseerhalter.”[2]

Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch

Im Gegensatz zur Naturdichtung der Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fand Hermann Löns fern der Städte keinen Zauber und keine Mystik. Er fand das, was er für das echte Leben hielt: Die Idylle im Gleichschritt mit der Härte der Natur, den darwinistischen Überlebenskampf der Arten, der seinem Blick nach Stärke und Schönheit hervorbrachte und den er ganz im Geist seiner Zeit vollumfänglich auf menschliche Verhältnisse übertrug. Die Helden seiner Erzählungen sind Jäger und Bauern, oder die Tiere selbst. Es sind nahezu immer Männer. Gewalt und Tod sind allgegenwärtig. Pompös beschreibt er Kämpfe, herabsausende Knüppel, spritzendes Blut, röchelnde Kehlen, erlahmende Muskeln. Blut und Boden, “Rasse” und Heimat sind Motive die sich durch das Lönssche Werk ziehen, manchmal motivisch versteckt in seinen fast kindlich anmutenden, hingeplauderten Jagdgeschichten, manchmal offen geäußert, beispielsweise und exemplarisch wenn er behauptet: „Ich bin Teutone hoch vier. Wir haben genug mit Humanistik, National-Altruismus und Internationalismus uns kaputt gemacht, so sehr, dass ich eine ganz gehörige Portion Chauvinismus sogar für unbedingt nötig halte. Natürlich passt das den Juden nicht.“  Seine Briefe unterzeichnete er mit der Wolfsangel.

Zu seinen Lebzeiten im wilhelminischen Kaiserreich fanden seine Naturerzählungen, Romane und Gedichte schnell eine große Leser*innenschaft, durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch. “Die Koexistenz von Gewalt und Idylle, von Mythos und Kitsch”[3] in Löns Werk sprachen eine große Mehrheit der deutschen Bevölkerung an. Er verpackte seine Botschaften einfach und klar, sie waren sehr anschlussfähig an den Nationalismus und den preußischen Soldatenkult, überzeugten konservative Intellektuelle ebenso wie die gerade entstehenden Naturbewegungen der Jugend. Später, in den Dreißigern, lange nach seinem Tod im Jahr 1914, ließ sich sein Werk nahezu perfekt in die Ideologie und die Propaganda der Nationalsozialisten einfügen. Das “Matrosenlied”, das Löns 1910 im Zuge des Flottenwettrüstens des Deutschen Reichs gegen das Englische Empire geschrieben hatte, wurde schon im Ersten Weltkrieg von hunderttausenden Marinesoldaten gesungen. Im Zweiten Weltkrieg vertonte es Goebbels oberster Propagandakomponist Herms Niel unter dem Namen “Englandlied” zu dem Kriegslied der Nazis.

„Grün ist die Heide“

Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus scheinen in vielen der Lönschen Texte durch, besonders und vor allem aber in seinem Roman “Der Wehrwolf”. Eine Gruppe Heidebauern kämpft darin zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges gegen alle anderen, gegen “schwarzbärtiges Ungeziefer”. Diese extrem simple Us vs. Them Konstruktion, in der sich eine reinrassige Volksgemeinschaft gegen Einflüsse von Außen zu verteidigen gezwungen ist, die es zu zersetzen und zu vernichten drohen, zog im Kaiserreich, genauso wie in Weimarer Republik unter völkisch-nationalen Kreisen. Die Nazis priesen den Roman als “Werk nationalsozialistischen Geistes” und Löns als “Künder des Reiches Adolf Hitlers”. Der “Wehrwolf” wurde Schulstoff, wurde millionenfach als Feldlektüre für Wehrmachtssoldaten und Flakhelfer gedruckt und kann zudem als ideeller Wegbereiter für Himmlers Werwolfverbände gesehen werden, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs die Alliierten Besatzer innerhalb Deutschland bekämpfen sollten.

Nach dem Krieg wurde es jedoch nicht still um Hermann Löns, im Gegenteil: 1951 erschien mit “Grün ist die Heide” ein auf Lönsschen Motiven basierender und mit Lönsschen Liedern versehener Heimatfilm. Er wurde einer der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten (sechzehn Millionen Menschen sahen ihn damals). Löns wurde weiter verehrt, jede Schuld und jeder Verdacht wurde aus seinem Werk gelöst, indem man nach außen nun vor allem seine Rolle als vermeintlicher früher “Naturschützer” hervorhob. Es sei von Anfang an eben nur um die Natur, die Tiere und das einfache Landvolk gegangen. Seine Werke wurden neu aufgelegt und millionenfach gedruckt, ein verlorener Krieg, Besatzung, die Verantwortung für die Shoah: Löns simple Heideidyllen waren Balsam für die der einfachen Nachkriegsseelen, seine Literatur funktionierte wie Schlager. So pflasterte man die Neubaugebiete Westdeutschland mit Hermann-Löns-Wegen, -straßen und -plätzen, man gründete Hermann-Löns-Kreise und Gesellschaften. Besonders von den Vertriebenenverbänden, die von Beginn an Sammelbecken rechter Ideologen und Ideen waren, wurde der gebürtige Westpreuße Löns verehrt. Parallel zur unvergleichlichen Schuld, die die Deutschen in der Nachkriegszeit kollektiv fortschwiegen, zu den Waffen, Parteibüchern und Abzeichen, die in Güllegruben oder unter losen Bodendielen verschwanden und den arisierten Vermögen, die in den Wohnzimmern und den Handelskontoren nach und nach im Wirtschaftswunder aufgingen, ließ man wortwörtlich Gras über den anderen Teil des Lönschen Werkes wachsen. Man erinnerte den Jäger und das Idyll für das er stand, aber nicht jene, auf die er schoss. Der brave Deutsche fühlte sich ihm verbunden, wenn er die grünbraunen Landschaftsgemälde mit den Hirschen und den Hunden über dem Küchentisch betrachtete, während man seine Kinder anschwieg.  Die Antwort auf die Frage, warum sein Name derart häufig auftaucht ist, also relativ simpel: Er war und ist unglaublich beliebt, er wurde millionenfach gelesen.

Die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen

Vor allem nördlich von Hannover und südlich von Hamburg, in der sich touristisch genutzte Heideflächen erhalten haben, ist Löns Name bis heute absolut allgegenwärtig. Es mag stimmen: Ohne Löns und sein Werk würde die Heide, wie sie in Niedersachen vorzufinden ist, vielleicht nicht mehr existieren. Er selbst war ein früher Mitinitiator des ersten Deutschen Naturschutzgebiets, der Lüneburger Heide (die im Grunde nie Natur war). Er festigte und mystifizierte die “Heide” als Sehnsuchtsort für Millionen.

Doch was sagt das im Umkehrschluss aus? Ist die Lüneburger Heide nicht in gewisser Weise Löns Heide? Kann sie überhaupt getrennt von ihm gedacht werden? Was würde das bedeuten? Denn für Löns war die Natur und die Heide immer auch Projektionsfläche für sein eigenes Weltbild, eines, in dem Menschen in Rassen eingeteilt sind, in dem Gewalt das oberste Ordnungsprinzip war, man alten Zeiten nachtrauerte, wo Humanismus und Altruismus mit Jubel und Trara zurechtgeknüppelt wurden und in dem der Mann als Jäger und Heger das Recht besaß, über Leben und Tod und als Patriarch über sein Weib zu bestimmen.

