von Annika Brockschmidt und Rebekka Endler
Zwei unterschiedliche, sehr schöne Frauen posieren in Unterwäsche, plakatiert lebensgroß an Haltestellen in ganz Deutschland. Soweit, so wenig ungewöhnlich – Calzedonia macht zur Zeit nach diesem Rezept Werbung: Die eine Frau ist sehr schlank, die andere ist es nicht. Zwei Bikinifiguren, von denen eine noch bis vor wenigen Jahren nicht als solche hätte bezeichnet werden können, ohne dass eine öffentliche Debatte losgetreten wird. Dass es heute, 2023, kein Aufsehen mehr erregt, ist eindeutig als Fortschritt zu verzeichnen.
Zwei ebenfalls ungleiche, sehr normschöne Frauen, die gemeinsam auf einem Plakat für eine andere Marke der gleichen Unternehmensgruppe posieren, haben jetzt jedoch die Gemüter erhitzt. Das Mutter-Tochter Duo Heidi und Leni Klum posierte ebenfalls in Unterwäsche: Die Inszenierung der beiden in einer Werbekampagne für das italienische Unterwäsche-Label Intimissimi wurde zur Zielscheibe feministischer Kritik auf Twitter und Instagram, hat aber auch eigentümliche Ergüsse im Feuilleton – in erster Linie aus der Feder männlicher Autoren – inspiriert. Aus Unternehmenssicht ist die Werbekampagne damit ein voller Erfolg: Aufregung bringt Aufmerksamkeit. Ziel erreicht!
Vielleicht hat man sich bei Intimissimi auch deswegen dazu entschieden, die Bildsprache in der neuen Kampagne weiter zu eskalieren, nachdem schon die ersten Bilder der beiden Klums im Herbst und Winter 2022 für einiges Aufsehen gesorgt hatten. Damals posierte das Klum-Duo zuerst in Dessous, Leni in schüchterner Pose an der Seite ihrer Mutter. In einer zweiten Kampagne hielten die beiden Händchen, Leni im Satin-Negligée, Heidi in Dessous. In der aktuellen Kampagne hat man noch einen drauf gelegt: Leni hält immer noch die Hand ihrer Mutter, ihr BH schreit “Jungfräulichkeit”, wie es eben nur ein weißer Spitzen-BH mit einer Verzierung kann, die wohl an pastellige essbare Süßigkeiten-Halsketten erinnern soll.
Klum bringt wie gewohnt Provokation unter dem Deckmantel kompletter Ahnungslosigkeit auf die Hochglanz-Werbe-Spreads von Intimissimi. Nun ist Heidi Klum nicht unbedingt bekannt für guten Geschmack (wir erinnern uns an die Katjes-Werbung, in der sie die Kau-Bonbons als Zehentrenner beim Fußnägel-Lackieren verwendet), aber das kritische Feedback, von Social-Media-Usern und in großen Medien gleichermaßen, ist oft selbst widersprüchlich. Denn allzu schnell fällt Kritik an der Inszenierung des Mutter-Tochter-Duos in reaktionäre Ansichten zurück.
Schnell wird ein sex-work-feindliches Klischee wie “Puffmutter” bedient, das es bis in einen Text der FAZ schaffte. Dort empörte man sich auch darüber, dass die Kampagne “ausgerechnet kurz vor dem Muttertag” erschienen sei. In einem anderen Artikel der FAZ wird die Kampagne gelobt, weil “angesichts der Debatten über Dragqueen-Lesungen für Vierjährige und die Abschaffung von Kitabasteleien zum Mutter- und Vatertag” es dieser Tage “sehr beruhigend” sei, “dass wenigstens auf den Werbeflächen der Republik noch der klassischen Familie gehuldigt wird.” Die Klums als Protagonistinnen des rechten Kulturkampfs. Der Autor nutzt die günstige, selbst geschaffene Gelegenheit dann auch noch, um sich gegen trans-inklusive Sprache zu positionieren. Wenn man schon gerade im reaktionären Trog wühlt, soll es sich wohl auch lohnen. Andere Stimmen sehen in der Inszenierung female empowerment zwischen zwei Generationen. Heidi gibt der Tochter Body Positivity mit auf den Weg, heißt es da.
Sex Positivity ist ein Spektrum und so komplex die Rolle einer Mutter im Bezug auf die Sexualität im Leben einer Tochter auch ist, so wenig lehnen wir uns aus dem Fenster, wenn wir behaupten: Aufklärung, Gespräche über Consent und hier und da, bei Bedarf und Nachfrage auch Anekdoten aus dem eigenen Leben, die vielleicht mit einer Lektion verbunden sind, die nicht jede Tochter, jedes Kind am eigenen Leib erfahren muss, sind gut. Wie eine Extase-schnaufende Lokomotive unter Hochgeschwindigkeit das Kind in die eigene Sexualität ziehen, ist problematisch. Egal, wie gut sich Mutter und Tochter in Wirklichkeit verstehen und wie nahe sie sich sind, die Inszenierung der Kampagne als Boudoir-Szene und auch das Rumgehüpfe in der dazugehörigen TV-Werbung will uns, nach klassischen Regeln des Male Gaze, ein Vorspiel erzählen.
