Die Sicht der anderen – Wie man True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

Neben dem Kritikpunkt, wie die Verbrecher dargestellt werden, gibt es noch einen weiteren. Die meisten True-Crime-Formate interessieren sich primär für Verbrechen an weißen, gut situierten jungen Frauen, die perfekten Opfer sozusagen. Das wirft unweigerlich eine Frage auf: Kann True Crime überhaupt ethisch sein? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja, es ist möglich. Aber nur unter einer bestimmten Bedingung, wie die folgenden drei Beispiele zeigen.

Maggie Nelson – Die roten Stellen

Die Autorin Maggie Nelson ist 1973 geboren und damit zu jung, um ihre Tante Jane kennengelernt zu haben, die im Jahr 1969 stranguliert und erschossen wurde. 35 Jahre sind seit dem Mord vergangen, als der ermittelnde Detective im November 2004 überraschend anruft und darüber informiert, dass es neue Hinweise auf den Täter gibt. Obwohl die Tat vor Nelsons Geburt geschah, hatte Jane einen nachhaltigen Einfluss auf  das Leben der Autorin. Die Trauer der Mutter und der ganzen Familie ist maßgebend für Nelsons Leben. Später wird sie sich intensiv mit Jane für ihr Buch „Jane: A Murder“ beschäftigen, das, wie der Zufall es will, bereits geschrieben ist und kurze Zeit, nachdem die Familie über die neuen Entwicklungen in dem Mordfall erfährt, publiziert wird. Sie hatte nicht geahnt, dass nach wie vor ermittelt wurde, beteuert Nelson, für die die Arbeit an „Jane“ wohl eine Form des Abschlusses mit diesem familiären Trauma darstellen sollte.

Doch nach dem Anruf des Detective ist alles anders. Ein Gerichtsprozess wird aufgerollt, der mutmaßliche Täter sitzt auf der Anklagebank. Und Maggie Nelson? Beginnt zu schreiben, notiert alle Details der Verhandlung, Gedanken um Jane, um ihre eigene Kindheit, um den Tod des Vaters, um eine frische Trennung. Am Ende steht das Buch „Die roten Stellen“ (2007, überarbeitete Version 2016), das den treffenden Untertitel „Autobiographie eines Prozesses“ trägt – denn „Die roten Stellen“ ist Memoir, True Crime und Essay in einem, oder um es mit den Worten der Autorin zu sagen: „eine eigentümliche empathische Meditation über die Beziehung von Zeit zu Gewalt, zu Trauer“, um gegen das Vergessen und die Sprachlosigkeit anzuschreiben, mit dem „Drang, mich und mein Material in ein ästhetisches Objekt zu verwandeln“.

True Crime bedeuten eine Ästhetisierung wahrer Verbrechen. Das ist aber noch keine Bewertung per se, ob das Endprodukt per se moralisch oder unmoralisch ist. Maggie Nelsons Buch zeigt aber, dass die Herangehensweise an das Verbrechen eine vollkommen andere ist, wenn man persönlich davon betroffen ist, selbst wenn es wie im Fall von Nelson nur aus zweiter Hand ist. Denn weder steht der Mordfall im Fokus (auch wenn Maggie Nelson nicht davor zurückschreckt, nüchtern die Fakten rund um den Mord wiederzugeben) noch die Suche nach Vergeltung – im Gegenteil stellt sie sich im Verlauf des Prozesses immer wieder die Frage, was eine Verurteilung des Mannes, der als Mörder von Jane angeklagt ist, überhaupt bedeuten würde.

Gerechtigkeit erwartet sie nicht. „Das Problem liegt vielleicht auch im Wort selbst, denn Jahrtausende lang hatte ‚Gerechtigkeit‘ Konnotationen von ‚Vergeltung‘ als auch von ‚Gleichheit‘, als ob die beiden nicht von einer klaffenden Kluft getrennt würden.“ Und so belastend die Beweislage ist, bleiben doch einige Ungereimtheiten und somit nicht zu leugnende Zweifel, ob der Mann, der schlussendlich verurteilt wird, wirklich der Mörder ist. Würde das etwas ändern für Jane, für Nelsons Familie? Wirkliche Erleichterung fühlt nach dem Schuldspruch keiner der Angehörigen. Jane bleibt tot, und die 35 langen Jahre bekommt niemand zurück.