Vielleicht hängt es auch mit diesem problematischen Erbe der Landschaft zusammen, dass sich seit Jahren völkische Siedlerfamilien in der dünn besiedelten Region ansammeln.

Was sagt es im Umkehrschluss über ein Land aus, dass es diesem Mann vehement Denkmäler gebaut hat und sich bis heute tausendfach mit seinem Namen schmückt? Löns war ein Chauvinist, ein Rassist, und ein Sexist, er war besessen von Gewalt, gleichzeitig neigte er zur Sentimentalität. Der allgegenwärtige Diminutiv der Tiernamen, Hasen, Rosen und Blut, schwülstige Liebesschwüre und der gegen alles Artfremde gerichtete Schlachtruf “Shlaah doot” der “Wehrwölfe”. Diese Mischung scheint die Deutschen bis heute zu berühren. Es ist ein wenig so, als sei die Lönssche Idee der Heimat die deutsche Idee von Heimat und umgekehrt: Ein Ort der Idylle und der vermeintlichen Wahrheit, der wahren Natur und der wahren Rasse, der den Deutschen unter Anwendung von Gewalt zusteht, und sonst niemandem.

Diese Idee von Heimat, von der Heide, vom “Land”, ist ein reales, gefährliches Problem. Denn im Geiste einer solchen Heimat werden in Deutschland Menschen ermordet, bis heute. Hunderte deutsche Gemeinden sollten sich deswegen Gedanken machen, welche Art der Heimat sie sein wollen, und ob eine Hermann-Löns-Straße dazu passt.


[1] Bei Zeit Online gibt es ein frei zugängliches, sehr faszinierendes Tool, mit dem sich die Häufigkeit eines Straßennamens in Deutschland überprüfen, sowie seine Verteilung auf einer Karte zeigen lässt: Straßennamen: Wie oft gibt es Ihre Straße? | ZEIT ONLINE

[2] Dupke Mythos Löns, 171, nach Löns, Bauernrecht und Bauernmoral.

[3] Dupke, Mythos Löns, 179

Beitragsbild von Chiara Wolf auf Unsplash

Wettlesen bei Susi’s Backhendlstation – Der Bachmannpreis 2023

von Eva-Sophie Lohmeier

Die Unterkunft lag in einem Dreieck aus Polizei, Laufhaus und Friedhof, und hinter dem Friedhof war Susi’s Backhendlstation, mehr braucht man im Leben und im Sterben nicht. Vielleicht noch die Konditorei unten im Haus. Vielleicht noch den See bei der Hitze im Sommer, aber dann ist wirklich Schluss. Hier könnte man in Ruhe existieren und jeden Tag diese unfassbaren Berge an Backhendl essen, die aufgetischt werden. Danach wahlweise einen monströsen Eisbecher oder einen Zirbenschnaps. So könnte es gehen in Klagenfurt, der kleinen Stadt in Kärnten, die von einem regiert wird, der einmal Jörg Haiders Tennislehrer war. Auch das könnte man herrlich ignorieren, kämen nicht ab und zu Stadtschreiber:innen, die einen in aller Öffentlichkeit daran erinnerten.

Die Stadtschreiber:innen sind ein Kollateralschaden des jährlich ausgetragenen Bachmann-Wettlesens, das offiziell „Tage der deutschsprachigen Literatur“ heißt beziehungsweise „Ingeborg-Bachmann-Preis“ nach dem höchstdotierten der Preise, die stets Ende Juni, Anfang Juli vergeben werden. Daneben gibt es ein ganzes Rahmenprogramm, das etwas despektierlich „Häschenkurs“ genannte Förderstipendium, Lesungen, Konzerte, ein Quiz und einen Empfang beim ehemaligen Tennislehrer, der nun als Bürgermeister arbeitet und sich auch dieses Jahr sehr große Mühe gab, wie jemand zu wirken, dem die schöne Literatur am Herzen liegt. Außerdem kann man in der Stadt kaum einen Schritt tun, ohne versehentlich in einen Autor oder zumindest Verlagsmenschen zu rumpeln. Und dann geht es sofort los: Wie fand man die Rede, wie war der Lesetag, wer war gut, wer weniger, was hat die Jury wieder abgelassen und wer hat es verdient, zu gewinnen? Nicht einmal auf der Buchmesse wird so viel über Literatur und Texte gesprochen, und dort betreibt man einen erheblich höheren Personalaufwand als das kleine ORF-Landesstudio Kärnten mit seiner dauerüberforderten Kantine, der ständig die Semmeln für die Leberkässemmeln ausgehen. 

Alles beginnt also am Mittwoch Abend mit vielen Reden. Diese Reden, wie sie unter anderem in Klagenfurt gehalten werden, beschwören regelmäßig Gründe, die Literatur gegen irgendeinen Feind von außen zu verteidigen. Gern lauert dieser Feind im Internet, er besteht in Schnelllebigkeit, in Geschwätzigkeit, in Seichtheit und Dauerverfügbarkeit. Im Internet ist alles billig und doof, und die Literatur wird diesen Zeitgeisterscheinungen entgegengehalten. Denn man kann, in den unvergessen kryptischen Worten des einstigen Juryvorsitzenden Hubert Winkels, das „Numinose“ nicht einfach so unters Volk schleudern. Und jetzt sollen auch noch KI und ChatGPT Texte produzieren? Da ist es gut, schon einmal prophylaktisch zu dem Schluss zu kommen, dass richtige Literatur natürlich auch dazu wieder ein Gegenentwurf ist und künstliche Intelligenz die menschliche Kreativität nicht ersetzen kann. 

Hätten wir das also schon einmal geklärt. Und sogar schon in der ersten Rede bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur – gehalten von der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard, unterstützt von einem animierten Avatar ihrer selbst. 

Wodurch Literatur aber wirklich gefährdet wird, das erfuhr man erst später. Zum Beispiel von Tanja Maljartschuk, der ukrainischstämmigen Bachmannpreis-Gewinnerin des Jahres 2018, die in ihrer Rede zur Literatur zugab, eine ehemalige Schriftstellerin zu sein, denn ihr versagten die Worte angesichts des Angriffskrieges, unter dem ihr Land und, ganz konkret, ihre Familie leidet. Ein angefangenes Buch über das Schtetl, das sich einst im Dorf ihrer Eltern befand, wird wohl niemals zu Ende geschrieben werden. Gefährdungen anderer Art sprach Jacinta Nandi an, die in diesem Jahr unter den lesenden Autor:innen im Wettbewerb war. Kinderbetreuung für die Beteiligten gebe es keine, und am Ende war die Reise, so berichtet sie auf Instagram, finanziell ein Minusgeschäft. Auch das ist Literaturverhinderung, aber eine, die sich nicht für Eröffnungsreden eignet. Die hat mit diesem Ding namens Alltag zu tun, was sich da draußen abspielt, weit außerhalb des ORF-Gartens, zwischen Laufhaus, Polizei, Friedhof und Susi’s Backhendlstation.