Zum Male Gaze und wie er unsere Sicht beeinflusst, ist schon viel geschrieben worden, er ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Auch in dieser Werbekampagne wird er wieder ganz offen bedient. Leni Klum sei ja volljährig und damit alt genug (“für was denn?”, möchte man da fragen), heißt es in Diskussionen. Das ist jedoch nebensächlich, wird sie doch in der Intimissimi-Kampagne bewusst als “unschuldiges, junges, ängstliches Ding” in Szene gesetzt, die von ihrer resoluten, feschen Mutter, die richtig Bock hat, zum Altar der Jungfräulichkeit geführt, um dort den lechzenden Mäulern des Kapitalismus zum Fraß vorgeworfen zu werden.
Wenn also Autor Adriano Sack in seiner Kolumne für die Welt, inspiriert vom Klum-Duo, über verschiedene Porno-Szenarien sinniert:“die Milf, das Teeniemädchen, der Dreier (w/w/m). Oder eben eine Mutter (49) mit ihrer Tochter (19, also volljährig)” – und dann zu dem Schluss kommt, dafür sei die Unterwäsche dann doch nicht sexy genug, und es gebe ja genug “Hardcore-Pornos” und die Welt das druckt, dann ist das ekelhaft und kritikwürdig, aber kommt nicht von ungefähr: Es stellt genau die Projektionsfläche dar, die diese Kampagne bewusst ausleuchtet. Adriano Sack hat es nur einfach ausgeplaudert.
Es ist Futter für all jene, die Nabokovs Lolita gelesen, oder – seien wir ehrlich – geschaut haben, und denken, es handle sich dabei um eine raunchy Liebesgeschichte und nicht den sich selbst Absolution erteilenden Bericht eines pädo-sexuellen Täters. Aber genau diese Sicht des Täters hat bis heute in das kollektive Gedächtnis gefräst, weshalb bis Worte wie “Kleinmädchenerotik” oder “Lolita-esque” nach wie vor auch in etablierten Medien akzeptabel zu sein scheinen, wenn es darum geht, deutlich jüngere Frauen zu beschreiben, zu denen sich ein (älterer) Mann hingezogen fühlt. Die Frage der Legalität wird in diesem Zusammenhang gar nicht erst gestellt.
Es ist eine Tatsache, dass sich diese Form der Vermarktung und Inszenierung im kapitalistischen System lohnt. Sex sells, und “Jungfräulichkeit” noch mehr. Egal ob Unterwäsche, Musik oder Literatur – Jungfräulichkeit, beziehungsweise der Anschein davon ist in einer patriarchalen Gesellschaft ein hohes Gut. Und Unternehmen sind bereit, gut dafür zu bezahlen, ihr Produkt mit dieser begehrenswerter Unschuld assoziiert zu sehen. So lässt sich auch die kindlich anmutende Knabberkette an BH und Slip von Leni Klum als Accessoire verstehen, dass auch einer potentiellen Käuferin und Trägerin das Gefühl geben kann, ebenfalls wieder aus dieser Kindlichkeit sexuelles Kapital schlagen zu können. Es geht hierbei nicht um Kink-Shaming – die Kritik gilt nicht dem Design der Wäsche selbst, sondern dem soziologischen Konstrukt der Jungfräulichkeit und kindlichen Unschuld dahinter, das hier zu Geld gemacht wird, um den Male Gaze zu befriedigen. Aber so lange Jugend in unserer Gesellschaft eine begehrte Ressource ist, wird es Produkte geben, die genau dieses Versprechen machen.
Heidi Klum ist nicht die erste Mutter, die aus der Jugend und Unschuld ihrer Tochter für sich selbst Kapital schlägt. Eines der krasseren Beispiele dafür sind die Fotos, die die Fotografin Irina Ionesco in den 1970er Jahren von ihrer kleinen Tochter Eva gemacht hat. Die Fotografien, die das Kind erotisch inszenzierten, sind in Zeitschriften wie Playboy und Penthouse erschienen und waren der Grundstein für die Karriere der Mutter, während das Kind auch als erwachsene Frau noch weiter unter der Sexualisierung durch die Mutter leidet. 2016 erstritt sie vor Gericht, dass die Fotobücher mit den Bildern von ihr nicht wieder aufgelegt werden durften. 2011 drehte Eva, jetzt Regisseurin, den Film “I’m Not a F**king Princess” über die Beziehung zu ihrer Mutter, die im Film von Isabelle Huppert gespielt wurde. Evas Roman über diese schlimme Zeit mit dem Titel “Les enfants de la nuit” ist 2022 erschienen.
Heidi Klum hatte, zusammen mit den Vätern ihrer Kinder, die durchaus respektable Entscheidung getroffen, die Gesichter ihrer Kinder weitestgehend aus allen Medien herauszuhalten, um ihnen eine Kindheit jenseits von Medienrummel zu ermöglichen. Ein weiterer Grund dafür, dass prominente Menschen ihre Kinder aus den Medien heraushalten, ist, dass diese die Chance haben sollen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ihren eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden – nicht bloß “das Kind von XY” zu sein, oder neudeutsch gesagt, ein “Nepo Baby”. Zweiteres kann im Fall von Leni Klum nicht das Motiv gewesen sein, Leni bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag aus den Medien herauszuhalten, da die ganze Inszenierung der Intimissimi-Kampagne sie ja explizit als die Tochter von Heidi castet und darstellt. Warum also dann das Kind so lange aus den Medien raushalten? Eine zynische Deutung wäre: Leni Klums Marktwert hat der späte “Launch” an Seiten ihrer Mutter zumindest eher erhöht.
Foto von Pawel Czerwinski auf Unsplash