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Alle sind wunderschön und niemand horny – Die Desexualisierung von Superheldenfilmen

von RS Benedict
übersetzt aus dem Englischen von Tobias Eberhard

Als Paul Verhoeven in den späten 1990er Jahren Starship Troopers drehte, wusste er damals schon, dass er die Zukunft voraussagte? Der endlose Wüstenkrieg, die allgegenwärtige Militärpropaganda, eine Person, die freudig schreiend den Sieg verkündet, während sich im Hintergrund die Körper immer weiter auftürmen.

In der Szene aber, die sich wahrscheinlich am nachhaltigsten in den Köpfen der 90er-Jahre-Kinder festgesetzt hat  – und die gleichzeitig unsere aktuelle Filmära vorwegnahm – kommen weder Insektenaliens noch Waffen vor. Es ist, wie sollte es anders sein, die Duschszene, in der unsere heroischen Soldaten und Soldatinnen ihr gemeinsames Körperpflegeritual zelebrieren.

Oberflächlich betrachtet herrscht die absolute Idylle: ethnische Harmonie, Geschlechtergleichheit, Einigkeit gegenüber einem gemeinsamen Ziel – und stramme Ärsche und Brüste.

Und dann unterhalten sich die Charaktere, natürlich über den Militärdienst. Eine hat sich gemeldet, um ihre politische Karriere voranzubringen. Ein anderer spricht davon, wie sehr es ihn danach verlangt, den Feind zu töten. Eine andere wiederum hatte gehofft, durch den Militärdienst schneller an ihre Lizenz zur Fortpflanzung zu kommen. Niemand schaut sein Gegenüber an. Niemand flirtet.

Ein Raum voll wunderschöner, nackter Körper, und alle sind einzig und allein geil auf den Krieg.

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In den frühen 2000ern gab es eine kurze Phase, in der Schauspielerinnen vorgaben, dass sie von Natur aus, fast zufällig, dünn seien. Magere Berühmtheiten gestanden in Magazinen ihre Liebe zu Burgern und Pommes; Models verleibten sich in aller Öffentlichkeit Nudeln ein, während sie für Steckbriefe interviewt wurden; Hauptdarstellerinnen machten Witze darüber, wie wenig Sport sie trieben und wie sehr sie das Trainieren verabscheuten. Das war natürlich Quatsch: Ohne auf die Kalorienzufuhr zu achten, sieht niemand so aus. Wir wussten es damals, und wir wissen es auch heute. 

Mittlerweile machen wir uns aber nichts mehr vor. Wie auch, bekommen wir doch bei jeder Blockbuster-Promotionstour detailreiche Beschreibungen der Fitnesspläne der Darsteller*innen. Wir sehen Schauspieler*innen unter den strengen Augen der Personal Trainer Burpees machen oder Seile schlenkern. Ab und an wird von Diäten gesprochen, aber Genaueres darüber hört man selten – und natürlich verliert niemand ein Wort über Steroide oder andere Hormonzusatzmittel, wobei alles auf chemische Hilfsmittelchen hindeutet, wenn Schauspieler ihre sehr plötzlich sehr aufgepumpten Körper auf Instagram präsentieren.

Schauspieler*innen sind äußerlich perfekter als jemals zuvor: unfassbar schlank, schockierend muskulös, umwerfend frisiert, mit hohen Wangenknochen, makellosen chirurgischen Verbesserungen und reiner Haut – dieses Gesamtpaket wird uns in körperbetonten Superheld*innenkostümen präsentiert, wobei die obligatorische Oben-ohne-Szene natürlich nicht fehlen darf, damit wir die definierten Bauch- und tanzenden Brustmuskeln gebührend bewundern können.

Und das beschränkt sich nicht nur auf die Hauptrollen und Love Interests. Auch die Nebencharaktere sehen so aus, sogar die Bösewichte (oftmals unter monströsem Make-Up verborgen) werden von konventionell attraktiven Schauspieler*innen verkörpert. Selbst die Kompars*innen sehen gut aus, oder zumindest unanstößig nichtssagend. Niemand ist hässlich. Niemand ist wirklich dick. Alle sind wunderschön.

Und doch ist niemand horny. Selbst beim Sex nicht. Niemand fühlt sich zu irgendwem hingezogen. Niemandem verlangt es nach irgendwem.

Wenn sich Millennials oder Gen-X-Leute heute einen Film aus den 80ern oder 90ern anschauen, sind sie oft erstaunt über die mittlerweile in Vergessenheit geratenen sexuellen Inhalte: John Connors Zeugung in “Terminator”, Jamie Lee Curtis oben ohne in “Trading Places – Die Glücksritter”, der spektrale Blowjob in „Ghostbusters“. Niemand war beim ersten Sehen über diese Szenen schockiert. Natürlich kommt in Filmen Sex vor. Ist das nicht immer so?

Die Antwort ist klar: Nicht mehr – zumindest nicht im Fall der modernen Blockbuster.

Uns wird gesagt, dass Tony Stark und Pepper Potts ein Liebespaar seien. Aber in keinem der Filme spüren wir irgendeine romantische oder sexuelle Anziehung zwischen den beiden. Auch Wonder Woman und Steve Trevor fehlt sie, als Zuschauer*in nimmt man ihnen zu keiner Zeit ab, dass sie so sehr Bock aufeinander haben, dass einer von beiden einen komatösen Körper übernehmen würde (so wie es in “Wonder Woman” 1984 passiert), damit sie postum noch einmal miteinander rummachen können. Ganz untypisch für die nordische Mythologie grinst Chris Hemsworths Thor Natalie Portman nur dümmlich wie ein Hundewelpe an, ohne dass er jemals den Versuch unternimmt, naja, seinen mächtigen Hammer zu schwingen. Und es ist nicht so, als ob die Konkurrenz da irgendwie besser wäre. Auch wenn er immer wieder als Ikone der Incel-Bewegung bezeichnet wird, ist es Heath Ledgers Joker, und nicht Christian Bales keuscher und sexloser Batman, der in der Dark-Knight-Trilogie noch am ehesten irgendeine sexuelle Energie versprüht.

Und wenn wir gerade schon mal bei Christopher Nolans unerklärlich sexlosem Oeuvre sind – fand es sonst niemand seltsam, dass sie in “Inception” in die tiefste Ebene des Unterbewusstseins eines reichen Mannes vordringen und dort keinen abartigen psychosexuellen, ödipalen Alptraum vorfinden, sondern eine … Ski-Abfahrt?

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Aber machen wir uns nichts vor: Das alte Hollywood war auch nicht gerade für seine progressive Body Positivity bekannt. Seit das frühe Sexsymbol Theda Bara von der Kinoleinwand Abschied genommen hatte, haben Schauspieler*innen stets das Äußerste unternommen, um einen bestimmten Look aufrechtzuerhalten. Rita Hayworth unterzog sich einem „ethnischen Umstyling“, um ihre spanischen Wurzeln zu verbergen und so mehr Hauptrollen zu bekommen. Die Stars der 1920er Jahre limitierten ihre Flüssigkeitszufuhr auf zwei Gläser am Tag, um damit Gewicht einzusparen. Jane Fonda litt am Zenit ihres Status’ als Sexsymbol an schwerer Bulimie, ebenso wie Marlon Brando.

Aber in alten Filmen sah man immer noch erkennbare menschliche Körper und Gesichter, Körper, die man als einfache Person ohne ein Team von Personal Trainern, Ernährungsberater*innen, Privatköch*innen und Chemiker*innen erreichen konnte, sollte man das denn wollen. 