Umso dankbarer war man Insa Wilke, der Jurypräsidentin, der nach der Lesung von Laura Leupi dann doch kurz der Kragen platzte. Leupi las, nein, sie trug vor, und zwar „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Der Text handelt von Gewalt, einem Ich wurde Gewalt angetan, und es setzt sich nun neu zusammen. Wer jedoch dachte, man könne über diesen Vortrag sprechen, der eine Performance war, über die Textstruktur, über Listen als Stilmittel, über Schlagworte und wie sie auf die zarteren, subtileren Teile des Textes wirken, über die Ansprache an das Publikum, dem etwas zu pauschal unterstellt wurde, all das nicht zu kennen, und über die Sprache, die einem bleibt, wenn einem nach einer Vergewaltigung eigentlich eher nach Schreien oder Schweigen zumute ist, der wurde durch die Jurydiskussion eines besseren belehrt. Juror Philipp Tingler war es, der sagte, der Text sei nicht feministisch, der Text betreibe, was er kritisiere, er leide an einem Moralisierungsüberschuss und verwende Sprache totalitär. 

Drunter macht er’s wohl nicht, diese Suada einer gebrochenen Frau verwendet also totalitäre Sprache, und sofort bleiben einem angesichts dieser Geschütze sämtliche Einwände stecken und man seufzt und sieht ein, dass es anscheinend noch immer nicht möglich ist, bestimmte, weiblich besetzte Themen halbwegs sachlich zu verhandeln. Noch immer, so schließlich Insa Wilke, sei die Literaturkritik patriarchal geprägt und es sei schwer, da Durchlässigkeit zu schaffen. Umso dankbarer muss man sein, dass die Jurypräsidentin das sieht und ausspricht, und auch dem Jury-Neuzugang Thomas Strässle, dass er die Qualitäten in diesem Text gesehen und Laura Leupi eingeladen hate. Dennoch, man fühlte sich ungut an die frühen Jahre des Literarischen Quartetts erinnert und an die genervten bis abwehrenden Reaktionen der männlichen Kritiker, sobald ein weiblicher Alltag verhandelt wurde wie etwa in Marlene Streeruwitz’ Roman „Verführungen“, oder gottbewahre, weibliche Körperfunktionen, die nicht dem männlichen Amüsement dienen.

Nicht jeder Text ging in diesen Tagen in Klagenfurt so sehr ans Eingemachte wie der von Leupi, aber vielen merkte man an, dass sie sich an persönlichen Erfahrungen und Biographien entlanghangeln. Jayrôme C. Robinet, eingeladen von Mithu Sanyal, erzählt die Geschichte eines französisch-sizilianischen Mädchens, das zu einem deutschen Mann wurde, eingebettet in eine traumatische und anrührende Familiengeschichte. Er bekam viel Applaus und Zustimmung, am Ende aber keinen Preis. Jacinta Nandi erzählt mit bösem Humor von einer Mutter, die sich einredet, die Beziehung zu ihrem Mann sei keine Gewaltbeziehung. Deniz Utlu und Yevgeniy Breyger hadern mit Vätern mit Schlaganfall, allerdings in sehr unterschiedlichen Stilregistern.

Martin Piekar hadert sehr laut mit seiner polnischen Mutter, und überlässt ihr den zweiten Teil des Textes, in dem sie in ihrem eigentümlichen Deutsch zu Wort kommt. Ein Deutsch, so wird Piekar später in der Pause erklären, das in Millionen Haushalten gesprochen wird und es verdient, endlich Eingang in die Literatur zu finden. Seine Mutter fand es selbst nicht literaturwürdig, obwohl sie immer schrieb. All diese Geschichten handeln von Einwanderung, von Anpassung und Selbstfindung und zeigen, dass dieses Thema noch sehr, sehr lange nicht auserzählt sein wird. Oder, wie Sanyal in der Diskussion zu Robinets Text bemerkte: „Es gibt doch mehr als eine von uns.“ 

Zwei der Siegertexte, der von Valeria Gordeev (Bachmannpreis) und Anna Felnhofer (Deutschlandfunkpreis) berichten in sehr subtiler Weise von Gewalt. Felnhofer, die als Psychologin arbeitet, erzählt von einem Opfer von Schulhof-Mobbing, das sich in seine Rolle zu fügen beginnt, und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Auch Gordeevs Protagonist, der die Zumutungen des Alltags nur im Putzwahn übersteht, weist über seine kleine enge Bakterienwelt hinaus. Bei beiden Lesungen verstummte das Publikum, nur das gelegentliche Geraschel des Seitenblätterns war im Garten unter den Pavillons zu hören und ab und zu das Heulen einer Sirene, weil die Freiwillige Feuerwehr gleich nebenan ist. 

Aber ist ein Text dann ein guter Text, wenn er einen aufwühlt? Mithu Sanyal sprach sich energisch dafür aus. Mara Delius und Philipp Tingler waren die Vertreter der objektiven Kriterien, die sie an einen Text anlegen wollten wie ein Maßband. Insa Wilke wiederum beharrte darauf, dass jeder Text nur aus sich selbst heraus zu beurteilen sei. Leider sprach gegen Tingler und Delius, dass sie die konsequent langweiligsten Autoren eingeladen hatten. Ist Langeweile ein objektiv messbares Kriterium? Sicher nicht, aber irgendetwas in einem anstoßen darf ein Text dann doch, und sei es ein ganz unaufwühlender Denkprozess. Mara Delius lud zum einen Andreas Stichmann ein, der das Publikum mit einem Mann in Midlife-Crisis konfrontierte, der an Nesselsucht leidet und Menschen miteinander verwechselt. Ein „mittelalter Mann mit Männerkrise“, so formulierte es Insa Wilke, die an dieser Stelle noch ein wenig Restmitleid mit dem Patriarchat aufbringen konnte. Mittelprächtig genervt war die Jury bei Delius zweiter Autorin, Anna Gien, und ihrem somnambulen Traumtagebuch einer Erzählerin mit Thomas-Bernhard-Fetisch. Ja, das ist exakt so unangenehm wie es klingt. 

Philipp Tingler hat eine Vorliebe für Gesellschaftsromane, er hat selbst welche geschrieben, und nun lud er zwei Autoren ein, die ungefähr das lieferten. Sophie Klieeisen mit einem Hauptstadtevent im Humboldtforum, in dem neben Polit- und Kulturschickeria auch der leibhaftige Teufel auftritt, wenn man ihn germanistisch zu enträtseln vermochte. Zudem Mario Wurmitzer mit dem jährlichen, obligatorischen Beitrag zur Kritik modernen Dienstleistungswesens, in dem ein Mann in einem Tiny-House-Musterhaus lebt und sich dabei zuschauen lässt, das Modell muss schließlich verkauft werden Das klingt recht witzig, bleibt aber letztlich brav und harmlos. Oder, um ein Reizwort der diesjährigen Debatte einzubringen: konventionell. Darunter allerdings verstand jeder etwas anderes. Geklärt wurde dieser Komplex in diesem Jahr nicht, das wurde vertagt und lieber in der Schlussrunde noch ein wenig ausgekeilt. Weil die Jurysitzungen zur Ermittlung einer Shortlist abgeschafft wurden, finden letzte brachiale Überzeugungsarbeiten nun anscheinend vor den Kameras statt. 