Es sind vor allem die Grauzonen, die „Die roten Stellen“ ausmachen, ebenso wie die Reflexion über den Einfluss des Mordes auf die ganze Familie. Nelson zeigt, wie relevant Jane für ihr Leben war, obwohl sie sie nie kennenlernen konnte, wie sehr familiäre Traumata alle Angehörigen betreffen. Und obgleich ihr Buch durchaus kritisch mit der Gattung True Crime umgeht – der Gerichtsprozess wird von einem Fernsehteam begleitet, das Nelson auch interviewt – weiß sie, dass sie sich selbst in diesem Grenzbereich bewegt. Es ist keine einfache Verurteilung des ausbeuterischen Genres oder der Menschen, die True Crime konsumieren. Nelsons Weigerung, auf die vielen Fragen in ihrem Buch einfache Antworten zu finden, schließt auch das Genre selbst mit ein. Es ist eben, wie sie sagt, eine Meditation.

iO Tillett Wright – The Ballad of Billy Balls

Auf gewisse Weise ähneln sich die Fälle von iO Tillett Wright und Maggie Nelson – iO Tillet Wright ist Autor und Fotograf aus New York City, der in den achtziger und neunziger Jahren in dem damals noch gefährlichen East Village lebte. Von dem Aufwachsen in dieser Umgebung als genderfluides beziehungsweise trans Kind erzählt sein Memoir „Darling Days“ (2016) ebenso wie von der Beziehung zu seiner Mutter Rebecca Wright. Eine in jedem Sinne des Wortes unkonventionelle Mutter, die als Freigeist einerseits die Genderidentität von iO nie groß infrage stellte, ihn andererseits aber auch extrem vernachlässigte und mit ihren eigenen Dämonen und Abhängigkeiten kämpfen musste. Der Podcast „The Ballad of Billy Balls“ (2019) ist auf eine Art ein Prequel zum Memoir. Er rollt unter anderem auf, welche Dämonen Rebecca seit Jahrzehnten quälen.

Auch in diesem Fall sind gute 35 Jahre seit dem Mord vergangenen. Das Opfer ist der 37-jährige William Heitzman, in der Punkszene Manhattans besser bekannt als Billy Balls. Im Jahr 1977 lernen sich Punkrocker Billy und Model Rebecca kennen und verlieben sich Hals über Kopf. So wild ihre Beziehung von außen wirken mag, so groß und tief empfunden ist die Liebe zwischen den beiden. Bis in einer warmen Juninacht im Jahr 1982 ein Polizist in der Wohnung von Billy mehrfach auf diesen schießt. Zehn Tage lebt Billy im Krankenhaus noch weiter, scheint auf dem Weg der Besserung zu sein – doch plötzlich stirbt er. Und nicht nur das: Der Körper wird in ein Massengrab geworfen, Rebecca hat keine Möglichkeit, sich zu verabschieden und ihn anständig zu begraben.