In den Filmen der Achtziger und Neunziger sahen die Stars gut aus, klar, aber eben auch noch wie Menschen. Kurt Russels Snake Plissken war ein absoluter Traumtyp, aber in Oben-ohne-Szenen sieht man, dass seine Bauchmuskeln nicht wie ein Waschbrett aussehen. Bruce Willis war ansehnlich, aber er ist heutzutage muskulöser als er es in den Neunzigern war, als er noch als wahres Sexsymbol angesehen wurde. Wenn sich Isabella Rosselini in “Blue Velvet” auszieht, kommt ihre blasse Haut und ihr weicher Körper zum Vorschein. Sie sieht verletzlich und real aus.

Aber: Diese Charaktere haben noch gebumst. Dorothy Vallens und Jeffrey Beaumant bumsten in „Blue Velvet“. Michael Keatons Batman und Michelle Pfeiffers dominante Catwoman bumsten. Kyle Reese und Sarah Conner bumsten. Snake Plissken haben wir zwar nie bumsen sehen, aber der ganze Charakter verströmt diese überwältigende Energie von jemandem, der bumst. Und ich würde wetten, dass mir niemand einen Mainstream-Film nennen kann, in dem eine geilere und queerere Szene vorkommt als das sexy Saxophonsolo aus “The Lost Boys”.

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Aus heutiger Sicht ist eine der markantesten Szenen aus “Poltergeist” (1982) nicht die mit der bösen Clownpuppe oder dem monsterhaften Baum, sondern ein Moment der unverkrampften Liebe zwischen den Eltern. Der Vater, gespielt von Craig T. Nelson, inklusive Glatze und Bierbauch, witzelt für seine Frau herum, während sie in ein altbackenes Nachthemd gehüllt einen Joint raucht und typische Grasgedanken zum Besten gibt und dabei über die Showeinlage ihres Mannes lacht. Schließlich wirft sich ihr Mann ausgelassen zu ihr aufs Bett. Die beiden sehen in dieser Szene nicht wirklich anmutig aus, aber ihre Beziehung fühlt sich greifbar und gewohnheitsmäßig und charismatisch und einfach echt an.

Auch ihr Haus wirkt echt. Überall liegen Spielsachen und Hefte auf dem Boden. Es stehen Pappkartons rum, die seit dem kürzlichen Umzug darauf warten, ausgepackt zu werden. Gerahmte Bilder lehnen an der Wand; offensichtlich ist noch niemand dazu gekommen, sie aufzuhängen. Die Küchenanrichten sind vollgestellt, die Mahlzeiten sind ausgelassen und chaotisch, wie man das in einem Haushalt mit drei Kindern erwarten würde. Sie bauen sich im Garten einen Pool, aber nicht um des Prestiges willen: Es soll ein Ort für die Kinder sein, zum Schwimmen, für die Eltern, um dort Partys zu schmeißen, und für den Vater, der dort seine Liebe zum Tauchen wieder aufleben lassen möchte.

Damals stand dieses Haus für eines der Ideale des US-amerikanischen Wohlstands. Im Kontrast dazu stehen die Häuser in heutigen Filmen, mit ihren riesigen, sterilen, gähnenden Räumen und minimalistischen Möblierung. Die Küchen haben Industrieausmaße und sind blitzblank, und nirgendwo ist etwas zu essen zu sehen. Es gibt kein Übermaß, kein Chaos.

In ihrem Blog „McMansion Hell“ bespricht die Journalistin und Architekturkritikerin Kate Wagner sehr genau, warum diese weithin verabscheuten 500-m2-Monstrositäten so furchtbar sind. Wieder und wieder kommt sie darauf zurück, dass diese „McMansions“ nicht dafür gebaut wurden, um als Zuhause zu dienen. Es sind kurzfristige Finanzanlagen.

Sie schreibt Folgendes: „Das Innere der McMansions wurde so designt, dass möglichst viele ‘Features’ zum kleinstmöglichen Preis hineinpassen.“ Diese Features sind allein dafür da, den Wiederverkaufswert des Hauses zu steigern, nicht um daraus einen Ort zu machen, an dem man gerne lebt. Es wird kein Gedanke an die Arbeit verschwendet, die nötig ist, um diese Häuser sauber und in Schuss zu halten. Das große Badezimmer ist mit fein gearbeiteten Steinoberflächen ausgestattet, die man nur mit einer Zahnbürste gereinigt bekommt. Die kathedralenartigen Decken im Wohnzimmer lassen die Heiz- und die Stromkosten für die Klimaanlage in exorbitante Höhen schießen. Der Kronleuchter in der Eingangshalle hängt so hoch, dass sich die Leuchten nicht mal mit einer Leiter tauschen lassen.

Das gleiche Schicksal hat unsere Körper ereilt. Ein Körper ist kein ganzheitliches System mehr. Er dient uns nicht mehr dazu, während unserer kurzen Zeit auf dieser Erde Freude und Genuss zu erfahren. Er ist kein Zuhause, in dem wir leben und glücklich sind. Auch er ist nur noch eine Ansammlung von Features: Sixpack, Thigh Gap, Cum Gutters. Diese Features haben auch nicht den Zweck, unser Leben angenehmer zu machen, sondern unseren Anlagewert zu steigern. Unsere Körper sind Investitionen, die ständig optimiert werden müssen. Nur warum eigentlich? Um uns das vage Gefühl zu geben, ein besseres Leben zu führen? Ist ein Leben mit Brot objektiv schlechter als eines ohne? Haben wir als Kinder davon geträumt, jede Kalorie und jeden Schritt zu zählen?

Noch vor ein oder zwei Generationen war es normal, dass Erwachsene nicht zur Selbstoptimierung sondern einfach nur zu ihrem Vergnügen Sport trieben. Menschen tanzten, weil sie Spaß daran hatten. Pärchen verbrachten zusammen Zeit beim Tennis. Kinder spielten Ball, weil sie nichts anderes zu tun hatten. Das Workout im Fitnessstudio erfüllte auch einen sozialen, und keinen moralischen Zweck. Menschen trainierten, um heiß auszusehen, damit sie andere heiße Menschen klarmachen und mit ihnen ins Bett steigen konnten. Wie auch immer man zu dem Ethos dahinter steht, das letztendliche Ziel war das Vergnügen.

Aber nicht heutzutage. Heute sind wir perfekte Inseln der emotionalen Selbstständigkeit, und das Verlangen danach, berührt werden zu wollen, wird als peinlich und co-abhängig angesehen. Wir machen das alles nur für uns selbst, da wir uns, natürlich ganz zufällig, verzweifelt nach einem körperlichen Standard sehnen, den eine gesichtslose Entität irgendwo in einem Versicherungsbüro festgelegt hat. 

Die Werbung für Fitnessstudios ist heutzutage meistens auf die streng autonome Selbstoptimierung ausgerichtet: Sei dein bestes Ich. Schaffe ein neues Ich. Wir treiben keinen Sport mehr – wir trainieren, mithilfe von Fitnessprogrammen, die Namen tragen wie Booty Bootcamp, als würden wir unsere Ärsche darauf vorbereiten, sie in den Großen Booty-Krieg zu schicken. Es gibt kein Versprechen von Intimität. Wie unsere Helden des Marvel-Cinematic-Universums und Rico und Dizzy und alle anderen Infanteriesoldat*innen aus Starship Troopers sind wir allein geil auf die Vernichtung.