Am Sonntag wurden die Preise vergeben und in allen Nachrichtensendungen vermeldet. Valeria Gordeev und Anna Felnhofer bekamen Preise, dazu Laura Leupi einen und Martin Piekar gleich zwei. Sie packen die Preise ein und verlassen noch am selben Tag die Stadt. Nur der Stadtschreiber darf im Sommer mehrere Monate in der Künstlerwohnung verbringen und daran erinnern, dass die Stadt von Jörg Haiders ehemaligem Tennislehrer regiert wird. Diese Aufgabe fällt im nächsten Jahr Martin Piekar zu. Er ist Lehrer von Beruf, er wird es den Einwohnern sicherlich pädagogisch behutsam beibringen. 

Foto von Eva-Sophie Lohmeier

Schwankende Kanarien

von Judith Schalansky

Mir war sehr wohl bewusst, dass die Geschichte des Lebens auf der Erde keine Bühnenhandlung war und das menschliche Auftauchen auf selbiger ein erstaunliches, doch flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis, das ebenso verschwinden würde wie eine Reihe anderer wundersamer Wesen. Und trotzdem sah ich noch einmal das Spektakel eines erst brennenden, dann brodelnden und dampfenden, bald schmatzenden Planeten, auf dem sich Wasser zurückzog und Kontinentalplatten verschoben, ungeheure Wälder wucherten, im Ozean allerlei Getier gedieh, das die Landmassen zu erkunden begann, bis nach einer Ewigkeit und einigen eiszeitlichen Sekunden doch noch eine gebückt gehende, behaarte, bewaffnete Kreatur auftauchte, mit der ich mich zu identifizieren gelernt hatte. Der Rest war Sesshaftwerdung und Abholzung, Bergbau, Verstädterung und Satellitenschrott. Ich steckte fest.

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Die Sicht der anderen – Wie True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

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Im Osten nichts Neues – Über den Bestseller von Dirk Oschmann

von Peter Hintz

Der relative Mangel an ostdeutschen Führungsfiguren im hiesigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird in Deutschland medial auf verschiedene Weise aufgenommen: Mit Optimismus, dass es nach und nach mehr wird, mit Realismus, dass es für die aktuelle Situation historische, politische und soziale Gründe gibt, oder mit eingeschränktem Fatalismus, dass für andere Ostdeutsche alles schief läuft, sich aber zumindest die eigene Ossi-Brand pushen lässt.

Dirk Oschmanns Langessay Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) hat bereits Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste erreicht. Es handelt sich um ein Debattenbuch aus dem postfaktischen Zeitalter. Nicht nur wartet das Sachbuch mit populistischen Thesen zur anhaltenden Marginalisierung Ostdeutscher durch Westdeutsche auf, zur Immunisierung vor naheliegender Kritik betont der Autor gleich selbst in der Einleitung, dass es ihm gar nicht auf Genauigkeit ankomme: “Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise”. Oschmann, der ursprünglich aus Gotha stammt und in Leipzig als Professor für Germanistik tätig ist, befürchtet, dass ansonsten sein politisches Anliegen “bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt”.

Unsichtbar bleibt für Oschmann sonst die Geschichte einer BRD-Hegemonie über den Osten, die nichts weniger als den Imperialismus des Kaiserreichs in Afrika sowie die nationalsozialistische “Ostpolitik” fortsetze: “‘Buschzulage’ und ‘Aufbau Ost’ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis andererseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten”. Als ob das Problem dieser Neunzigerjahre-Sprache nicht vor allem darin bestand, dass privilegierte Westdeutsche und privilegierte Ostdeutsche sich wechselseitig zu Opfern von white man’s burden und rassistischer Diskriminierung erklärten, während in der Nachbarschaft die Asylheime brannten.

Je drastischer Oschmann die ostdeutsche Unfreiheit und die westdeutsche Fremdherrschaft herbeiredet und das interne politische Geschehen im Osten – nicht zuletzt den Rechtsradikalismus – dabei ausblendet, desto weniger überzeugend ist seine Argumentation. Pauschale Thesen von einer ‘antiautoritären Prägung’ des Ostens durch den Umsturz ‘89, die durch AfD und PEGIDA popularisiert worden sind, sind historisch nicht haltbar. Wenn Oschmann schreibt, dass man Ostdeutschen, die “teils mit hohem persönlichen Risiko eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären [muss], was Demokratie ist”, so sollte dabei zwischen DDR-Regimegegnern und Regimeprofiteuren unterschieden werden. Letztere spielen bei Oschmann kaum eine Rolle, ‘die Ostdeutschen’ waren in der Opposition oder zumindest passive Opfer des Systems. Nach dieser Begründungsschablone verengt der Literaturwissenschaftler Oschmann hohe AfD-Ergebnisse im Osten auf westdeutsche Täter wie Björn Höcke sowie auf das Versagen der westorientierten übrigen Parteien.

Ähnliche Klischees werden auch in Oschmanns Verhandlung der ostdeutschen Literaturszene deutlich, einem Schwerpunkt des Buchs, in dem es vorrangig um kulturelle Machtansprüche des Westens gehen soll: “Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann.” Mit Verweisen auf tatsächlich (Inge Müller, Franz Fühmann) und eigentlich gar nicht vergessene Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Brigitte Reimann) biedert Oschmanns Buch sich an ein bestehendes gebildetes Publikum in Ost und West an, ohne dass es ihm gelingt, etwas Neues zur “DDR-Literatur” zu sagen. Zum Beispiel dazu, dass der ebenfalls erwähnte Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig gerade in den USA eine Renaissance erlebt.

Ingo Schulze liefert dem Buch einen Blurb, obwohl Schulzes letzter, erzählperspektivisch äußerst komplex konstruierter Roman, Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020), selbst eben die nicht einseitig ‘westdeutschen’, sondern wechselseitigen kulturellen Projektionen auf den Osten abbildet. Schulzes Roman destabilisiert damit sowohl Sachsen-Romantik à la Uwe Tellkamp als auch journalistische Dämonisierungsversuche im Sinne eines berüchtigten (und eigentlich falsch verstandenen) Spiegel-Covers, an dem sich Oschmann abarbeitet. Statt etwas Unerwartetes dazu zu schreiben, rekapituliert Oschmann auch bloß den neueren Kunststreit zwischen dem ostdeutschen Maler Neo Rauch und dem westdeutschen Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, versucht daran zu beweisen, dass es der ostdeutsche Kunstbetrieb schwerer hat als der im Westen – als ob diese Debatte nicht auch den steigenden Einfluss von ostdeutschen Künstlern im (inter)nationalen Diskurs zeigen könnte.