Mehrere Jahrzehnte nach dem Mord ist Rebeccas Wut ungebremst, die Emotionen genauso offen und roh wie damals, die Fragen ungeklärt. Also versucht iO den Fall zu lösen. Warum musste Billy sterben? Und wo ist sein Körper begraben? Dreizehn Folgen (und einige Bonusepisoden) umfasst der Podcast, in dem sich iO Tillet Wright durch ganz New York City und über die Grenzen der Stadt hinaus auf die Suche nach Antworten macht. „The Ballad of Billy Balls” erzählt aber nicht nur davon, sondern ist auch ein einfühlsames Mutter-Kind-Porträt und lässt dem unbändigen Schmerz der Mutter Raum, um die Auswirkungen des Mordes in all seiner Wucht zu zeigen (dadurch gibt es in den ersten zwei Folgen lange O-Töne, die den Einstieg in den Podcast etwas zäh machen). Für iO handelt es sich um eine in mehrfacher Hinsicht komplexe Situation. Er erfährt Details aus Rebeccas Leben, von denen er nichts ahnte und die ihn rückblickend viele Situationen in der eigenen Kindheit neu bewerten lassen. Vor allem aber ist der Mord an Billy für ihn ganz existentiell. Wäre Billy nicht gestorben, hätte iO (der 1985, also drei Jahre nach dem Mord, geboren wurde) nicht gelebt.

Der Podcast ist somit einerseits eine spannende Rekonstruktion des Mordfalls mit einigen überraschenden Wendungen, andererseits auch eine Dokumentation der verheerenden langjährigen Auswirkung, die ein gewaltsamer Verlust auf jemanden haben kann – und, genau wie bei Maggie Nelson, ebenso auf diejenigen, die die ermordete Person nie kannten. Und er gibt Rebecca Wright zumindest die Möglichkeit zu versuchen, dieses Trauma mit dem Wissen, das sie und wir heute haben, zu verarbeiten.

A Friend of the Family

Das große Problem bei True Crime ist gerade bei der Verfilmung der Verbrechen, dass die Opfer beziehungsweise die Angehörigen häufig dafür ausgebeutet werden. Bei „Dahmer“ ist das besonders gravierend – nicht nur wegen der Slasher-Aspekte der Serie, sondern auch, weil die Familien der Ermordeten nicht um Erlaubnis gebeten wurden. „Es fühlte sich so an, als würde ich es noch einmal durchleben“, schreibt Rita Isbell, Schwester eines Opfers, in einem Essay für Insider. „Es brachte all die Gefühle zurück, die ich damals empfunden habe. Ich wurde wegen der Serie nie kontaktiert. Ich finde, Netflix hätte uns um Erlaubnis bitten sollen. Sie haben das nicht getan. Sie machen einfach Geld mit dieser Tragödie.“

Die Schlussfolgerung aus diesem Vorwurf ist nicht zwingend, dass wahre Verbrechen nicht verfilmt werden sollten. Die Serie „A Friend of the Family“ (Peacock, 2022) zeigt, wie man aus schrecklichen Taten eine hochspannende und ethisch vertretbare Serie drehen kann. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Spannung psychologischer Natur ist und nicht aufgrund besonders grauenhafter Darstellungen entsteht. „A Friend of the Family“, unter anderem mit Colin Hanks, Anna Paquin, Mckenna Grace und dem brillanten Jake Lacy („The White Lotus”, „Girls”) in den Hauptrollen, erzählt von zwei Familien, die in den siebziger Jahren in einer Kleinstadt in Idaho Tür an Tür wohnen. Die Brobergs und die zugezogenen Berchtolds sind sich sehr ähnlich (hinsichtlich des Alters, mehrere Kinder, religiös, angepasst), und so ist es kein Wunder, dass sich die Familien sofort anfreunden und alle in beiden Häusern munter ein und aus gehen.

Und dann geschieht das Undenkbare: Tom Berchtold (Lacy), „Onkel B.“ genannt, kidnappt die 12-jährige Jan Broberg und entführt sie nach Mexiko. Ihm gelingt es, sie so zu manipulieren und gaslighten, dass Jan glaubt, sie müsse bei ihm bleiben, um nicht nur eine außerirdische Spezies, sondern auch ihre beiden kleinen Schwestern zu retten. Sie ist so sehr davon überzeugt, dass sie auch nach ihrer Rettung alles daransetzt, um wieder mit Tom Berchtold zusammen zu sein. Auch wenn die Handlung auf wahren Begebenheiten basiert, erscheint ihr Verlauf so abwegig, dass man ihr vorwerfen könnte, unrealistisch zu sein.