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Eine Nebenwirkung der extremen Kalorienbeschränkung, über die wenig gesprochen wird, ist der Verlust der Libido. Dies passiert bei Bodybuildern, wenn sie auf Radikaldiäten sind, um schnell Fett zu verlieren, damit ihre Muskeln bei Wettbewerben besser zur Geltung kommen. Auch wenn sie physisch wie die angeblich perfekte Verkörperung der Männlichkeit aussehen, träumen sie nicht von Sexualpartner*innen, sondern von Burgern und Pommes. Viele Menschen, die an Essstörungen leiden, verlieren ihr Verlangen nach Sex vollständig und hören sogar auf zu menstruieren.

Werden einem Körper nicht ausreichend Kalorien zugeführt, muss er die zentralen lebenserhaltenden Systeme gegenüber allen Funktionen, die nicht unmittelbar für das Überleben des Körpers benötigt werden, priorisieren. Das sexuelle Verlangen gehört zur zweiten Kategorie, ebenso wie das höhere abstrakte Denken. Ein Körper, dessen Nahrungszufuhr bei gleichzeitiger erhöhter körperlicher Betätigung beschränkt wird, glaubt sich in einer Phase der Hungersnot – ein nicht gerade idealer Zeitpunkt zur Fortpflanzung.

Ist es nicht grausam puritanisch, ein sexuelles Ideal zu erschaffen, das gleichzeitig zum Verlust der Freude am Sex führt?

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Wenn sich eine Nation bedroht sieht, pumpt sie sich auf. Deutschland und Norwegen waren zum Ende der napoleonischen Zeit geradezu besessen von individueller Selbstoptimierung durch körperliche Ertüchtigung. Die Briten übernahmen diese Körperkultur, als sich das 19. Jahrhundert – und das britische Weltreich – dem Ende zuneigte. Selbst Yoga, wie wir es heute kennen, nämlich als Form des meditativen Krafttrainings, entstammt der indischen Unabhängigkeitsbewegung der 1920er und 30er Jahre.

Der treibende Gedanke dieser Bewegungen besteht nicht darin, einfache Freude an der Fitness, an körperlicher Stärke und äußerlicher Schönheit zu finden. Stattdessen steckt etwas Kompetitives dahinter. Es geht darum, stark genug zu werden, um gegen den Feind zu kämpfen, wer auch immer das sein mag.

Auch die Bevölkerung der USA, wie sollte es anders sein, konnte sich dessen nicht erwehren. Der Presidential Fitness Test kam zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf, nachdem in Studien herausgefunden worden war, dass die US-amerikanischen Kinder ihren europäischen Altersgenoss*innen in einigen Turn- und Flexibilitätsprüfungen hinterher waren. Die Paranoia des Kalten Krieges verstärkte diese Ängste, besonders zum Beginn der 1980er Jahre. Was, wenn die Kinder zu dick sind, um den Kommunismus zu besiegen? Diese Besessenheit verschmolz wunderbar mit dem Boomer-Yuppie-Narzissmus und brachte schließlich den Aerobic-Trend hervor.

Dann kamen die Neunziger, die Berliner Mauer fiel, und Spandex und Schweißbänder wurden plötzlich zum peinlichen Ding der Vergangenheit. In den USA war man immer noch ganz scharf darauf, dünn zu sein, aber nicht aus Gründen der körperlichen Kraft. Zwei Dinge geschahen zum langsam anbrechenden neuen Jahrtausend, die die Körperkultur zurück auf den Plan rufen sollten.

Zunächst wurde im Jahr 1998 beschlossen, den BMI-Standard um ein paar Punkte zu ändern. War in der Vergangenheit noch ein BMI von 27 (für Frauen) oder 28 (für Männer) nötig, um als übergewichtig zu gelten, war dies beim neuen Standard nun schon bei 25 Punkten der Fall. Über Nacht wurden neunundzwanzig Millionen US-Amerikaner*innen übergewichtig, ohne ein Gramm zugenommen zu haben. Gemäß den neuen Richtlinien konnten Ärzt*innen nun Diätpillen verschreiben oder ihren Patient*innen Operationen zur Gewichtsreduktion empfehlen.

Eine landesweite Panik war die Folge. In drastischen Überschriften las man von einer neuen Plage an dicken Menschen, deren Körper tickende Zeitbomben darstellten, die die Gesellschaft jederzeit in Tod und Zerstörung stürzen konnten. Archivbilder von dicken Menschen in der Öffentlichkeit, die vom Hals abwärts gefilmt wurden, um ihre Persönlichkeitsrechte zu wahren (und sie noch effektiver zu enthumanisieren), waren ein allgegenwärtiger Anblick im Fernsehen, wo hagere Nachrichtensprecher*innen von den Horrorszenarien der Adipositas-Epidemie berichteten. Seltsamerweise hielt man es nur in sehr wenigen dieser Berichte für nötig, die Änderung des BMI-Standards zu erwähnen.

Das zweite Ereignis war natürlich der 11. September.

Der Angriff auf das World Trade Center und das Pentagon hatte einen neuen Krieg gegen den Terror zur Folge. Die USA musste sich also in Form bringen, um als Sieger daraus hervorzugehen. Die hypermilitaristische Militärkultur der USA nach 9/11 vermischte sich mit der Gewichtspanik und resultierte in einer angsteinflößenden Entwicklung. Zum Sportunterricht in öffentlichen Schulen gehörten nun spezielle Militär-Fitness-Tage, an denen die Schüler*innen unter anderem das Werfen von Granatenattrappen übten. George W. Bush fügte dem Presidential Fitness Program eine Fitness Challenge für Erwachsene hinzu. Über das US-amerikanische und britische TV rollte eine neue Welle an Dokumentationen und Reality-Shows hinweg, in denen die Gesellschaft dafür fertiggemacht wurde, dass sie zu dick für den Sieg über al-Qaida sei: Honey, We’re Killing the Kids; Supersize Me; You Are What You Eat, eine Show, in der Brit*innen angemotzt wurden, wenn ihre Fäkalien nicht irgendwelchen peinlich genau gesetzten Standards entsprachen. Oder natürlich The Biggest Loser, worin sich die dicken Kandidat*innen von schlanken Trainer*innen auf eine Art und Weise anschreien lassen müssen, die sehr stark an die stereotypischen Methoden eines Drill Instructors erinnert.

Und nun sind Muskeln – riesige, pulsierende, durch Steroide aufgeblasene Muskeln – wieder auf den Bildschirm zurückgekehrt. Nur geht der neuen Muskelära die Erotik des 80er-Jahre-Actionkinos ab. Arnold Schwarzenegger zeigte seinen Allerwertesten in Terminator, Sylvester Stallone zog sich für den ersten “Rambo” und für “Tango & Cash” aus; in „Bloodsport“ sehen die geneigten Zuschauer*innen mehr von Jean Claude Van Dammes Körper als vom Körper seines Love Interests.

Die Adonisse des aktuellen Kinos sind meistens jedoch Never Nudes. Das Marvel Cinematic Universe ist strikt auf PG-13 (etwa FSK 12) ausgelegt, so wie man das von einem Disney-Produkt erwarten würde, aber auch im DC-Universe findet man sehr wenig menschliche Sexualität. Die Fans rufen stets nach „erwachseneren“ Superheld*innenfilmen; was sie damit meinen ist mehr explizitere Gewalt, niemals aber mehr Sex. Sie verloren vollkommen die Nerven wegen Dr. Manhattans leuchtendem blauen Penis in Watchmen, und sie haben Joel Schumacher niemals dafür vergeben, dass er Nippel auf Batmans Anzug gepackt hat. 