Nach Oschmann ist “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe […] die der ostdeutschen Männer insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 […], das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR”. Oschmann bezieht sich dabei auf die historisch-soziologische Studie Lütten Klein (Suhrkamp 2019) von Steffen Mau, die eine Benachteiligung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in anderen sozialen Feldern nachweist. Im Gegensatz zu Oschmann ist nach Mau der Osten aber eben keine simple Projektions- und Konstruktionsfläche des Westens. Ein Verständnis der Transformation des Ostens seit der Wende verlangt auch einen Blick auf die DDR-Gesellschaft vor 1989. Faktoren wie die ethnische Homogenität der DDR, der lange Zeit niedrigere Ausbildungsstand und Akademikermangel im Osten, Abwanderungsbewegungen sowie die – von engagierten Ostdeutschen selbst initiierte – politische Ausgrenzung der alten SED- und Stasieliten müssen dabei ebenso zentraler Teil der Erzählung sein wie westdeutsche Machtinteressen, Netzwerke und Administratoren. Oschmann hingegen betont die Rolle negativer Stereotype über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, erfindet einen ‘antiostdeutschen’ Rassismus und verfehlt damit strukturelle Ursachen für empfundene Probleme. Aber bekanntlich enthält sein Buch ja einen Undifferenziertheits-Disclaimer, der interessanterweise dann doch nicht gilt, wenn es darum geht, herauszustellen, dass Hitler Österreicher war.

Kuriositäten, die ein weiteres Ergebnis von Unterkomplexität mit Ansage sind: Als Teil von Oschmanns Versuch, eine allgemein negative Konnotation des “Ostens” im öffentlichen Diskurs herzuleiten, präsentiert er die Stadt Leipzig als geteilt in einen attraktiven Westen und in einen “fast verrufen[en]” Osten. Für mich als Leipziger ist das einigermaßen befremdlich, da sich schon seit einigen Jahren eben auch der Leipziger Osten zur Hipster- und Studentengegend gentrifiziert. Zum mangelnden Stadtinteresse passend findet Oschmanns Buchpremiere aber gar nicht am Ort seiner Professur in Sachsen statt, sondern in Prenzlauer Berg, bekanntlich ebenfalls hip und historisch in Ostberlin gelegen.

Positive Entwicklungen seit der Wiedervereinigung etwa die sich angleichenden Niveaus bei Löhnen und Arbeitslosigkeit, Industrieboom und Modernisierung der Infrastruktur, steigende Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern – weist Oschmann mit Verweis auf das Debate-Me-Primat zurück: “Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‘differenzierter Darstellung’. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht”. Aha. Als ob Oschmanns Populismus nicht vor allem an eine Leserschaft in den ostdeutschen Bundesländern verkauft werden soll, statt sonst wen überzeugen zu wollen.

Neue politische Romane jüngerer ostdeutscher Autorinnen und Autoren bieten sozialkritische Gegenerzählungen zu Oschmanns eigenem pessimistischen Narrativ, was aber auch einen möglichen ostdeutschen Generationenkonflikt offenbart. Das ist vor allem erwähnenswert, weil Oschmann sie als das, “was der Westen sich vom Osten denkt” verächtlich macht. Diese Texte leisten ihre eigene Gedächtnisarbeit durch fiktionalisierte Jugenderinnerungen der sogenannten “Baseballschlägerjahre”. Im Hinblick auf solche autofiktionalen Romane kann man Oschmanns Faszination für die “Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse” teilen, nur ist Oschmanns eigener Text viel eher polemisch als analytisch und ordnet seine eigenen, für sich genommen erhellenden autobiografischen Anekdoten aus dem deutschen Universitätsbetrieb, dieser Polemik unter.

Hendrik Bolz’ Nullerjahre (KiWi 2022) etwa zeichnet aus der Ich-Perspektive ein schier endloses, fast rauschhaftes Panorama schulischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er Jahren. Diese Gewalt ist politisch aufgeladen durch rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Rhetorik und gestützt durch die Abwesenheit von Kontrollinstanzen. Oschmann verkennt völlig, dass solche Erinnerungen eben nicht nur affirmativ ein westdeutsches Publikum erreichen wollen, sondern zuerst einer jüngeren ostdeutschen Generation insgesamt eine Stimme geben. Bolz’ empathischer Roman verschweigt nicht die Strukturschwächen des Ostens im Vergleich zum Westen, sondern macht eben durch sein Verlegen der Handlung in die vermeintlich boomenden “Nullerjahre” auf sie aufmerksam. Vielschichtiger als Oschmanns Wessi-Ossi-Opfergeschichte erzählt der Roman die Erzeugung von Männlichkeit zwischen Autorität und Vorbildern, Klasse und Weißsein.

Eine Gewaltgeschichte erzählt auch Anne Rabes spannungsreicher, aus weiblicher Perspektive geschriebener Debütroman Die Möglichkeit von Glück* (Klett-Cotta 2023), der fast zeitgleich mit Oschmanns Buch erschienen ist und mit gegenwärtigen Verklärungen der DDR aufräumt. Diese Verklärungen sind heute weniger im konsumistisch-nostalgischen Stil von Good Bye, Lenin! (2003) gehalten, sondern entdecken den Osten gern als kulturkonservative Alternative des ‘kleinen Mannes’ zum liberalen Westen. Anne Rabes Protagonistin Stine, wie der Ich-Erzähler von Nullerjahre von der Ostseeküste, stammt aus einer Familie von DDR-Funktionären. Eine Archivrecherche über ihren Großvater führt sie zu den Ursprüngen und Nachwirkungen der autoritären DDR-Pädagogik, die ihre Kindheit und Jugend in den Nachwendejahren prägen. Gerade zum Verständnis von sozialen Brüchen nach ‘89 ist also das Wissen um kontinuierliche Machtverhältnisse nicht nur im Westen, sondern auch im Osten notwendig.

Zwar ist Oschmanns Buch inzwischen von einem halben Dutzend Leitmedien besprochen worden und in der Bestsellerliste gelandet, doch neue Impulse außerhalb längst bekannter fatalistischer Narrative vermag es nicht zu geben. Für die Rezeption eines in einer überregionalen Tageszeitung erschienenen Textes, den Oschmann für Der Osten auf Buchlänge erweitert hat, dreht der Autor aber schon mal eine kapitellange Siegerrunde. So verkündet er:

“Mein FAZ-Artikel Wie sich der Westen den Osten erfindet ging am 3. Februar kurz vor Mitternacht online: Bereits um 0.04 Uhr bekam ich die erste positive Reaktion aus der Schweiz. […] Mir sind per E-Mail und per Post Studien, Aufsätze und Bücher zum Thema geschickt worden, von Soziologen, Historikern, Politologen und Linguisten, die das ungeheure Ausmaß der Benachteiligung mit Fakten und Daten belegen. – Offenbar hat der Text einen Nerv getroffen.”