So absurd ist diese Story, dass es auch beinahe unmöglich ist, sie filmisch umzusetzen. „A Friend of the Family” aber gelingt das in jeder Hinsicht. Herausgekommen ist ein psychologisch dichtes Drama, das sich in neun knapp einstündigen Folgen genug Zeit nimmt, um die Beziehungen der Figuren zu erzählen, zu erläutern, wie es zur Gehirnwäsche Jans kommt und vor allem, was für Auswirkungen Entführung und Missbrauch auf die Familien, allen voran natürlich auf Jans Eltern (Paquin und Hanks), haben. Dass die Serie trotz ihres Themas funktioniert, ist zum einen dieser Erzählweise zu verdanken, zum anderen aber auch den herausragenden Schauspieler*innen. Vor allem aber ist es – wie bei Nelson und Wright – die Tatsache, dass Jan Broberg selbst an der Produktion beteiligt war.

So stehen die Konsequenzen von Berchtolds Verbrechen in all seinen Facetten im Fokus von „A Friend of the Family“. Sowohl für Jan und ihre Psyche (und natürlich ihre körperliche Versehrtheit) als auch für die verzweifelten Eltern. Die changieren zwischen Sorge um ihre entführte Tochter, der Verzweiflung, die zurückgekehrte Tochter emotional nicht erreichen zu können, ihrer Angst, aber auch ihrer eigenen Faszination für Tom Berchtold. Und nicht zuletzt geht es auch um den Einfluss, den dieser Kriminalfall auf die Kleinstadt hat und um die polizeilichen Ermittlungen. Worum es nie geht: Tom Berchtolds Gedanken, Wünsche, Befindlichkeiten oder seine Kindheit. Und das ist bemerkenswert, denn oft sind es gerade diese Elemente der Täterpersönlichkeit, die in True-Crime-Formaten gerne als erzählerische Kniffe verwendet werden, um dem Täter mehr psychologische Tiefe zu verleihen, die narrativ aber keine andere Funktion hat als die Verbrechen zu relativieren.

Mangel an Faszination für Täter und Taten

Was „Die roten Stellen“, „The Ballad of Billy Balls” und „A Friend of the Family” gemeinsam haben, sind zwei Faktoren: Sie interessieren sich wenig für den jeweiligen Täter. Ob der Mörder von Jane, der Polizist oder Berchtolt, wir erfahren so gut wie keine biografischen Details von ihnen und nichts von ihrer (immer nur vermeintlichen) Innensicht. Und es sind immer die Angehörigen beteiligt, die diese Geschichten erzählen, wodurch sich die Aufmerksamkeit auf die Opfer und ihr Umfeld richtet. Auch wenn sie nicht unbedingt didaktisch angelegt sind, dienen sie so eher der Abschreckung und Aufklärung. Vor allem aber glorifizieren sie Taten und Täter nicht.

Ob als Dokumentation oder fiktionalisiert in Film und Serie, wird deutlich: Will man auf ethische Weise wahre Verbrechen beschreiben, könnte man als ersten Grundsatz festlegen, dies nicht reißerisch zu tun – dem folgt etwa „Dahmer“. Aber eine nüchternere Erzählweise ist nicht genug. Relevant ist, das oder die Opfer in den Fokus zu nehmen, um dem Publikum zu verdeutlichen, welche Auswirkungen die Verbrechen für die Hinterbliebenen (und Überlebenden, wenn es sie gibt) haben. Sprich: Die Geschichte sollte nicht aus der Sicht des Täters erzählt werden, was dazu einlädt, sich mit ihm zu identifizieren und oft auch mit ihm zu sympathisieren. Und um angemessen von den Konsequenzen der Taten zu berichten, ist es auch unerlässlich, die Opfer selbst in den Entstehungsprozess des Werkes einzubinden. Die drei Beispiele hier zeigen: Es ist möglich. Man muss es nur wollen.

Foto von Salah Ait Mokhtar auf Unsplash

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