Die heutigen Stars sind Actionfiguren, aber keine Actionheld*innen. Ihre perfekten Körper existieren einzig und allein dafür, anderen Menschen Gewalt anzutun. Spaß haben bedeutet schwach sein, sein Team im Stich lassen, dem Gegner eine Chance zum Sieg präsentieren. So wie der zwischenzeitlich dicke Thor in “Endgame”.

Dieser Filmtrend spiegelt die alldem zugrunde liegende Kultur wider. Selbst vor der Pandemie waren die Millenials und Zoomer weniger sexuell aktiv als die Generation vor ihnen. Vielleicht machen wir uns zu viele Sorgen um das Ende der Welt; vielleicht sind wir zu pleite um auszugehen; vielleicht sorgt die Tatsache, dass wir mit Mitbewohner*innen oder unseren Eltern zusammenleben müssen, dafür, dass es uns unangenehm ist, jemanden mit nach Hause zu bringen; vielleicht stören in die Umwelt entlassene Chemikalien unseren Hormonhaushalt; vielleicht wissen wir nicht, wie wir außerhalb der Rape-Kultur mit menschlicher Sexualität umgehen sollen; vielleicht hat die uns anerzogene Botschaft, dass unsere Körper eine nationengefährdende Bedrohung darstellen, unsere Freude an körperlicher Lust getrübt. 

Gleichzeitig hat die Häufigkeit der Essstörungen stets weiter zugenommen. Wir bereiten unsere Körper immer noch darauf vor, gegen den Feind zu kämpfen. Und da wir hier gegen ein abstraktes Konzept Krieg führen, ist dieser Feind unsichtbar und nicht (an)greifbar. Um ihn zu besiegen, müssen sich unsere Körper auch ihrer Solidität entledigen.

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Aber es besteht Hoffnung. 

Robert Pattinson hat die Hauptrolle im neuen Batman-Film übernommen (2022). Er hat ganz stolz verkündet, dass er sich weigert, sich für die Rolle aufzupumpen, ganz zur Entrüstung der Fans. 

In einem Interview mit der Variety aus dem Jahr 2019 sagte Pattinson: „In meinen letzten drei oder vier Filmen hatte ich eine Masturbationsszene. In „High Life“. In „Damsel“. Und in „The Devil All the Time“. Mir ist das erst aufgefallen, als ich es zum vierten Mal [in “The Lighthouse”] gemacht habe.“

Ob er letztendlich der Held war, den wir brauchten, muss jede*r für sich selbst entscheiden.

Beitragsbild von Ali Kokab

Die Sicht der anderen – Wie True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

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„The Bear“: Eine verschwitzte Ode an die Gastronomie

von Leonard Schulz

Wenn man die aktuellen Produktionen der Serienlandschaft als Spiegel dessen betrachtet, was die Gesellschaft beschäftigt, dann zeigt die Arthouse-Serie „The Bear: King of Kitchen“, dass sich die Kulinarik als popkulturelles Trope auf einem neuen Höhepunkt befindet. Und dass sich ihre Darstellung gewandelt hat: Es geht nun nicht mehr bloß um die maximale Ästhetik von minimalistisch designten Gasträumen und aufwendig dekorierten Gerichten, sondern auch um die Arbeit dahinter: Blood, Sweat and Tears im Eifer des Küchengefechts.

Doch erstmal von vorne: die FX-Produktion „The Bear“ sorgte bereits vor Erscheinen für Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt an dem perfekt sitzenden weißen T-Shirt des Hauptdarstellers Jeremy Allen White lag (sogar der Guardian berichtete über das Shirt der schwäbischen Textilmanufaktur Merz b. Schwanen). Als die Serie dann im Sommer in den USA herauskam, erhielt sie überdurchschnittlich gute Kritiken. Die Food-Szene Europas musste sich bis zum 5. Oktober gedulden, dann gab es auch hier durchweg positive Kritiken. Auf Rotten Tomatoes erreicht „The Bear“ sogar eine Bewertung von 100%.

Die Serie dreht sich um das Chicagoer Lokal „The Original Beef of Chicagoland“, das vor allem für seine italienisch angehauchten Sandwiches mit lange gegartem Rindfleisch bekannt ist. Es ist ein Nachbarschafts-Restaurant, das über die Jahre zwar einen gewissen Kultstatus erlangt hat, doch eigentlich nicht dem Niveau des jungen Sternekochs Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) entspricht. Der ist hier nur Chefkoch, weil sein Bruder ihm das „Beef“ vermacht hat, bevor er zwei Monate vor dem Einsetzen der Erzählung Selbstmord begangen hat. Im Verlauf der acht rund dreißigminütigen Folgen geht es auf sensible Weise um den Umgang mit der Trauer, der Leere und die emotionale Starre, die der Suizid Michael „Mikey“ Berzattos in Carmy und den Angestellten des „Beef“ ausgelöst hat.

Seinen eigenen kulinarischen Anspruch muss Carmy zunächst erstmal runterschrauben, denn er will keines der bestehenden Crew-Mitglieder feuern und den Charakter des „Beef“ so gut wie möglich erhalten. Bald stolpert Sidney (Ayo Edibiri) ins „Beef“ und sucht eine Anstellung. Sie kommt ebenfalls aus dem Fine-Dining und wittert die Chance, an der Seite von Carmy Verantwortung als Sous-Chefin zu übernehmen. Doch im „Beef“ läuft es anders ab als in den Sterneküchen. Hier geht es um das reine Überleben: Lieferant:innen-Rechnungen bezahlen, (wortwörtliche) Brände löschen, sich mit Kleinkriminellen aus dem Block auseinandersetzen.

Zu allem Übel kommt noch hinzu, dass Carmys verstorbener Bruder einen Berg an Schulden bei einem Investor, der ein Bekannter der Familie ist, angehäuft hat, den es nun abzuzahlen gilt. Dazu muss Carmy auch mal mit dem besten Freund seines Bruders Richard (Ebon Moss-Bachrach), genannt Cousin, auf der Geburtstagsfeier des Investor-Sohnes Hot Dogs servieren. Mit Richard führt er eine Art Hassliebe, er war der Defacto-Manager des „Beef“ und steht, wie auch der Rest des Teams, Carmys Fine-Dining-Chichi skeptisch gegenüber.

Gemeinsam mit Sidney versucht Carmy Struktur in das Lokal zu bringen. Eine der eindrücklichsten Maßnahmen ist das Gebot des permanenten verbalen Kommunizierens: jede Frage muss jede:r Arbeiter:in mit einem lauten „Yes, Chef“ beantworten, bevor man mit etwas Schwerem oder Heißem um die Ecke geht, muss man laut „Corner!“ rufen (was natürlich nicht immer reibungslos klappt). Die klare Hierarchie der Küche mag auf den ersten Blick rigide und überholt wirken, doch sobald der Service beginnt, versteht man, weshalb es klare Zuständigkeiten braucht. Im Ausnahmezustand des laufenden Restaurantbetriebs muss jeder Arbeitsschritt perfekt sitzen. Vielleicht kein Film oder keine Serie hat bisher diese angespannte Atmosphäre so detailgetreu abgebildet.

„The Bear“ funktioniert als eine Art Kammerspiel, das sich fast ausschließlich auf den knapp bemessenen Quadratmetern der Küche abspielt. Die Kamera ist extrem nah am Geschehen. Das wirkt manchmal fast übertrieben, doch es fängt die Enge und die hitzige Atmosphäre einer Profi-Küche ein, als ob man eine sehr fein beobachtete Doku schauen würde. Bisweilen lösen die extrem elegant durchchoreographierten Kamerasequenzen sogar ein regelrechtes Gefühl der Beklemmung aus: Wann wird sich wohl jemand schneiden oder verbrennen, wann platzt Sidney der Kragen? Eine solche Intensität ist selten zu sehen, sie erinnert an das Safdie-Brothers-Meisterwerk Uncut Gems. Der Rolling Stone titelte: ”‘The Bear’ Is the Most Stressful Thing on TV Right Now. It’s also great“.