Jenseits des Matterhorns lässt sich Folgendes konstatieren: Oschmanns Intervention im Namen einer deklassierten lost generation von ostdeutschen Männern, die sich inzwischen nahe vorm oder schon im Rentenalter befinden, kann merkwürdig verspätet wirken und ist, wie auch das angefügte fünfzehnseitige Literatur- und Anmerkungsverzeichnis zeigt, ein Kompilat von über dreißig Jahren Debatte zum Thema. Doch gerade in seiner Umwandlung von Kränkungsgefühlen in Tatsachen und in seiner Läuterungserzählung, in der Oschmann sich als enttäuschter Grün-Liberaler präsentiert, knüpft sein Buch an aktuelle populistische Redeweisen an, die eine sich als marginalisiert empfindende weiße Männlichkeit politisiert.

Unterbrochen wird Oschmanns Polemik-Performance immer wieder durch versichernde Einschübe, dass er sich möglichen Einwänden gegen die Überzogenheit seiner Rhetorik selbst bewusst ist: “Der Ton stört gewaltig, ich gebe es sofort zu. Denn ich sage ja nichts Neues, aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei”. Und vielleicht nimmt gerade diese völlige Transparenz, intellektuell unehrlich zu sein und ein gewaltiges Medienereignis bewirken zu wollen, dem Buch das Potenzial, dies über erwartbare Talkshowauftritte, Zustimmung der Unzufriedenen und verdiente Verrisse hinaus tatsächlich provozieren zu können.

* Anne Rabe ist selbst Autorin bei 54books; mir lag vorab ein Manuskript ihres Romans vor.

Wie wir lesen (sollen) – Amazon, TikTok und die Literatur

von Simon Sahner

Als vor etwa 20 Jahren Serien wie „The Sopranos“ und „The Wire“ das Erzählen in ein goldenes Zeitalter des Fernsehens führten, war häufig die Rede davon, dass sie in der Tradition des Romans stünden: große horizontale Erzählbögen, komplexe Handlung, detaillierte Figurenentwicklung und der Anspruch gesellschaftlich Relevantes zu erzählen. Dieser Vergleich war auch der Versuch, einem Medium, das sonst als reine Unterhaltung verschrien war, einen hochkulturellen Anstrich zu verleihen. Der Vergleich mit Literatur hat noch jedes andere Medium geadelt, deswegen hat auch Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhalten.

Wirft man allerdings einen Blick auf die Entwicklung des Literaturmarktes seitdem, muss man feststellen, dass sich der Einfluss heute umgekehrt vollzieht. Waren es im Jahr 2002 die Gesellschaftsromane des 19. Jahrhundert, die vermeintlich ihren Weg ins Fernsehen gefunden hatten, kann man heute beobachten, wie die Streaming-Serie den literarischen Bereich übernommen hat. Das hat mit zwei zentralen Spielfiguren auf dem Literaturmarkt zu tun: Amazon und TikTok.

Der sogenannte Everything-Store Amazon dominiert in Deutschland den Buchhandel. In einer Umfrage in Deutschland unter Menschen, die im letzten Jahr Bücher gekauft haben, gaben 60 Prozent an, bei dem Online-Versand bestellt zu haben. Wenn es um eBooks geht, besitzt Amazon mit seinem Kindle-Store fast eine Monopolstellung. Diese Situation ist in den meisten Ländern in Europa und Nordamerika ähnlich. Wie sehr der Buchhandel von dem Onlinekaufhaus abhängt, zeigen auch Rebecca Giblin und Cory Doctorow in ihrem neuen Buch „Chokepoint Capitalism“. In ihren Überlegungen zum Einfluss kapitalistischer Strukturen auf den Kulturmarkt, beschreiben sie Amazon als Monopson, das Gegenstück von Monopol.

Der Flaschenhals des Marktes

Monopson bezeichnet die Situation, in der es für eine Vielzahl von Anbietern nur einen Käufer gibt. Das führt dazu, dass ein Käufer einen überaus großen Einfluss auf die Gestaltung von Preisen nehmen kann, weil die Anbieter keine andere Wahl haben, als an diesen einen Käufer zu verkaufen. Der Chokepoint (dt. Flaschenhals) des Buchhandels ist Amazon, weil es sich kein Verlagshaus, sei es auch noch so groß, leisten kann, seine Bücher nicht dort anzubieten. Diese Situation betrifft zwar vor allem Verlage, die jedes ihrer Bücher auf Amazon platzieren müssen, sie betrifft aber auch Selfpublisher, denen Amazon überhaupt erst die Möglichkeit gegeben hat, gelesen zu werden und auch ohne Verlage die Chance auf einen literarischen oder ökonomischen Erfolg zu haben.

Die enge Verbindung zwischen dem Verkauf von Literatur und Amazon wirft eine Frage auf, die an den Grundfesten unserer Vorstellung einer autonomen Literatur rütteln könnte. Es geht um die Überlegung, welchen Einfluss Onlineriesen wie Amazon auf das Erzählen und die Gestalt von Literatur unserer Gegenwart haben. Einen Teil dieser Frage wirft Mark McGurl in seinem Buch „Everything and Less. The Novel in the Age of Amazon“ auf. Die provokante These, die seinen Ausführungen zugrunde liegt, besteht darin, dass Amazon die literarische Innovation vorantreibt, die einst von der Moderne und den Avantgarden getragen wurde. Das läge daran, dass der Vertrieb von Literatur durch Amazon einen signifikanten Einfluss darauf habe, wie Literatur geschrieben wird. Die schiere Übermacht von Amazon auf dem Buchmarkt nimmt nicht nur Einfluss darauf, wie wir Bücher kaufen, sondern auch darauf, wie wir lesen. Literatur, mit der Geld verdient werden soll, muss den Gesetzen des Marktes folgen. Um McGurl zu paraphrasieren: Literatur kann nur das hervorbringen, was der Markt erlaubt, und der Markt ist Amazon.

Tatsächlich ist diese These mindestens gewagt, denn letztlich beschreibt McGurl mit Blick auf die Gestaltung einer bestimmten Art von Literatur – der Genre-Literatur – nichts explizit Neues. Inspirierend für das Gespräch über den Literaturmarkt der Gegenwart sind seine Ausführungen aber in jedem Fall, weil sie zeigen, wie unter den Bedingungen, die Amazon geschaffen hat, Literatur verkauft und gelesen wird. Und das hat auch Folgen für die Produktion.

Leser*innen als Kund*innen

Die Überlegungen von McGurl und Giblin/Doctorow gehören zusammen, denn die uneingeschränkte Marktmacht von Amazon führt dazu, dass sich die Gegenwartsliteratur den Vertriebsstrukturen des Onlinehandels anpasst. Der Konzern selbst produziert keine Inhalte, hat aber inzwischen durchaus selbst Strukturen eines Verlagshauses mit mehreren Imprints entwickelt. Anders als “normale” Verlage vertreibt der Megakonzern aber nicht nur eigene Bücher, sondern alle. Da Amazon tatsächlich den gesamten Verteilungsprozess des Buchmarkts regelt und jeden, der Literatur herstellt – Verlage und Autor*innen – , von sich abhängig macht, wird das Unternehmen selbst zu einem entscheidenden Faktor im Literaturbetrieb. Amazon sieht die Leser*innen in erster Linie als Kund*innen, deren Wünsche der Konzern nicht nur erfüllen, sondern auch erzeugen will. Für McGurl geht es dabei vor allem um Kundenbedürfnisse, “über allem steht das Bedürfnis nach einer verlässlichen Quelle des Komforts, oder eines Nutzens in seiner ursprünglichen Bedeutung, in der Nutzen eher mit einem Gefühl des Wohlbefindens zu tun hatte als mit der nüchternen infrastrukturellen Sparsamkeit, an die der Begriff heute erinnert.” In dieser Logik werden die Autor*innen zu Dienstleister*innen, die ein bestimmtes Produkt in einer bestimmten Form herstellen, um ein Grundbedürfnis zu sichern, in diesem Fall das Bedürfnis nach immer verfügbarer Literatur.