Episode 7 namens “The Review” treibt dieses Spiel auf die Spitze: sie besteht aus einem 20-minütigen One-Shot. Circa vier oder fünf Mal soll das Ensemble die Sequenz gedreht haben. In einem Interview mit “Indiewire” sagte Hauptdarsteller White, dass One-Shots in vielen Fällen bloß ein Mittel sein, um Eindruck zu schinden. Nicht in ihrem Fall: „But I think in our case, it really lends itself to the story“. Das Argument lässt sich gut nachvollziehen. Im deutschen Indie-One-Shot-Wunder Victoria etwa fragte man sich trotz aller Bewunderung für den cineastischen Innovationsgeist an mancher Stelle, wie genau der One-Take-Modus dramaturgisch begründet ist. Anders bei “The Bear”: hier erzeugen die zwanzig Minuten Schnittlosigkeit eine sich immer weiter hochschaukelnde Anspannung (selbst wenn man gar nicht unbedingt wahrnimmt, dass nicht geschnitten wird).

“The Bear” hat den Anspruch, ein möglichst genaues und – Achtung, Unwort – authentisches Bild der Welten zu zeichnen, die es behandelt. Dazu werden einige geschickte Spielereien auf der Meta-Ebene genutzt: der kanadische Celebrity-Koch und Internetphänomen Matthy Mattheson hat eine Cameo-Rolle. Jedoch kocht er nicht, sondern repariert. Er ist der Handwerker des „Beef“, der gerufen wird, wenn etwas kaputt geht.  Das spielerische Verschwimmen-Lassen von Fakt und Fiktion erinnert an den literarischen Trend der Autofiktion, nur andersherum gedacht: nicht wird etwas Faktisches wie eine Biographie in einer Geschichte gegossen, sondern das Fiktionale um Elemente des Faktischen ergänzt. Dies kann man als Versuch der paratextuellen Verdichtung sehen, um ein noch höheres Maß an Authentizität zu erreichen.

Solche Anbindung an reale Begebenheiten finden sich auch in dem Versuch der Serie, die Stadt Chicago möglichst originalgetreu zu porträtieren. Italian Beef Sandwiches sind tatsächlich im Chicago der 1930er-Jahre entstanden und bis heute dort ein signature-dish. Das „The Beef“ ist ebenfalls einem echten Laden nachempfunden, dem Deli „Mr Beef“. Zu Beginn vieler Episoden werden Schnittbilder gezeigt, die so dringend das Lebensgefühl der Stadt einfangen wollen, dass man selbst ohne dort gewesen zu sein, ihren Kitsch spürt – einmal sogar zu den Klängen von Sufjan Stevens „Chicago“. Das wäre vermutlich so, als würde man heute eine Berlin-Serie mit „Alles neu“ von Peter Fox unterlegen. In der Tat finden sich im Netz einige Blog- & Newsletter-Texte von Chicagoer:innen , die sich über die Darstellung der Stadt in „The Bear“ echauffieren. Ihr größter Kritikpunkt ist, dass das Viertel River North, in dem sowohl das Serien-Bistro „The Beef“ als auch das echte „Mr Beef“ liegen, als hartes Arbeiter:innen-Viertel gezeichnet wird, das kurz vor der Gentrifizierung steht. Tatsächlich ist das Viertel schon seit Ewigkeiten gentrifiziert, nach Manhattan besitzt es die größte Galerie-Dichte der USA.

Doch auch wenn das Chicago-Porträt nicht so richtig gelingt, zeigt „The Bear“ mit seinem Gentrifizierungs-Plot trotzdem, dass es nicht nur an der rein ästhetischen Seite von Essen und Restaurants interessiert ist, sondern auch an seiner soziologischen Einbettung in die Gesellschaft. Denn auch das ist Kulinarik: ein Distinktionsmerkmal zur Darstellung von Klassenzugehörigkeit. Im Verlauf der Staffel entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob der Laden zukünftig ein Risotto anbieten solle – hier als Symbol für gehobene Küche gemeint. Beim Zuschauen ist man hin- und hergerissen: einerseits will man, dass das Lokal seinen urigen Charme und Legendenstatus im Viertel behält, andererseits weiß man genau: gehobene Küche bringt mehr Geld ergo bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innen. Dass es sich die Serie an dieser Stelle nicht zu einfach macht, ist einer ihrer größten Pluspunkte.

Überhaupt wirkt das Ganze sehr erfrischend, denn „The Bear“ zeigt Kulinarik von einer neuen Seite. Das ist gar nicht so einfach gewesen, denn Essen spielt schon lange eine wichtige Rolle in Film und Fernsehen. In Arthouse-Filmen wie “Eat Drink Man Woman”, “Babettes Fest” oder “Tampopo” wird zwar gezeigt, dass Kochen harte Arbeit ist, aber am Ende steht dann das Essen doch meist für etwas Mystisch-Magisches. Gerichte, die psychische Wunden heilen oder alte Konflikte durch Genuss befrieden. Dieser Heiland-Rolle muss das Essen auch visuell entsprechen, deswegen wird es oft ästhetisch überstilisiert. Ein hervorragendes Beispiel sind die märchenhaften Filme des Animationsmeisters Hayao Myazaki und seinem Studio Ghibli, über dessen sinnliche Darstellung von Essen es sogar Video-Essays gibt.

Diese Überstilisierung von Essen findet sich auch bei der Netflix-Doku-Serie “Chef’s Table”, deren Episoden schon fast als Werbung für das jeweilige Restaurant gelesen werden können. Auch die Reise-Sendung „Somebody Feed Phil“ oder Live-Koch-Shows schaffen es kaum, Essen aus einer anderen als der extrem appetitanregenden Perspektive zu zeigen, wie sie auch in Instagram-Reels oder TikTok-Videos propagiert wird (mit Ausnahme vielleicht von “Ugly Delicious”, das die soziokulturelle Geschichte von Gerichten beleuchtet). Bisher medial kaum gezeigte Seiten der Kulinarik wie Schweiß, Stress, Prekarität, aber auch Gemeinschaftsgefühl und Leidenschaft in der Küche werden in „The Bear“ in den Vordergrund gerückt. Damit schafft die Show es realistisch zu zeigen, was für ein Leben und welcher Alltag hinter dem ganzen Essen steckt, das unseren Appetit anregt.

Beitragsbild von Lasse Bergqvist

Here we are now, entertain us – Wem gehören die 90er Jahre?

von Isabella Caldart

Vor einigen Jahren ist den Millennials (zu denen ich auch gehöre) – wie auch der Öffentlichkeit generell – aufgegangen, dass sie nicht mehr die „junge Generation“ sind. Diese Erkenntnis fällt in etwa mit Beginn der Pandemie zusammen, als alle Welt aus Langeweile oder Einsamkeit TikTok installierte und die wahre junge Generation entdeckte, die dort bereits sehr aktiv war: Gen Z. Wenn man ehrlich ist, hatten Millennials (in etwa die zwischen 1980 und 1995 Geborenen) eine sehr lange Zeit, rund zwanzig Jahre, in der sie als die Jungen, die Trendsetter, die Zukunftsgewandten, diejenigen, die die Kultur und Gesellschaft bald prägen würden oder schon prägten, angesehen wurden. Dass wir, die wir schon lange fest im Erwachsenenleben verankert waren, plötzlich abgelöst wurden, kam für viele dennoch als Schock oder zumindest unbehagliche Wahrheit.

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Arbeit im Panoptikum – Die Serie ‚Severance‘

von Titus Blome

Wer sind wir, wenn die Arbeit unser Leben ist? Diese Frage ist das Kernstück der Dystopie »Severance« auf Apple TV+, das stille Serienhighlight des Jahres. Im Mittelpunkt der neun Folgen steht die zweifache Geschichte von Mark Scout (Adam Scott), der in der Abteilung für Macrodata Refinement (MDR) der ominösen Lumon Industries arbeitet. Zweifach deshalb, weil Mark doppelt existiert – einmal im Büro und einmal außerhalb.

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And Just Like That… macht das alles narrativ keinen Sinn – Über das Revival von „Sex and the City“

von Isabella Caldart

Das Problem fängt schon beim Titel an. Während Sex And The City zwei prägnante Begriffe im Titel hat, die direkt darauf verweisen, worum es in der Serie geht, heißt das Revival And Just Like That… samt drei Pünktchen, die wohl sowohl eine gewisse Verspieltheit als auch einen Raum vieler sich öffnender Möglichkeiten andeuten sollen. Zusammen mit dem Titel wirkt das merkwürdig schwammig und unentschlossen.

Kulturelles Erbe

Sex And The City ist also zurück (oder auch nicht, da weder Sex noch die Stadt sonderlich präsent sind), und ob man damit nun etwas anfangen kann oder nicht: In den vergangenen Monaten bekam diese Serie viel Aufmerksamkeit, wurde in etablierten Medien ebenso unter die Lupe genommen wie von Fans auf TikTok. Seit der Bekanntgabe im Januar 2021, dass es diese Neuauflage, über die immer mal wieder spekuliert worden war, in der Tat geben würde, und vor allem seit mehr und mehr Informationen über den Cast veröffentlicht wurden, kristallisierten sich insbesondere vier Fragen heraus: Wie würde die Serie mit dem Verlust ihrer beliebtesten Protagonistin umgehen? (Kim Cattrall hat mit Nachdruck deutlich gemacht, dass sie nicht nochmal in die Rolle von Samantha schlüpfen wird.) Wie würde das Leben von Frauen über 50 dargestellt werden? Welche Rolle würde Grey’s Anatomy-Star Sara Ramírez als non-binary Latinx Person in der Serie haben? Und wie würde Willie Garsons überraschender Tod während der Dreharbeiten eingebaut werden?

Dass Sex And The City (1998-2004) neu aufgelegt wurde, überrascht in der ganzen Welle der Reboots und Revivals, die wir derzeit erleben, wenig. Die Fanbase ist groß und treu, das Bedürfnis, Carrie, Miranda und Charlotte wiederzusehen vorhanden. Mit den beiden Kinofilmen (2008, 2010) gab es bereits zwei kommerziell erfolgreiche Fortsetzungen. Und eine Serie, die Frauen in ihren 50ern in den Fokus nimmt, ist an und für sich eine gute Idee. Schließlich sind Frauen, die die 40 überschritten haben, in Film und Fernsehen nach wie vor stark unterrepräsentiert. Außerdem hat Sex And The City nicht nur die Popkultur, sondern auch (zumindest auf die USA bezogen) die Gesellschaft beeinflusst, da die Serie Frauen zeigte, die selbstbewusst über ihr Sexleben sprachen; noch in den neunziger Jahren ein Novum. Ich war nicht die einzige, die die Hoffnung hatte, dass man sich dieses kulturellen Einflusses und Erbes bewusst wäre und dass man nach den vielen Jahren, die seit Ende der Serie (beziehungsweise seit dem letzten Film) vergangen waren, auch die Zeit hatte, ein gutes Produkt zu entwickeln. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Das Revival stand in mehrfacher Hinsicht unter keinem guten Stern.

Wenn die Fiktion die Realität beeinflusst, wenn die Realität die Fiktion beeinflusst

Das Finale der Serie sowie die beiden Filme verraten den eigentlichen Spirit von Sex And The City, laut dem die vier Freundinnen ihre Seelenverwandten sind und keine Männer brauchen – am Ende sind alle in festen Beziehungen. Und diese Beziehungen sind rund 15 Jahre später zum Start von And Just Like That… immer noch intakt. Das Ende der ersten Folge wartet dann aber mit einem Knaller auf: Big stirbt nach dem Training auf einem Hometrainer der Marke Peloton an einem Herzinfarkt. 

Bigs Tod in der ersten Folge und seine Beerdigung in der zweiten, am selben Abend ausgestrahlten Episode setzten eine Kettenreaktion in Gang, die zeigt, was für eine interessante Wechselbeziehung (Pop-)Kultur und Realität haben können. Die Firma Peloton, die Geld für die Produktplatzierung bezahlt hatte, wusste nicht, in was für einem Kontext ihr Gerät gezeigt werden würde: Doppelt bitteres Marketing für Peloton, denn erst wenige Monate zuvor war die Firma nach dem tödlichen Unfall eines Kindes und anderen Sicherheitsproblemen in die Negativschlagzeilen geraten. Nach außen hin nahm Peloton den Tod einer Serienfigur auf einem ihrer Produkte aber mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis; es wurde ein Statement veröffentlicht, in dem auf Bigs Herzprobleme in der sechsten Staffel und seinen „extravaganten Lifestyle“, seine Vorliebe für „Cocktails, Zigarren und große Steaks“, verwiesen wurde. Nur wenige Tage später folgte ein gewitzter Werbeclip, in dem Big-Darsteller Chris Noth mit seiner Peloton-Trainerin aus And Just Like That… am Kamin sitzt, und in dem Ryan Reynolds das Voiceover für die Werbung liefert. Peloton nahm mit dieser Werbung eine Korrektur der Fiktion vor, um das Image des Unternehmens zu retten.

Wenige Tage später, am 16. Dezember 2021, veröffentlichte der Hollywood Reporter einen Artikel, laut dem zwei Frauen in den Jahren 2004 beziehungsweise 2015 von Chris Noth vergewaltigt wurden. Kurze Zeit später wurden weitere ähnliche Vorwürfe gegen den Schauspieler bekannt. Peloton zog die gerade erst veröffentlichte Werbung zurück und Big wurde in der Serie aus sämtlichen Flashbacks von Carrie gestrichen. Mehrere Tage später veröffentlichten Sarah Jessica Parker, Cynthia Nixon und Kristin Davis ein gemeinsames Statement in ihren Social-Media-Accounts: „Wir sind zutiefst betroffen über die Anschuldigungen gegen Chris Noth. Wir unterstützen die Frauen, die sich gemeldet und ihre schmerzlichen Erfahrungen mitgeteilt haben. Wir wissen, dass dies eine sehr schwierige Sache sein muss, und wir würdigen sie dafür.“

Für And Just Like That… war der Verlust also ein dreifacher: Samantha, die nur noch sporadisch in Kurznachrichten an Carrie auftauchte, Big, bei dem, wenn man es zynisch ausdrücken will, das Timing gerade so stimmte, dass alle Szenen entfernt werden konnten – und eben Carries bester Freund Stanford, da der Schauspieler Willie Garson am 21. September 2021 an Bauchspeicheldrüsenkrebs verstarb. Wie auch Samanthas Abwesenheit wird Stanfords plötzliches Verschwinden auf unbefriedigende Weise erklärt: Auf einem Post-it hinterlässt er Carrie die Notiz, dass er nach Tokio gezogen sei. In einem begleitenden Podcast zur Serie erklärte Executive Producer, Autor und Regisseur Michael Patrick King, dass man eigentlich einen richtigen Abschied von Stanford und Carrie vorgesehen hatte, doch zu dem Zeitpunkt war Garson schon nicht mehr in der Lage, diese Szene zu drehen. Und da das Team beschloss, Garsons echten Tod nicht für eine rührselige Storyline ausschlachten zu wollen, wurde er auf diese knappe Weise aus der Serie geschrieben.