Amazon und andere Onlinedienste wie Spotify, Netflix und Disney+ haben unsere Art zu konsumieren verändert, weil sie uns mit allem, was wir brauchen und wollen in kürzester Zeit versorgen. Auf Literatur, Musik, Filme und Serien können wir innerhalb von Sekunden zugreifen, alle anderen Produkte und Lebensmittel können wir uns innerhalb von nicht einmal 24 Stunden liefern lassen. Diese absolute Verfügbarkeit erzeugt nicht nur Überfluss, sondern auch den Anspruch, alles zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben. Das Konzept des Binge-Watchings ist zu einer verbreiteten Rezeptionsform der Streamingserie geworden und die Musik für jede Stimmung ist immer griffbereit. 

Auch wenn Literatur inzwischen zu einem nicht unbedeutenden Anteil genauso konsumiert wird, wird Literatur bisher im öffentlichen Diskurs von dieser Art des Kulturkonsums weitgehend ausgenommen – sonst hätte man während der Pandemie-Lockdowns die Buchhandlungen schließen können. Bücher konnten ja schon damals digital erworben werden. Die konsequente Verfügbarkeit von eBooks im Kindle-Store und die leichte Zugänglichkeit durch Über-Nacht-Bestellung direkt an die Haustür aber haben diesen Konsummodus längst auch in den Literaturmarkt überführt. Amazon ist also daran gelegen, dass wir als Leser*innen immer mehr Lesestoff wollen und diesen auch sofort bekommen können. Anders gesagt, Amazon will, dass wir lesen, wie wir Serien schauen: immer und überall und am besten schon mit Blick auf die nächste Folge.

Lesen in Serie

Serien selbst sind in der Literatur keine Neuheit. Die Perry-Rhodan-Reihe erscheint seit 1961 in Serie und schon Honoré de Balzac erzählte in literarischen Reihen. Amazon aber hat dieses Prinzip durch seinen Status als eigene digitale Publikationsplattform auf das nächste Level gehoben, indem es seinen Kund*innen ermöglicht, wie bei einem Streamingdienst über das Abo-Modell Kindle-Unlimited eigene Literaturserien quasi streamen zu können. 

Mit Reihen wie „Tofino Bears“, die Spieler einer kanadischen Eishockey-Mannschaft in jedem Buch in Liebesabenteuer schickt und „explizite Szenen“ garantiert, hat Amazon den Publikationsmodus von Streaming-Serien vollständig auf den Literaturmarkt übertragen. Trotz ihrer stolzen Länge von jeweils ungefähr 250 Seiten sind die zehn Folgen in zwei Staffeln im Sommer 2022 und im Januar 2023 bei Amazon erschienen – im Abstand von etwa ein bis zwei Wochen. Ähnlich wie bei anderen Literaturserien, ist hier das Konzept „Autor*in“ ins Wanken geraten, weil diese Form der Publikation nur von mehreren Personen getragen werden kann. Zwar werden die einzelnen Bücher von jeweils einer Person unter Pseudonym geschrieben, jedoch zeichnen insgesamt fünf Schreibende verantwortlich für die Reihe. Letztlich handelt es sich hier um eine Art Writers Room für Literatur. Literatur dieser Art sprengt den Rahmen der Gattung Roman, die Bücher sind in Form und Publikation die literaturgewordene Streaming-Serie.

Reihen – oder Serien – wie „Tofino Bears“ gibt es auf Amazon unzählige. Sie sind genuine Produkte des Onlinekaufhauses und nur dort erhältlich. Vor allem sind sie auch äußerst erfolgreich. Die aktuellen Bände sind regelmäßig auf den ersten Plätzen der Amazon-Kategorien „Top 100 Kindle-Shop“, „Liebesromane“ und „Zeitgenössische Liebesromane im Kindle-Shop“. Sie sind das Extrembeispiel dafür, wie Amazon unser Leseverhalten und das Schreiben von Literatur beeinflusst. Dieser Einfluss zeigt sich aber nicht nur in solchen Extrembeispielen, sondern auch in Literatur, die beinahe noch traditionell produziert wird, aber deren Autor*innen teilweise erst über Amazon als Selfpublisher die Chance bekamen, ihre Romane zu publizieren. Einige dieser Autor*innen sind inzwischen zu traditionellen Verlagshäusern gewechselt und bescheren ihnen mit immer neuen Romanen Millionengewinne.

Eine solche Geld- und Romangarantie ist die US-amerikanische Autorin Colleen Hoover. Sie platzierte sich im vergangenen Jahr mit acht Titeln auf den Jahresbestseller-Listen des SPIEGEL und bescherte dem Buchmarkt einen Umsatz von mehr als 20 Mio. Euro. Auch die deutsche Autorin Mona Kasten hatte großen Erfolg. Sie konnte im letzten Jahr zweimal einen Titel in der Hardcover-Bestenliste des SPIEGEL platzieren. Ihr Roman „Fragile Heart“ ging mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren ins Weihnachtsgeschäft. Es handelt sich bei Hoover und Kasten also um die mit am meisten gelesene Art von Literatur in Deutschland im Jahr 2022.

Was diese beiden Autorinnen neben dem Erfolg und dem Genre „Romance“ gemeinsam haben, ist der Beginn ihrer Karrieren auf einer Amazon-Selfpublishing-Plattform und die Dauerpräsenz ihrer Bücher auf TikTok. Das Phänomen BookTok, also die Inszenierung von Büchern und des Lesevorgangs, ist längst zum Massentrend geworden, der einen enormen Einfluss auf den Literaturmarkt hat. Das Siegel „TikTok made me buy it“ ist inzwischen ein ähnlicher Ausweis für Popularität wie der Spiegel-Bestseller-Aufkleber und eine eigene Suchkategorie bei Amazon. Die deutsche Ausgabe von Hoovers Megaseller „Nur noch ein einziges Mal“ liegt zwei Jahre nach Erscheinen noch in den deutschen Top 20 der meistverkauften Bücher auf Amazon, in manchen Kategorien gar noch auf Platz 1.