Carrie, Charlotte und Miranda – und Samantha

Aber zurück zum Inhalt: Charlottes Storyline ist während der gesamten Staffel kaum existent. Neben ihrer Rolle als Mutter geht es um ihre Rolle als Ehefrau; ein richtiger eigener Handlungsbogen wird ihr aber nicht zugestanden. Bei Miranda ist dafür umso mehr los. Zu Beginn von And Just Like That ist sie zurück an der Uni, weil sie aufgrund ihres Entsetzens wegen des Muslim Travel Bans ihren alten Job als Anwältin aufgegeben hat und jetzt umschulen will, um sich sinnvolleren Aufgaben zu widmen. Miranda, die zu Zeiten von Sex And The City die progressivste der vier Frauen war, ist in diesem Revival wie verwandelt. Erst tritt sie, die in Brooklyn wohnt, bei ihrer Begegnung mit ihrer Schwarzen Dozentin Nya in jedes erdenkliche Fettnäpfchen, dann verhält sie sich ihr gegenüber wie ein klassischer White Savior. Es ist, als hätte man im Writers‘ Room (in dem sowohl Sex And The City- als auch neue Drehbuchautor*innen wirkten) komplett vergessen, wer Miranda überhaupt ist. Innerhalb kürzester Zeit freunden sich Miranda und Nya dann an, ohne dass je wirklich ersichtlich wird, warum überhaupt. Kurz darauf lernt sie zudem Che kennen, nicht-binäre*r Podcaster*in und Comedian, und verliebt sich in Che.

Und Samantha? Erleidet fast noch mehr Ungerechtigkeit. Ihre Abwesenheit wird damit begründet, dass Carrie sie als PR-Managerin gefeuert habe, woraufhin Samantha nach London gezogen ist und jeden Kontakt abgebrochen hat. Als würde Samantha das jemals tun. Im Verlauf der Staffel hat sie via Handy hin und wieder Kontakt mit Carrie, bis Carrie im Finale in Paris ist und sie fragt, ob sie sich treffen wollen. Samantha willigt ein. Ein Wiedersehen das – natürlich – nicht gezeigt wird und sich für uns Zuschauer*innen somit ziemlich unbefriedigend anfühlt

Während Miranda nicht wiederzuerkennen ist und Charlotte wenig nennenswerte Szenen hat, ist es ausgerechnet Carrie, aufgrund ihres egozentrischen Verhaltens die wohl unbeliebteste Protagonistin der Originalserie, diejenige, der mit And Just Like That… eine Art der Wiedergutmachung widerfährt. Carries Trauerprozess um ihre große Liebe ist teilweise zwar messy, doch genau deswegen auch realistisch. Dass sie nach der Testamentsverlesung Natasha auflauert, weil Big auch seine Ex-Frau bedacht hat, ist zwar neurotisch, aber sehr typisch für sie – und führt am Ende zur Aussprache, die beiden Frauen eine Art Abschluss ermöglicht. Auch Carries kurze emotionale Ausbrüche mehrere Monate nach dem Tod sind realistisch dargestellt. Und gleichzeitig gibt es zum Ende der Staffel Hoffnung auf eine potentielle neue Liebe, was uns ein Bild vermittelt, das in Filmen und Serien oft ausgespart ist: Für Frauen jenseits der 50 ist ein Neuanfang immer noch möglich

BPoC-Pendants

Der Mangel an diversen Figuren bei Sex And The City ist seit Jahrzehnten im Diskurs über die Serie ein Thema. And Just Like That… versucht, all das gutzumachen, was Sex And The City versäumt hat. Nicht nur wurden nicht-weiße Drehbuchautor*innen engagiert, auch die Welt von Carrie, Miranda und Charlotte wurde diversifiziert. Auf recht platte Weise allerdings: Jede der Figuren bekommt ein BPoC-Pendant zur Seite gestellt. Charlotte hat eine reiche Schwarze Freundin namens LTW (Nicole Ari Parker), Carrie freundet sich mit ihrer indischsstämmigen Maklerin Seema (Sarita Choudhury) an und Miranda bekommt mit Nya (Karen Pittman) eine Schwarze Dozentin, mit der sie sich nach einem holprigen Kennenlernen ebenfalls anfreundet. Noch dazu gibt es Che, ein*e non-binary Latinx Stand-up-Comedian, dargestellt von Sara Ramírez. Man hat sich also redlich bemüht.

Doch wie schon Sex And The City weiß auch And Just Like That… nicht mit seinen nicht-weißen Figuren umzugehen. Narrativ mutet es merkwürdig an, dass alle vier Neulinge erst in der ersten Episode oder zeitlich kurz davor die Protagonistinnen kennenlernen, und sich nicht wenigstens eine Person schon in den Jahren, Jahrzehnten davor mit Carrie, Charlotte oder Miranda angefreundet hat. Es ist verständlich, dass man im Writers‘ Room alles getan hat, um den Eindruck zu vermeiden, man wolle Samantha irgendwie ersetzen. So jedoch wirkt alles wenig organisch.

Wenig organisch sind dann auch die neuen Charaktere selbst, die auf eine merkwürdige Weise in die Handlung eingebaut wurden: Zunächst sieht man sie jeweils nur mit einer der drei Protagonistinnen zusammen, was Sinn macht, um sie langsam an die Zuschauer*innen heranzuführen. Dann werden sie aber teilweise über Folgen gar nicht gezeigt, um plötzlich unabhängige Storylines zu bekommen, die aber erstaunlich flach bleiben. 

LTW ist eine reiche, kunstinteressierte Mutter, die Charlotte so ähnelt, dass sie sogar „Black Charlotte“ genannt wird. Seema ist mit Mitte 50 noch auf der Suche nach „dem Richtigen“, während Nya und ihr Partner darüber diskutieren, ob sie es doch noch mit dem Kinderkriegen versuchen sollen. Die drei Schauspielerinnen, alle talentiert und charismatisch, bemühen sich, die Rollen mit Leben zu füllen, doch das seichte Drehbuch schränkt sie erkennbar ein, die Figuren bleiben eindimensional. Während Seema zweifelsfrei die beste neue Figur ist, witzige One-Liner hat und sich ihre Freundschaft mit Carrie glaubwürdig entwickelt, verschwindet LTW immer mehr im Hintergrund. Die Story rund um Nyas mögliche Unfruchtbarkeit hat Potential – doch leider lernt man die Figur zu schlecht kennen, um sich wirklich für sie zu interessieren, und die Kind-ja-oder-nein-Gespräche wiederholen sich sehr.

„I was cravin‘ me some Che”

Und dann wäre da noch Che. And Just Like That… bemüht sich in Sachen Diversität auch um mehr Queerness. Bei Charlottes Kind funktioniert das sogar sehr gut: Dass sich ihr Kind plötzlich Rock nennt und nicht mehr als Mädchen identifiziert, ist für Charlotte und Harry zunächst ein großer Brocken zu schlucken und entsprechend verhalten sie sich Rock gegenüber; diese Darstellung ist aber realistisch. Im Verlaufe der Episoden begleiten wir Harry und Charlotte auf ihrem Weg zur Akzeptanz, die im Finale darin mündet, dass sie für Rock eine They-Mitzwa schmeißen wollen (die Rock schließlich ablehnt mit der Begründung, they wolle sich auf keine einzige Identität festlegen, nicht mal auf die – und hier schnappen die Eltern hörbar nach Luft – auf die als New Yorker*in).

All das, was bei Rock richtig gemacht wurde, wurde bei Che versemmelt. Che ist ohne Frage die Figur des Revivals, die mit Abstand am stärksten diskutiert wurde. Die meisten Fans und Kritiker*innen sind sich einig: Sie mögen Che nicht. Che ist so unbeliebt, dass Michael Patrick King zu their Verteidigung sprang und Che in einem Interview kürzlich als „ehrlich, gefährlich, sexy, witzig und warm“ bezeichnete. Eins ist sicher: Witzig ist Che wirklich nicht. Die zahlreichen Stand-up-Shows, die wir ertragen müssen, sind nicht lustig, sondern nur cringe. Kein einziger Witz zündet; es geht ausschließlich um Sex und Gender (und das auf plumpe statt geistreiche oder facettenreiche Weise), als wäre they die Karikatur einer queeren Person.

Und Che wirkt genuin unsympathisch. Nun muss ein queerer Charakter natürlich nicht auf Beliebtheit angelegt sein. Zu Recht sagte Sara Ramírez in einem Interview: „Wir haben eine Figur geschaffen, die ein menschliches Wesen ist, unvollkommen, komplex, und nicht existiert, um gemocht zu werden oder Zustimmung von jemandem zu bekommen.“ Außerdem sind oft die Serienfiguren, die widersprüchlich sind, ob Anti-Held*innen oder eindeutige Bösewichte, die interessantesten. Dass Che unsympathisch ist, ist also nicht unbedingt das Problem. (Es sei trotzdem angemerkt, dass das extrem narzisstische und forsche Verhalten eher unangenehm als unterhaltsam wirkt.) Das Problem mit der Figur ist zweierlei: Zum einen wird Che auf Queerness reduziert. Man kann kaum mitzählen, wie oft Che die eigene Nicht-Binarität betont, als wäre das einzige, was nicht-binäre Menschen machen, allen zu erzählen, dass sie nicht-binär sind – ein klassisches queerfeindliches Stereotyp. Viel mehr über Ches Backstory erfahren wir nicht. Es handelt sich um eine erstaunlich eindimensionale Figur, obwohl sie so präsent ist in der Serie.

Das andere Problem ist Ches Verhältnis mit Miranda. Die Geschichte ist oft nicht stimmig. Es ist lobenswert, dass erzählt wird, dass auch Frauen jenseits der 50 noch ihre Queerness entdecken können, wie es bei Miranda der Fall ist. Mirandas wundersame Charakterwandlung macht hier aber ebenfalls keinen Halt. Sie himmelt Che auf eine Weise an, die überhaupt nicht zu ihrer Person passt. Das erste Mal Sex haben sie dann in einer Szene, als Che bei Carrie, die nach einer OP im Bett schläft, mit Tequila auftaucht, sich mit Miranda in Carries Küche betrinkt und sie fingert, während Carrie, die aufgewacht ist, weil sie aufs Klo muss, in eine Flasche pinkelt und alles mitbekommt.

Wirklich schlimm ist, wie Steve in diesem Handlungsstrang um Che und Miranda behandelt wird. Das Problem in ihrer Beziehung ist die Inkonsistenz, betrachtet man das gesamte SATC-Universe: Im ersten Film ist es Steve, der Miranda betrügt, das aber sofort beichtet und seinen Fehltritt wirklich bereut. Dennoch kann Miranda ihm nur schwer verzeihen. Und nun betrügt sie Steve nicht nur ein Mal, sondern monatelang. Als sie ihm schließlich sagt, dass sie die Scheidung möchte, hat sie nicht einen Moment der Trauer, des Schmerzes, obwohl sie diese Ehe nach mehrere Jahrzehnten beendet. Sie fühlt sich ohne Steve frei, als hätte sie einen unerträglichen Ballast abgeworfen – und nichts hat Steve weniger verdient.

Die Episode endet damit, dass Miranda ausgerechnet Che zu einer Comedyshow nach Cleveland hinterher reist, um Che ihre Liebe zu gestehen, obwohl Che ihr eindeutig gesagt hat, dass they ihr keine konventionelle Paarbeziehung bieten kann. Am Ende der Staffel scheinen sie dennoch in einer Art Beziehung zu sein, die Miranda so wichtig ist, dass sie ihren neu eingeschlagenen Karriereweg wieder aufgibt und mit Che nach Hollywood zieht. Keine Figur im Revival ist inkonsequenter und enttäuschender als Miranda.

Resümee

And Just Like That… fehlt, was Sex And The City ausgezeichnet hat: Carries Voiceover, durch das auch Handlungsstränge, die nichts direkt miteinander zu tun hatten, in eine gewisse Verbindung gebracht wurden. Das Revival verzichtet auf diese Erzählinstanz, abgesehen von einem Satz zum Schluss jeder Episode, der mit „And just like that…“ beginnt (wo es früher „I couldn’t help but wonder…“ war). Man wollte offensichtlich auch hier vom Original abrücken. Die Folge ist allerdings, dass sich manche Storylines recht lose anfühlen.

Zudem weiß die Serie nicht genau, was sie sein will. Sex And The City war eine Mischung aus Comedy, Drama und Rom-Com, die knapp 25 Minuten langen Folgen ein starkes Indiz dafür, dass die Serie eher in Richtung Comedy tendierte. Neben den schlechten Drehbüchern funktionierten die beiden Kinofilme aus einem ganz basalen Grund nicht: Sex And The City lebte davon, dass die vier Frauen immer wieder neue Dates hatten. Beide Filme konzentrieren sich aber nur auf die Beziehungen und Reibungen zwischen den Protagonistinnen und ihren Partnern, ohne neue Figuren in die Handlungen zu integrieren, was den eigentlichen Reiz der Serie ausmachte. And Just Like That… nun hat 40-minütige Episoden, also ein klassisches Drama-Format. Es hilft aber nicht: Was genau uns And Just Like That… überhaupt erzählen will, ist nach zehn Folgen immer noch offen.

Ob And Just Like That fortgesetzt wird, steht noch nicht endgültig fest, Presseberichten zufolge laufen die Gespräche aber schon. Verwunderlich wäre es nicht: Auch wenn diese erste Staffel bei Kritiker*innen wie Zuschauer*innen gleichermaßen nicht gut ankam, war sie überall Gesprächsthema. Dass Hate-Watching eben auch Einschaltquoten bringt und somit weitere Staffeln ermöglicht, hat nicht zuletzt die Serie Emily in Paris gezeigt, bei der Staffel drei und vier bestellt sind. And Just Like That hat also gute Chancen. Ist das Experiment And Just Like That ein totaler Flop? Ich würde sagen nein, weil es hie und da gute Szenen gab und weil die Storyline um Carries Trauer wirklich gut gearbeitet ist. Trotzdem bin ich persönlich wirklich erstaunt darüber, wie schlecht dieses Revival am Ende ist. Immerhin hat es mich dazu inspiriert, ein Re-Watch von Sex And The City zu machen. Denn trotz all der Fehler, die diese Serie hatte, ist sie immer noch sehenswert, witzig, spannend und teilweise herzerwärmend; war sie ein unglaublich wichtiger kultureller, ja revolutionärer Meilenstein.

Beitragsbild von Florian Wehde

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