Dabei schreiben Hoover und Kasten sogar vergleichsweise langsam – wobei „langsam“ hier immer noch relativ zu sehen ist. Hoover hat in den letzten zehn Jahren 21 Romane und drei Novellen veröffentlicht, Mona Kasten 14 Romane in den letzten acht Jahren. Damit sind die beiden Autorinnen und andere aus diesem Segment der Romance-Literatur für junge Erwachsene die Schnittstelle zwischen der Amazon-Literatur und dem traditionell eher trägen Buchmarkt, weil sie erst durch Amazon zu publizierenden Autorinnen wurden und nach den ersten großen Erfolgen in traditionelle Verlagshäuser wechselten.

TikTok und der Leserausch

Die Selbstinszenierung der Leser*innen in den sozialen Medien als rauschhaft Lesende, die bei einem Roman von Emma Scott „noch nie so viel geweint“ haben oder Hoovers Romane „in weniger als 24h gelesen haben“, ist der sichtbare Beweis für die Sogwirkung dieser Literatur als Binge-Konsumerlebnis. Zwar erscheinen die Romane nicht im Rhythmus von wenigen Wochen, aber ihre Darstellung auf TikTok und die immer noch kurzen Publikationszyklen zeigen, wie nahe der Vergleich mit Streamingserien auch hier liegt. Die Bücher werden geradezu inszenatorisch verschlungen, große Stapel weisen darauf hin, wie viel gelesen wurde, und die Leser*innen beraten sich gegenseitig dabei, wie man besonders gut in den Binge-Modus kommt. Diese Form der Rezeption hat inzwischen auch TikTok als lukrativ erkannt. Vergangenen November schloss TikTok eine Partnerschaft mit mehreren großen englischen Verlagshäusern ab, die es User*innen ermöglicht, Bücher direkt über die App zu kaufen. Damit hat TikTok zwar längst nicht die Marktmacht von Amazon, aber es ist ein weiterer Schritt in die Richtung Einfluss auf den Literaturmarkt zu nehmen.

Der einzelne Roman ist auch hier beinahe irrelevant geworden, entscheidend ist, dass die Leser*innen den erwartbaren Lesestoff von den entsprechenden Autorinnen bekommen. Die Romane von Hoover, Kasten oder auch Scott sind sich zum Verwechseln ähnlich: eine (meist weiblich gelesene) Hauptfigur in Alter und Milieu nahe genug an der Zielgruppe, um Identifikation zu erzeugen, und weit genug von ihr entfernt, um als Eskapismus funktionieren zu können. Der Erzählton in der ersten Person ist locker und anspielungsreich, die Handlung ein chaotisches, mal witziges und mal dramatisches Liebesleben. 

Die ersten Seiten entwerfen schnell ein Bild von der Erzählfigur, die durch Rückblenden und Andeutungen ähnlich einer Pilotfolge bei Serien die Story anbahnt. Zentral ist auch das US-amerikanische Setting, unabhängig davon, ob die Romane von deutschen oder US-Autorinnen stammen. Die einzelnen Bände der „Tofino Bears“ folgen einem ähnlichen Muster, nur dass hier männliche Sportler im Mittelpunkt stehen. Es handelt sich im Grunde genommen um klassische Genre-Literatur, die unter den Bedingungen eines Lesemarktes im 21. Jahrhundert entsteht und vertrieben wird. 

Das Erzählen im Genre ist die zentrale Form von Literatur in einem Betrieb, dessen Strukturen von Amazon dominiert werden und der mit Hilfe von TikTok Millionenbestseller hervorbringt. Für McGurl liegt das auch daran, dass Genre-Literatur in ihrer Grundidee einem Prinzip folgt, das unseren Medienkonsum im 21. Jahrhundert bestimmt: Streamingdienste und die permanente Verfügbarkeit von allen Produkten erzeugen nicht nur Verlässlichkeit selbst, sondern auch den Wunsch danach. Alles ist immer verfügbar und wir wissen, was wir wo bekommen. Das Gleiche gilt für die Literatur von Hoover und Kasten und jede andere Form von Genre. Es ist eine Literatur der gut konsumierbaren Verlässlichkeit in einem festen Rahmen. Das war Genre-Literatur schon immer und Amazon und TikTok haben erkannt, dass die Regeln, nach denen Kultur im 21. Jahrhundert konsumiert wird, dem Genre-Prinzip entgegenkommen. Deswegen hat Amazon längst eine Streaming-Plattform für Literatur geschaffen, die seine Leser*innen zuverlässig mit der Unterhaltung versorgt, die sie sich wünschen. TikTok ist gerade dabei.

Du musst dein Lesen ändern

Für die Literatur und ihre Produzent*innen ist diese Entwicklung Chance und Gefahr zugleich. In einer krisengeschüttelten Branche kann eine solche Form des Konsums lukrativ sein und hohe Einnahmen generieren, von denen Verlage im sogenannten Hochkulturbereich oft nur träumen können. TikTok kreiert über die Begeisterung seiner Nutzer*innen inzwischen Millionenbestseller und kann sie auch verkaufen und Amazon verhilft selbstpublizierenden Autor*innen im Idealfall zu finanzieller Stabilität oder gar Reichtum – an dem aktuell noch Verlage teilweise mitprofitieren. Gleichzeitig garantiert diese Entwicklung vor allem hohe Verkäufe über Amazon und festigt damit die erdrückende Abhängigkeit des Buchmarktes von dem Online-Riesen. 

Diese Entwicklung bietet jedoch immerhin die Chance zu Überlegungen zum Selbstanspruch von Literatur im kulturellen Diskurs. Genre-Literatur wird auf Amazon zwar in ähnlicher Weise gelesen und auf TikTok inszeniert, wie wir Serien schauen, aber diese Art der Literatur findet kaum ihren Weg in die öffentliche Debatte oder das feuilletonistische Gespräch über Literatur. Das war bei Genre-Literatur in den letzten Jahrhunderten meistens so. Die Streaming-Serie hat diese Grenzen gerade wegen ihres großen Spektrums inzwischen überwunden. Selbst in akademischen Kreisen und im Feuilleton ist man sich inzwischen einig, dass man schnell produzierte und unterhaltsame Serien am Wochenende am Stück schauen kann, ohne sein Selbstbild als gebildete*r Kulturconnaisseur*in zu zerstören.

Wir schauen völlig selbstverständlich die x-te mittelmäßige bis peinlich-kitschige Star-Wars-Serie in einem Rutsch und sprechen darüber genauso, wie wir uns über das neue Serien-Meisterwerk aus dem Hause HBO freuen. Lesen aber gilt im bildungsbürgerlichen Milieu und im feuilletonistischen Diskurs weiterhin als anspruchsvolle Tätigkeit, die unter Rechtfertigungsdruck gerät, wenn sie als Unterhaltung dient, die wie eine Serie digital konsumiert wird. Dabei ließe sich zumindest die Frage stellen, ob nicht in der streamingähnlichen Publikationsform von Literatur und dem populären Diskurs auf TikTok Chancen sichtbar werden, die auch bei literarischen Reihen ein Spektrum wie bei den Serien entstehen lassen könnten. Wenn Literatur die leicht konsumierbare Action-Serie oder die Romanzenreihe kann, warum soll sie nicht Serien entwerfen, die im Feuilleton oder auf Twitter diskutiert werden wie HBO-Serien? 

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Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE