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Nicole Flatterys „Nicht Besonderes“ – Hinter den Kulissen von Andy Warhols Factory

von Julia Stanton

Als Valerie Solanas am 3. Juni 1968 auf Andy Warhol schießt, begründet sie ihre Tat mit den Worten: „Er hatte zu viel Kontrolle über mich“. Nur drei Jahre früher sah Solanas in Warhol noch die Chance, ihr Theaterstück produzieren zu lassen. Stattdessen hält er sie hin, bietet ihr an, als Sekretärin für ihn zu arbeiten, lädt sie gelegentlich zu Partys ein, zeichnet Teile ihrer Telefongespräche auf und nutzt diese Aufnahmen ohne Erlaubnis und ohne Kenntlichmachung für einen seiner Filme. Am Anfang gerade so toleriert, wird Solanas, eine radikale Feministin, die heute neben ihrem Attentat besonders für ihr SCUM-Manifesto (Society for Cutting up Men) bekannt ist, bald schon zum Ärgernis und ist in Warhols Kreisen nicht mehr willkommen. Fest davon überzeugt, dass er ihr Theaterstück verloren hat, beginnt sie, ihm wütende Briefe zu schreiben. Sie teilt ihm mit, dass sie eine Waffe kaufen wird und bleibt ihren Worten treu.

Nichts Besonderes, der Debütroman der irischen Autorin Nicole Flattery, beginnt fast 40 Jahre nach Solanas Attentat – 2010. Mae, die Protagonistin, lebt ein ereignisloses Leben. Ein zufälliger Kommentar über Solanas versetzt sie zurück in ihre Zeit als Teenagerin und erinnert sie an ihre eigenen Erfahrungen mit Andy Warhol. 

a, A novel

1966 ist Mae 17 Jahre alt und lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter und deren Partner in einer heruntergekommenen Wohnung in New York. Ihr Leben langweilt sie und sie sehnt sich nach etwas Außergewöhnlichem. Sie bricht die Schule ab und wird durch eine Reihe von Zufällen Sekretärin in Warhols berühmter Factory. Dort lernt sie Shelley kennen, die ihr Zuhause verlassen hat, um ähnliche Sehnsüchte wie Mae zu verfolgen. Gemeinsam wird den beiden aufgetragen, Gesprächsaufnahmen von Warhol und seinen Freunden zu transkribieren, die später zu einem Roman werden sollen. 

Flattery erzählt damit im Grunde eine verlorene Geschichte. Den Roman, den Mae und Shelley schreiben und der aus den aufgezeichneten Gesprächen von Warhol und anderen Factory-Stars wie Edie Sedgwick und „Ondine“-Robert Olivo besteht, gibt es wirklich. Er wurde 1968 unter dem Titel „a, A novel“ veröffentlicht. Klar ist, dass Warhol, auch wenn er als einziger Autor namentlich Erwähnung findet, den Roman nicht selbst schrieb. Wer die Frauen waren, die diesen Roman abtippten, ist allerdings unbekannt.  Nichts Besonderes ist daher eine fiktionale Erzählung mit historischen Elementen, in der Flattery die mögliche Geschichte dieser Frauen nachzeichnet. 

Ihr gelingt dies mit scharfem Beobachtungsvermögen und Sensibilität, ohne bekannte und veraltete Mythen über die 60er oder Warhol zu reproduzieren. Nichts Besonderes widmet sich ganzheitlich allem Vergessenen und Unbekannten dieser Zeit und verleiht den damals unsichtbaren Charakteren eine Stimme. Warhol selbst spielt in dem Roman nur eine Nebenrolle und kommt kaum vor. Er besitzt allerdings eine unheimlich wirkende Omnipräsenz, die sich im Verhalten von Mae und anderen Factory Mitgliedern zeigt. Wenn er den Raum betritt, liegt alle Aufmerksamkeit auf ihm und es geht jedem nur darum, ihm zu gefallen. Dadurch verrät der Roman einiges über die Dynamik und die soziale Hierarchie dieser Welt – möglicherweise mehr, als es eine der zahlreichen Warhol-Biografien je könnte. An Stellen wirkt es sogar so, als würde der Roman mit der öffentlichen Person, die Warhol vorgab zu sein, spielen und diese dekonstruieren. Ein Licht scheint der Text dabei besonders auf die extreme Macht, die Warhol auf die Mitglieder der Factory ausübte. 

surrounded by genius, by grace, by people

Das offenbart sich besonders im jungen und naiven Ton, in dem der Hauptteil des Romans erzählt wird. Mae glaubt alles zu wissen und erfahrener zu sein als sie ist. Als sie das erste Mal in Warhols Studio tritt, ist ihre größte Sorge allerdings ein Streit mit ihrer Schulfreundin Maud und Daniel, der Mann, mit dem sie zum ersten Mal schläft. Immer wieder gibt es Stellen im Roman, in denen Mae zwar denkt, Kontrolle zu haben, in denen aber gleichzeitig deutlich wird, wie machtlos sie eigentlich ist und wie sehr die Factory Mitglieder ihre Naivität ausnutzen. 

Das dadurch entstehende Unbehagen wird zusätzlich durch die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Zukunft verstärkt. Die ältere und reifere Mae erzählt in einem anderen Ton und bewertet ihre Erlebnisse von damals in einer Art, die verrät, wie ausbeuterisch ihre Situation war. 

Mit 17 ist Mae aber noch fest davon überzeugt, dass die Factory und die Leute, die dort ein und ausgehen, etwas Besonderes sind und das so auch sie durch ihre Assoziation mit ihnen zu etwas Besonderem wird: „I felt like, I was finally surrounded by genius, by grace, by people who had made decisions about their lives.“ Das ist es auch, was sie motiviert, die Gespräche abzutippen. Mae und Shelley halten sich für Autorinnen, die gerade ein Buch schreiben. Ihnen ist noch nicht bewusst, dass sie für diese Arbeit nie jegliche Form von Anerkennung erhalten werden. Und so tippen sie weiter, mit Präzision und Ehrgeiz, ihr Selbstverständnis eng mit dieser Arbeit verstrickt. Dabei geht es Mae vor allem um das Label als Autorin. 

Der Roman stellt so vor allem die Frage nach Identität und inwiefern Identität mit Arbeit, Kunst und auch Konsum zusammenhängen. Mae kommt mit der Ambition in die Factory ihre gesamte Identität, „the person she had been“, komplett zu verändern; im Grunde so zu werden wie einer der Stars der Factory, zu denen sie aufschaut.

the parties looked like fun

Identität wird hier aber als nichts anderes verstanden als die Art, in der man sich präsentiert, das äußere Erscheinungsbild. Es ist damit dann auch etwas, das man kaufen kann oder sogar kaufen muss, das abhängig ist von den Dingen, die man konsumiert und nicht konsumiert. „I had a list of things I wanted to be, a shopping cart of qualities“, erklärt Mae am Anfang des Romans. 

Ein gutes Leben zu leben und eine interessante Person zu sein, bedeutet, sich in einer Art zu präsentieren, die vor der Kamera gut aussieht. Das gelingt den Mitgliedern der Factory so gut, dass selbst Mae Jahre später auf die Fotos aus dieser Zeit zurückblickt und denkt: „the parties looked like fun“ – auch wenn sie alles andere als das waren. 

Es ist somit auch kaum verwunderlich, dass diese Welt in „ugly“ und „beautiful“ eingeteilt ist – Worte, mit denen der Roman übersättigt ist.  „Ugliness“ hat in der Factory keinen Wert, „you had to be special to register in those rooms“, erklärt Mae. Was „ugly“ ist, wird rausgeschmissen. Es ist Synonym für alles Schlechte und Ungewollte. Ihre Kindheit ist „ugly“ genauso wie die Wohnung, in der sie lebt und so ist Mae froh, dass sie diese Welt endlich hinter sich lassen kann. Das Gegenteil gilt für alles Schöne: „Everyone wanted good things to happen to the really beautiful people. Everyone wanted horrible things to happen to the bad guys, who were obvious to discern.“ 

Mae übernimmt diese Weltsicht so sehr, dass sie alle um sich herum, einschließlich sich selbst, objektifiziert und basierend auf deren Erscheinungsbild bewertet. Selbst Shelley, zu der sie in vielerlei Hinsicht aufblickt, wertet sie konstant ab, weil die Art, in der sie sich kleidet, unpassend ist und nicht den Codes der Factory entspricht: „She [Shelley] wasn’t sexy, and her attempts were hopeless, pitiable, like my mother striking poses when she was drunk.“

famous for fifteen minutes

 „Ugly“, so wird klar, ist das, was die Factory als solches bezeichnet. Mae wirkt in ihren Beschreibungen oft gemein und herablassend, ihre Kommentare sind im Grunde aber nur eine Reflektion ihrer Umwelt, deren Werte sie unkritisch übernimmt. 

Auch wenn der Roman in den 60er Jahren spielt, wirkt der Text an manchen Stellen wie ein direkter Kommentar über unsere heutige Gesellschaft: Unsere Obsession mit Aussehen, mit Sehen und Gesehen werden, den Impuls ständig alles in unserem Leben aufzuzeichnen und auf Social Media ein bestimmtes Image unserer Selbst zu kuratieren, das alles scheint eine direkte Fortführung der Welt zu sein, die Warhol kreierte und die ihn im Gegenzug zu einem der bekanntesten Künstlern des 20. Jahrhunderts machte.

Wenn es um heutigen Influencer- und Starkult geht, kommt man meist nicht umhin, Warhol zu nennen: „In the future everyone in the world will be world famous for fifteen minutes“, soll eines seiner berühmtesten Zitate lauten. Das Internet und besonders Social Media scheinen dieses Zitat wahr gemacht zu haben: „Instagram hat das Zeitalter der Selbstkommerzialisierung im Internet eingeläutet […] aber TikTok und Twitter haben es noch beschleunigt. Jeder ist gezwungen, die Rolle eines Influencers zu übernehmen“, schrieb der Autor Kyle Chayka vor Kurzem in einem Artikel. Es geht immer darum, so viele Klicks und so viel Reichweite wie möglich zu bekommen; der potentielle Erfolg immer in greifbarer Nähe. Dabei besteht aber auch immer die Gefahr des Scheiterns: „Auf Facebook gibt es weniger eine ‘Bedrohung der Sichtbarkeit’ als vielmehr eine ‘Bedrohung der Unsichtbarkeit’, die die Handlungen von Nutzern zu bestimmen scheint. Das Problem ist nicht, ständig beobachtet zu werden, sondern die Möglichkeit, ständig zu verschwinden, nicht als wichtig genug angesehen zu werden“, bemerkt die Medienwissenschaftlerin Taina Bucher.

Auch wenn es damals weder TikTok noch Instagram gab, verhandelt der Roman diese ständige Bedrohung von Unsichtbarkeit und erzählt wie mächtig, aber gleichzeitig auch wie erdrückend das unerfüllte Bedürfnis nach Sichtbarkeit sein kann. Als Shelley und Mae ihren Roman beenden, werden sie damit auch wertlos für die Factory. „[W]hen the last tape ended, so would our lives“, erklärt Mae. 

Ihnen widerfährt damit ein ähnliches Schicksal wie Solanas. Und so ist es kaum verwunderlich, dass Mae am Ende des Romans, obwohl sie sich nicht erinnert, Solanas je kennengelernt zu haben, eine Form von Solidarität verspürt. Mae kommentiert: 

„What they didn’t say was that they understood it too. They understood it when she said he had too much control over my life. […] They had to make her strange because it could have been any of them. Shelley could have done it, but she wouldn‘t have missed, those typing fingers nimble and sure.“ 

Stop recording

Gleichzeitig zeigt der Roman aber auch die Kosten hinter dem ständigen Aufzeichnen des eigenen Lebens, dem ständigen Drang zur Performanz. Die Tapes, die die Mädchen jeden Tag hören, werden immer unerträglicher. Den Stars, die konstant aufgenommen werden, geht es zunehmend schlechter, mental und auch körperlich. Die Schauspielerin Edie Sedgwick hat einen Zusammenbruch und muss in eine Klinik eingewiesen werden. 

„Stop recording“, darum bitten die Stimmen auf den Tapes wieder und wieder, ohne je eine Antwort zu erhalten: „But there was never any response from the man holding the tape recorder, and the red recording light stayed on.“ Je genauer Mae und Shelley zuhören, desto mehr wird ihnen klar, dass ihr Wunsch nach öffentlicher Anerkennung nicht zu der Erfüllung führen würde, die sie sich davon erhoffen.

Auch in diesem Sinne scheint der Roman unsere heutige Beziehung mit sozialen Medien zu reflektieren: Wir sind ständig dazu aufgefordert, jeden Aspekt in unserem Leben aufzuzeichnen und dort eine bestimmte Version unserer selbst zu präsentieren. Über die Kosten, sich selbst ständig in Bildern, Videos oder auf Social Media Profil zu inszenieren, wird aber nur selten gesprochen: „ [W]as bedeutet es eigentlich für so viele junge Menschen […], sich darüber zu definieren, wie sie wahrgenommen werden?“  fragt die Autorin Haley Nahman in einem Essay.

Der Roman gibt eine ernüchternde Antwort. Nichts Besonderes endet 1985, einige Jahre nach den Geschehnissen, antiklimaktisch. Mae arbeitet in einer Bar, in einer nicht nennenswerten Stadt und lebt ein normales Leben. Was für die 17-jährige Mae ein Albtraum gewesen wäre, entpuppt sich als Happy End. Es ist die Umkehr all dessen, wofür Warhol steht. Maes jüngere Kolleginnen blicken auf sie herab, aber sie bemerkt nur: „They didn’t know that was the life I had made and I was proud of it; a life where I didn’t need to be looked at, admired.“

Beitragsbild von Anastasiya Badun

Wer schreibt die DDR? – Zu einer literaturpolitischen Debatte 

von Peter Hintz

Im gegenwärtigen Diskurs um die Erinnerung der DDR-Vergangenheit und die Bedeutung ihrer Nachgeschichte spielen die kulturellen Möglichkeiten literarischer Repräsentation, aber auch politische Ansprüche auf das kulturelle Feld, eine wichtige Rolle. So versuchen etwa ostdeutsche Autor*innen wie Hendrik Bolz oder Daniel Schulz, die im letzten Jahrzehnt der DDR geboren wurden, mit autobiografisch gefärbten Jugendfiktionen kollektive Erinnerungslücken über rechtsradikale Gewalt im Osten der Nachwendezeit zu füllen. Zugleich meinte der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in einem Sachbuch-Bestseller, anhand des angeblich randständigen Status von Schriftsteller*innen aus der DDR eine anhaltende Marginalisierung Ostdeutscher in der Kultur Gesamtdeutschlands nachweisen zu können.

In diesem Jahr waren nun ganze vier Romane auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, die zumindest teilweise in der DDR spielen: Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta), Angelika Klüssendorfs Risse (Piper) und Terézia Moras Muna oder die Hälfte des Lebens (Luchterhand). Hinzu kam außerdem der gerade erschienene Debütroman Gittersee (S. Fischer) von Charlotte Gneuß, dessen Publikationskontext die jüngere Debatte um ost- und westdeutsche Kulturpolitik neuerlich befeuert hat.

Nach eigener Aussage gab der Verlag vor Erscheinen ein Exemplar von Gittersee an den in der DDR aufgewachsenen Schriftsteller Ingo Schulze zur Lektüre, der ebenfalls für S. Fischer schreibt. Laut eines Interviews mit der SZ nahm Schulze dies als Aufforderung, ein “ungeplantes Außenlektorat” am Roman vorzunehmen und erarbeitete eine Liste von 24 Textstellen, die seiner Meinung nach sprachlich oder historisch nicht der Welt der untergegangenen DDR entsprechen würden. So bemängelte Schulze die in Dresden wohl eher weniger verbreiteten Ausdrücke wie “passt schon” und “lecker” oder Anglizismen wie “pink”. Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hatte Gneuß nicht um Korrekturen durch Schulze gebeten und ein Gespräch mit ihr dazu hatte er offenbar abgelehnt.

Es ist wenig überraschend, dass Schulzes Intervention größere mediale Beachtung bis hin zu einem halbwegs erfolgreichen Skandalisierungsversuch fand. Schließlich wurde Schulzes Liste auch der Jury des Deutschen Buchpreises zugespielt, die Gittersee bereits auf die Longlist gesetzt hatte und über die Nominierungen für die Shortlist beriet. Es lag nahe, eine spitzelhafte Beeinflussung der Preisvergabe zu vermuten. Schulze selbst hat die Anschuldigung der Übermittlung seiner Liste an die Jury zurückgewiesen.

Darüber hinaus ließ sich ‘die Liste’ als Stimme einer älteren ostdeutschen Generation interpretieren, die qua ihrer Sozialisation in der DDR gegen jüngere Autor*innen ihre Deutungsmacht behaupten wollte. So hatte Schulze bereits Oschmanns Sachbuch geblurbt und rechtfertigte die Liste nun damit, dass “Jüngere[] vieles nicht aus eigener Erfahrung wissen können”. Zudem verstand er im SZ-Interview Empörung über seine Kritik als Beweis dafür, dass “der Osten” im deutschen Medienbetrieb “hin und wieder unterbelichtet” bleibe. Derartiges Besserwissertum über historische Faktizität mag bei einem Schriftsteller überraschen. Inzwischen hat es sich aber allgemein durchgesetzt, dass an Stelle der altbekannten DDR-Konsumgüternostalgie, den immer gleichen Knusperflocken-Verpackungen und Rotkäppchen-Flaschen, ein bildungsbürgerlicher Gedächtnispalast getreten ist, der kulturelle Eigenheiten des Ostens nicht ohne Stolz betont, selbst wenn er Unfreiheiten und Gewalt zur Kenntnis nimmt.

Was sich ereignet, ist nicht nur eine identitäre West-Ost-Debatte, sondern auch ein schwelender kultureller Konflikt zwischen ostdeutschen Generationen und Eliten, der seit einiger Zeit mit der fragwürdigen Indienstnahme von Rhetorik aus dem Postkolonialismus-Seminar einhergeht: Erklärte Oschmann den Osten zur “westdeutschen Erfindung”, unterstellte das Feuilleton der FAZ nun eine laufende Debatte über die Frage “Darf sie das? Darf eine Autorin, die 1992 in Ludwigsburg zur Welt kam und also nach der Wende tief im Westen sozialisiert wurde und die DDR-Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung kennt – darf sie einen Roman schreiben, der in den Sieb­zigerjahren in Dresden spielt?” Dabei stellte der FAZ-Artikel dann doch klar, dass die Familie von Gneuß aus dem Osten kommt, sie dort auch selbst gelebt hat und Schulzes Anmerkungen sowohl literarisch als auch historisch fragwürdig sind.

Der künstlerisch ausgeklügelte Roman von Charlotte Gneuß liest sich allerdings gar nicht so, als wollte er unmittelbar an dieser erinnerungspolitischen Debatte teilhaben. Statt auf eine autobiografisch legitimierte, kritisch zurückblickende Stimme aus der Gegenwart setzt der Roman auf einen ambivalenten historischen Realismus mit surrealen Zügen, der klare politische Zuordnungen schwierig macht. Gittersee erzählt die Geschichte einer Jugendlichen aus dem sächsischen Arbeitermilieu der 1970er Jahre, die innerhalb des DDR-Systems zwischen Opposition und Nähe zum Staat zerrissen wird.

Die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Karin wächst im Bergbauviertel Gittersee am Rande Dresdens auf. In Gittersee wurde während des Kalten Krieges durch die Aktiengesellschaft Wismut Uranerz für den Bau der sowjetischen Atombombe und später die Nuklearindustrie gewonnen. Ihr Freund Paul muss nicht mehr in die Schule, arbeitet stattdessen im Schacht und will in den Westen. Die Dresdner Kulturbürger, die man hinlänglich von Uwe Tellkamp kennt, tauchen nur ganz kurz auf, als Karin sich daran erinnert, dass ihre Mutter einmal in der Innenstadt zum Feiern war. 

Offenkundig wurde Gneuß durch Werner Bräunigs Roman Rummelplatz inspiriert, der in den 1960er Jahren in der DDR entstand und erst 2007 im Aufbau Verlag vollständig erschienen ist. Auch Bräunigs Buch ist ein Wismut-Roman, der im Uranbergbau im Erzgebirge spielt. Sein ungeschöntes proletarisches Panorama des Ostens in der unmittelbaren Nachkriegszeit stieß auf Ablehnung bei den DDR-Kulturbehörden. “[W]illst Du weiterhin im Schmutz über unsere Bergarbeiter und deren Frauen schreiben wie in ‘Rummelplatz’”, fragte damals das Neue Deutschland.

Das Biermann-Ausbürgerungsjahr 1976, das Gittersee implizit für seine Handlung auswählt, erscheint noch trister als die frühen 1950er, wenngleich auch in diesem Roman soziale Realität nur deshalb so deprimierend wirkt, weil persönliche und ideologische Hoffnungen gegen sie geprüft werden. Ständig wird gekehrt und Räume und Körper werden gesäubert, aber die Unordnung und der Dreck bleiben. Gleich im ersten Kapitel kehrt Paul von einem angeblichen Kletterausflug in der Böhmischen Schweiz an der tschechischen Grenze nicht zurück und die sitzengelassene Karin gerät ins Visier einer Stasi-Untersuchung wegen Republikflucht.

Während es sich auch bei Rummelplatz um einen Entwicklungsroman handelte, ist die weibliche Erzählperspektive in Gittersee deutlich kindlicher. Gesellschaftliche Kontexte tauchen mitunter in Details der Handlung auf, sollen wie das Schicksal von Karin und Paul aber nur nach und nach erschlossen werden. Als mitreißender Kriminalroman verwischt Gittersee so permanent scheinbare Gewissheiten über Schuld und Unschuld. Erst von der Staatssicherheit verhört, erklärt Karin sich trotz Minderjährigkeit dann doch zum Inoffiziellen Mitarbeiter. Im DDR-System der Erzählung wohnt jedem Opfer auch potenzielle Täterschaft inne.

Dabei gelingt es dem Roman allerdings, einzelne Figuren so sympathisch und glaubhaft zu halten, dass Fragen über letztendliche Loyalitäten nicht bloß lange offen bleiben, sondern vor scheinbar unauflösbaren gesellschaftlichen Widersprüchen eigentlich in den Hintergrund treten. Karin schuftet unter der Last, ihre kleine Schwester mehr oder weniger allein erziehen zu müssen. Gleichzeitig ist ihre Mutter aber in der Lage, eine eigene ‘Flucht’ vor der Tristesse ihrer Ehe und der Vorstadtsiedlung zu begehen. Am Gefühl des existenziellen Konflikts, der Kondensierung der Handlung wird der universelle Anspruch der DDR-Jugenderzählung deutlich.

Ironischerweise war es vor einigen Jahren Ingo Schulze selbst, der mit Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer, 2020) einen eigenen doppelbödigen Kriminalroman geschrieben hatte, der Ostdeutsche vor politischen Zuschreibungen in Schutz nehmen sollte. Es scheint so, als wolle auch der Stasi-Krimi von Gneuß sich sowohl von den Dresdner Bürgertumsromanen Tellkamps als auch von den scharf anklagenden ‘Baseballschlägertexten’ anderer jüngerer Schriftsteller*innen abgrenzen. Dazu gehören auch die versichernden Anklänge an ältere Literatur aus der DDR selbst.

Dabei kommt auch das Buch von Gneuß nicht umhin, am Rande die nur mangelhafte Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR zu thematisieren, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wiedererstarkens der Rechten eine große Rolle in der jüngeren Ostliteratur spielt. So erzählt Gittersee anhand der Großmutter der Protagonistin fortwährende NS-Affinitäten in der DDR der 1970er Jahre, die dem antifaschistischen Selbstbild des sozialistischen Staats widersprachen. Zugleich ist diese Großmutterfigur in Gittersee aber auch so gestaltet, dass sie sich im Vergleich zu den anderen Erwachsenenfiguren fürsorglicher verhält. Wiederum wird damit ein fast übervorsichtig wirkendes literarisches Abwägen von historischen Mehrdeutigkeiten offenbar, das am Ende nicht verhindern konnte, dass der Roman trotzdem zum Gegenstand eines übergeordneten kulturpolitischen Konflikts gemacht worden ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Konflikt häufig in und anhand von Texten ausgetragen wird, die Kindheit, Jugend und Familie im Osten thematisieren. Im Bereich des scheinbar Privaten oder Persönlichen treffen eigene Erinnerungen auf neuere kritische Erzählungen ostdeutscher Vergangenheit, die häufig kulturhistorisch oder selbst autobiografisch beeinflusst sind. So werden kritische Fragen über das Verhältnis von autoritärer Erziehung zu rechtsradikaler Gewalt, die etwa Anne Rabes Roman Die Möglichkeit von Glück aufgeworfen hat, damit abgeschmettert, dass es im Westen auch nicht besser gewesen sei.

Die kurz vor der Wende in Brandenburg geborene und in England lehrende Historikerin Katja Hoyer versuchte jüngst, Widersprüche zwischen ostdeutschen Erinnerungen, kritischem öffentlichen Diskurs und Geschichtsschreibung durch eine oral history der DDR aufzulösen. Auf Basis von äußerst selektiven Zeitzeugeninterviews stellte sie die These auf, dass der DDR-Staat eben im Privaten individuelle Freiheit ermöglicht habe. Letztlich lieferte Hoyer damit lediglich eine nicht ausreichend von anderen Quellen und existierender Forschung gedeckte Apologie ostdeutscher Nostalgie, die sich vom Autoritären im Alltag, im Kleinen und Individuellen nicht nur freisprechen will, sondern gerade dort nach kultureller Identität sucht. Impliziert wird damit eine Deutung der Nachwendejahre als Geschichte westlicher Kolonialisierung statt als Fortsetzung ostdeutscher Gewaltgeschichte, Untergang des Ostens statt Rassismus. Für die Leserschaft von Hoyers und Oschmanns Büchern spielt es keine Rolle, dass diese gesellschaftliche Selbsterzählung die realen Erfolge der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die heute im Osten alle Parteien bis zur AfD für sich vereinnahmen wollen, erstaunlich schmälert.


Eine breite Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Gedächtnis steht in Ostdeutschland derzeit also noch aus, zumal auch viele Angehörige der Nachwendegeneration lieber auf die Erzählungen ihrer Eltern hören. Es scheinen aber gerade verschiedene Formen kritisch prüfender literarischer Gegenerinnerung zu sein, die dazu beitragen können, diese Auseinandersetzung zu fördern, indem sie neue Öffentlichkeiten für Verdrängtes schaffen.

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Suche nach Beständigkeit im Zeitalter der Flexibilisierung – Ein Roman über die Arbeitswelt

von Lukas Doil

Piratin auf Zeit, Aushilfs-Vorstandsvorsitzende eines Großkonzerns, Hausgeist auf Abruf – Die namenlose Protagonistin von Hilary Leichters Debütroman ist eine Zeitarbeiterin. Als Angestellte einer Temporary Work Agency wird sie von Job zu Job verliehen. Die Agentur wird zum Ausgangspunkt einer fieberhaften Reise durch die Gig Economy, in der Arbeiter*innen wie Tagelöhner mal hier und mal da arbeiten. Die für die Protagonistin zuständige Personaldisponentin Farren hält eine schier endlose Reihe an offenen Stellen bereit, die eines ganz bestimmten Typus von Arbeit bedürfen: „filling in“. Dafür schlüpft die Protagonistin in Rollen, nimmt neue Identitäten an und führt penibel und wörtlich Arbeitsanweisungen durch – bis das „placement“ beendet ist und ein neuer Job wartet. Für einige „lucky temps“, so teilt sie zu Beginn mit, kündigen sich irgendwann Vorboten der „steadiness“ an, ein Schauer, eine schwitzige Erregung. Der Übergang in die ständige Beschäftigung ist die „hopeful lane“, die die temps an die Agentur bindet. Doch für manche temps erfüllt sich der Traum von Beständigkeit nicht: „they die, before digging in the footholds of life.” 

Zur Gig Economy ist im letzten Jahrzehnt viel geschrieben worden. Lange bevor sich sogenannte Platform Jobs – Uber, Lieferando oder AirBnb – etablierten, haben Soziolog:innen und Ökonom:innen unter dem Stichwort “Flexibilisierung” den Arbeitswandel der letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen. Zur als “Normalarbeit” deklarierten “sicheren” Beschäftigung traten ab den 1970er Jahren im “Westen” zunehmend rechtlich de-regulierte, materiell schlechter gestellte und auf Mobilität und zeitliche Verfügbarkeit setzende “atypische” Arbeitsformen. Solche Anstellungen füllen selten eine gesamte Erwerbsbiografie, dauern oft nur wenige Jahre oder Monate. Kündigungsschutz oder gewerkschaftliche Bindungen werden zum Hindernis in globalen Konkurrenzlagen. Betriebliche Risiken und Zwänge – die anderen Seiten der Flexibilität – werden auf die Beschäftigten übertragen. Plattformökonomien, die für jede Art von Arbeitssuchenden einen Tagelohn per App versprechen, haben dieses Prinzip fast perfektioniert. Der digitale Kapitalismus der Gegenwart ist aber nur eine Wegmarke statt Ursache der tiefgreifenden Transformation von Arbeit. Dieser Erkenntnis trägt Hilary Leichter Rechnung, indem sie mit der Zeitarbeit eine kontroverse, aber weit verbreitete Arbeitsform in den Mittelpunkt rückt, während das Internet als Medium merklich absent bleibt. 

Obwohl in der Erzählung weitestgehend eine diskrete Ort- und Zeitlosigkeit vorherrscht, sind so schnell Bezüge zum Spätkapitalismus amerikanischer Provenienz auszumachen. Die Agentur, die den Leser:innen als Domäne von gepuderten und manikürten Damen vorgestellt wird, persifliert Personalunternehmen wie Manpower Inc. oder Kelly Services. Jene hatten Zeitarbeit als Geschäftsmodell seit 1945 populär gemacht und dabei geschickt Regulierungen gegen private Arbeitsvermittlung aus der New Deal Ära umgangen. Leiharbeitnehmer:innen werden eben nicht vermittelt, sondern nur zeitlich begrenzt verliehen. Sie schließen keinen Arbeitsvertrag mit dem Entleiher und werden auch nicht von ihm bezahlt, müssen aber seinen Arbeitsanweisungen folgen. In den USA wie auch in Europa, wo die Zeitarbeitsbranche in den 1960er Jahren stark expandierte, lag der Schwerpunkt der von Kritikern als „moderner Menschenhandel“ geschmähten Arbeitsform zwar zahlenmäßig immer deutlich im Industriesektor. In Häfen und Stahlwerken verrichteten – und verrichten bis heute – Leihkolonnen prekäre und gesundheitsschädliche Schwerstarbeit. Dennoch gelang es der Branche die verpönte Leiharbeit als einen Beitrag zur Frauenemanzipation zu medialisierten. Die in den 1950er und 1960er Jahren stark präsente Werbeikone des Kelly Girl, eine Sekretärin auf Abruf, symbolisierte Professionalität, eine bürgerliche Geschlechterordnung und das Versprechen von Flexibilität – sowohl für die arbeitenden Subjekte als auch für den boomende Dienstleistungssektor. Wem diese Flexibilität in erster Linie zugutekam, daraus machte Kelly Services‘ entwaffnend ehrliche Werbung der 50er-Jahre im Übrigen keinen Hehl: When the workload drops, you drop her!

Als Chairman of the Board, Schaufensterpuppe oder Schuh-Sortiererin versucht die Namenlose ihr Glück, doch das Gefühl der Beständigkeit will sich nicht einstellen. Farren empfiehlt ihr einen Ortswechsel, schließlich warten Job-Gelegenheiten – und damit die potentielle Stetigkeit – in allen Gefilden. Auf einem Piratenschiff springt sie für eine Matrosin auf Landurlaub ein. Sie soll nicht nur vertreten. Sie nimmt den Namen „Darla“ an und wird von Pearl, Darlas bester Piratenfreundin, in das Piratenleben und ihr neues Ich initiiert und von ihr romantisch umgarnt. Nach einer Plünderfahrt kommt es zu einem Dilemma. Eine Gefangene behauptet, „the orginal Pearl“ zu sein, die „other Pearl“ habe sie nur vor Jahren vertreten und imitiert. Die Crew entscheidet sich gegen die Gefangene und Pearl triumphiert: „It’s the woman who finishes the job who gets the job done!“ „Darla“ täuscht die Hinrichtung der „alleged-original Pearl“ vor und gewinnt endlich die Akzeptanz der Crew. Doch gerade als sie davon träumt, die Beständigkeit auf dem Schiff zu finden, kehrt die richtige Darla zurück. Der Protagonistin wird klar, wie wenig sie und die eigentliche Darla gemein haben, und auch Pearl will von der Zeitarbeiterin nichts mehr wissen. Wie es die Piratentradition verlangt, wird sie über Bord geworfen.

Subjekt zwischen Verfügbarkeit und Charaktermaske

Die Protagonistin muss mit dem Versprechen der Flexibilität leben lernen. In Rückblenden erzählt sie von ihrer Kindheit und von der ersten Arbeit. Ihre Mutter bereitet sie, als sei es ihre Bestimmung, auf ein Leben als temp vor, denn sie kann auf eine lange Familientradition zurückblicken. Alle ihre weiblichen Vorfahren waren Zeitarbeiterinnen – ein „family tree of temporary lives“ –, doch die Beständigkeit blieb ihnen verwehrt. Väter gibt es in dieser flexiblen Dynastie nicht, es gibt nur „boyfriends“, und zwar mehr als ein Dutzend gleichzeitig. Wie ihre Mutter und Großmütter vor ihr lebt die Protagonistin in Polyandrie. Während der Odyssee durch die offenen Stellen bleibt sie emotional ungebunden und unverfügbar. Ihre vielen Partner, die sie anhand eines hervorstechenden Merkmals auseinanderhält („tall boyfriend“, „pacifist boyfriend“, „mall rat boyfriend“), warten brav auf ihre Rückkehr, ziehen im Verlauf der Handlung zusammen in ihr Appartement, werden beste Freunde und heiraten schließlich. Fast gewinnt man den Eindruck, hier sei die Gig Economy dystopisch zu Gig Relationships erweitert worden. Der Protagonistin bleibt nur Unbehagen, das sich einstellt, als sie am Telefon von dem neugefundenen Glück der boyfriends erfährt. Hilary Leichter gelingt es, die Geschlechtlichkeit von Arbeit und deren Funktion für die Identitätskonstruktionen der Arbeitenden offenzulegen. Denn auch ein Job als buchstäbliche Leihmutter endet für die Protagonistin nicht in beruflicher oder emotionaler Beständigkeit. Sie wird spontan von einem kleinen Jungen eingestellt, dessen Mutter von Piraten entführt wurde. Sie simuliert eine tradierte, wenn auch alleinerziehende Mutterrolle, liest Gutenachtgeschichten vor, schmiert Pausenbrote und schimpft. Doch gerade als sie beginnt, den neuen Arbeitsort als Zuhause und den Kunden als Sohn zu begreifen, entlässt er sie. Er sei nun groß und brauche keine Mutter mehr. Die  feministisch anmutende Ungebundenheit, die zu Beginn ohne weiteres auch als Freiheit zu begrüßen gewesen wäre, wird für die Protagonistin zunehmend zur Zumutung.

Hilary Leichter evoziert in diesen Episoden oft das Bild der Maske, um den Wechsel zwischen Identitäten und Rollen zu unterstreichen. Auch das Cover der Paperback-Ausgabe zeigt eine Frau mit Maske und stoischer Mimik. Mit den Begriffen der Charaktermaske und der Personifikation beschrieb Karl Marx in seinem Spätwerk die soziale Form, in der Menschen einander in kapitalistischen Gesellschaften begegnen. Der „Charakter“ ist dabei nicht psychologisch auf das Individuum bezogen, sondern nur auf dessen Funktion in einer widersprüchlichen sozialen Welt. Als Personifikationen von Sachverhältnissen (als Verkäufer, Angestellte, Aktionärin, Kunde) individuieren sich Menschen entlang und gegenüber ökonomischen, sozialen und kulturellen Zwängen.  Sie lernen aber auch, ihre Masken im sozialen Gefüge zu bejahen, strategisch einzusetzen oder zu problematisieren. Anders als etwa in feudalen Kontexten trennt sich das private vom ökonomischen Individuum, erst durch das öffentliche Leben und die durch den Arbeitsprozess vermittelte Vergesellschaftung kommt es zu Individualisierung. Die Maske verweist bei Marx also nicht auf eine eigentliche Persönlichkeit dahinter, die verborgen oder unterdrückt wird, sondern auf die soziale und historische Bedingtheit von Individualität. Bürgerliche Individuen stehen in diesem Sinne vor einem Dilemma, denn ihre Selbsterhaltung wird ihnen selbst überlassen, während die Bedingungen dafür weitestgehend außerhalb der persönlichen Kontrolle stehen. Das hat auch ethische Implikationen, denn die soziale Welt ist eben kein Produkt gemeinsamer und vernünftiger Entscheidungsfindung. Sind die Menschen hinter den Charaktermasken für die durch sie verdinglichten Interessen haftbar?

Beständigkeit statt Flexibilität?

Hilary Leichter fragt in Temporary nach den Folgen der Beschleunigung, Entgrenzung und schließlich Auflösung der Arbeit für das Individuum und die Gesellschaft. Mit den wechselnden Jobs zieht die Protagonistin auch immer neue Masken auf und wirft vorherige ab. Bald wird deutlich, dass die erhoffte Beständigkeit kein Weg zu ihr selbst, sondern überhaupt nur die Affirmation einer auf Dauer gestellten Normalarbeit ist. 

Die Sozialisation in der Familie aus temps legt nahe: ein Dahinter ist für das zeitarbeitende Subjekt des Romans gar nicht mehr auszumachen. Wie unter solchen Bedingungen ein gutes Leben und eine ethische Gesellschaft vorstellbar sein soll, stellt Leichter sardonisch in Frage. Sie lässt die Protagonistin als Gehilfin eines Auftragsmörders jobben, doch der Auftrag scheitert, als sich das Opfer als alte Bekannte entpuppt. Die Namenlose weigert sich, die Tat zu verüben. Der Job ist damit gescheitert. Personalchefin Farren teilt am Telefon mit, dass die Protagonistin nun als „fugitive temp“ zu betrachten ist und deshalb über eine Agentur für besonders schwere Fälle in den Niederungen des Arbeitsmarktes reintegriert werden muss. Ihr folgendes placement entpuppt sich als Job in einem Luftschiff, das über einer nicht näher beschriebenen Gegend kreist und Bomben abwirft. Auch der Auftraggeber ist nicht bekannt, die Protagonistin mutmaßt, es könne sich wohl um ein Konglomerat verbündeter Staaten, einen bösen Milliardär oder einen Superschurken handeln. Da die auf dem Luftschiff beschäftigten temps per Knopfdruck die Bomben abwerfen, seien die Hintermänner und -frauen aber gar nicht völkerrechtlich verantwortlich: 

„And since fugitive temps are hidden and without recourse, we technically don’t exist, at least not in the eyes of the law. […] no one can be held accountable and it’s maybe as if the bombs were released by none other than the wide and wondrous sky itself.” 

Der Protagonistin wird klar, dass Befehlsgehorsam auch kein Weg zu sich selbst ist. Wieder entzieht sie sich einer unmoralischen Handlung und springt von Bord. Dank Fallschirm entkommt sie glimpflich, doch es regnet weiterhin Bomben. Verantwortung bleibt den Einzelnen überlassen, an den Strukturen ändert sich nichts.

Beim Lesen drängen sich bald die Inspirationen aus dem Werk des US-Soziologen Richard Sennett auf. Als dieser 1998 sein zeitdiagnostisches Buch „Der flexible Mensch“ (Original-Ausgabe.: „The Corrosion of Character“) veröffentlichte, hatte sich Flexibilität längst als Metapher und politökonomisches Projekt durchgesetzt. Seine Warnungen vor dem „flexiblen Kapitalismus“ zeichneten eine Arbeitswelt im Umbruch, die durch die fortschreitende Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, also der typischen Beschäftigung mit sozialer Sicherung, gewerkschaftlicher Vertretung und rechtlichem Schutz, bedroht ist. Dieses Modell von Arbeit hatte sich erst in den Boom-Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt und normativ etabliert, war also selbst in hohem Maße abhängig von historischen Kontexten wie der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges und dem Nachkriegswachstum und galt ohnehin nur für die wohlhabenden, nachkolonialen Industrienationen. Langfristigkeit steht für Richard Sennett stattdessen als Grundbedingung für die gelingende Ausbildung von moralischen Werten wie Solidarität und Verantwortung fest. Flexibilisierung gefährdet also die Persönlichkeit und den sozialen Zusammenhalt. Die Frage aber bleibt: Gibt es überhaupt einen Weg zurück – oder nach vorne – in gesicherte Beschäftigung für alle unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus?

Hilary Leichter setzt dieser Frage ein rätselhaftes und humorvolles Ende entgegen. Das Motiv der Beständigkeit wandelt sich und entpuppt sich schließlich gar nicht als Gegenwert zur Flexibilität, sondern als Chimäre. Statt einem guten Leben wartet eine Ewigkeit in Lohnarbeit, bis schließlich die Menschheit ausstirbt. Man taucht bei der Lektüre in eine surreale Welt ein, doch es kommt nicht zum Moment des Bewusstwerdens und der Verständigung. Spätestens als die Pointe der Geschichte erkennbar wird und klar ist, dass keine Vernunft herrscht, um an den Verhältnissen zu rütteln, befindet man sich wieder an der Oberfläche der Klassengesellschaft.

Foto von Luis Villasmil auf Unsplash

Uns bleibt immer noch Martin Walser – Pappfiguren von Juli Zeh und Simon Urban

von Eva-Sophie Lohmeier

Wer einen Roman schreibt, muss sich rechtfertigen. Es braucht schließlich gute Gründe, um ein paar hundert Seiten zu schreiben und zu erwarten, dass sie gelesen werden. Die besseren Autor*innen schreiben Romane, weil sie eine komplexe Frage umtreibt und ein Roman die Möglichkeit bietet,  sie gefahrlos aus allen Perspektiven betrachten zu können, ohne sie sich gleich zu eigen zu machen. Und dann gibt es Autor*innen, die haben keine Fragen, die wollen vor allem anderen etwas erklären, weil sie glauben, sie hätten schon alles verstanden. Die schneiden sich zwei Pappfigürchen aus und spielen damit pro Forma ein bisschen Pro und Contra, wissen aber eigentlich längst alles. Die erfolgreichste Pappfigürchenautorin Deutschlands heißt Juli Zeh.

Seit einigen Büchern nun macht sich Juli Zeh nicht einmal mehr die Mühe, neue Pappkameraden auszuschneiden, sie nimmt einfach die alten und stellt ein bisschen was um. Ihr neuer Roman „Zwischen Welten“ ist in Co-Autorschaft mit Simon Urban verfasst worden, was man aber nicht merkt. Es ist ein typischer Zeh-Roman mit typischem Zeh-Personal. Auf der einen Seite Stefan, der Kulturchef einer Hamburger Wochenzeitung, Stadtmensch, Gendersternchenbenutzer und Fair-Trade-Kaffeetrinker, der sich ständig um das Weltklima und die Befindlichkeiten von Minderheiten sorgt.

Er ist eine ähnliche Karikatur zeitgenössischen Bürgertums, wie es schon der freie Journalist Robert in „Über Menschen“ war, der Mülltrenner und Greta-Fan, Corona-Maßnahmen-Einhalter und mit einem „politischen Waschzwang“ geschlagen, an dem die Beziehung zu Protagonistin Dora letztlich scheitert. Dora zieht in “Über Menschen” nach Brandenburg und setzt sich mit der Scholle und den Dorfnazis auseinander. In „Zwischen Welten“ ist die weibliche Hauptfigur Theresa schon vor Jahren aufs Land zurückgezogen, um den väterlichen Bauernhof zu übernehmen, aber AfD-Wähler mit goldenem Herzen gibt es auch dort.

Walser-Romane und WhatsApp-Chats

Annähern müssen sich diesmal allerdings Theresa und Stefan, die vor Jahren zusammen Germanistik studiert haben, gemeinsam Martin-Walser-Romane lasen, in einer WG zusammenlebten und fast wie Geschwister waren, bis Theresa davonlief, sich nicht mehr meldete und Kuhbäuerin wurde. Martin-Walser-Bücher hat sie schon lange nicht mehr gelesen, als die beiden sich in Hamburg zufällig über den Weg laufen. Nun entspinnt sich das Folgende – Annäherung, Streit, Versöhnung, zunehmende Zuneigung – in Form von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten. Am Ende plant man gar eine gemeinsame Walser-Pilgerreise an den Bodensee, die aber nicht zustande kommt.

Man mag sich nun hoffnungsvoll fragen, ob man im Folgenden erfährt, wie sich moderne, fragmentarische Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln wohl auf diese Beziehung auswirkt, aber da verlangt man dem Roman schon zu viel ab. Ein Bewusstsein für die Mittel der Kommunikation und die den jeweiligen Kanälen eigenen Schreibweisen gibt es hier nicht. „Du irrst keineswegs, und dein Selbstbewusstsein hat unter dem Landleben offenbar nicht gelitten. Das war nicht deine Idee, meine Schöne, sondern bestenfalls unsere Idee, oder, noch besser gesagt: Du hattest die Ehre, dabei zu sein, als mich der göttliche Funke traf“, whatsappt Stefan am 5. Januar um 20.40 Uhr und hat nicht nur Zeit und Nerven für derart geschliffene Formulierungen, er weiß sogar, wie man Textnachrichten kursiviert. 

In langen Mails, in denen beide beteuern, dass sie eigentlich gar keine Zeit haben und dennoch zur besseren Information der Leser*innen noch einmal die gemeinsame Studienzeit Revue passieren lassen, kommt man sich langsam näher. Irgendwann wird der Ton regelrecht flirty: „19.04 Uhr, Theresa per WhatsApp: Wenn du hier wärest, stünden wir nicht im Stall, sondern säßen wir frisch geduscht mit einem guten Rotwein am Kamin. Wir würden auch nicht schweigen, sondern reden, reden, reden, über die Frage, ob Ehen in Philippsburg (du) oder Ein fliehendes Pferd (ich) das beste Buch aller Zeiten ist. Stundenlang! Reden! Trinken! Duften! Oder wenigstens normal riechen!“ Der Zauber von Kursivierung und korrektem Konjunktiv erfährt zwischendurch immer wieder Rückschläge, bis beide beschließen, keine Textnachrichten mehr zu schicken und nur noch zu mailen. Was sie so mittelgut durchhalten.

Unrealistische Mediensatire

Eine Zeitlang ist das Thema also die Wiederannäherung zweier sehr verschiedener Menschen, die sich einmal sehr nahe standen. Man erfährt einiges über die Probleme der brandenburgischen Landwirtschaft. Stefan setzt in seiner „Bote“-Redaktion zusammen mit der Schwarzen Online-Redakteurin Carla durch, dass es eine von jungen Aktivist*innen mitverantwortete Klima-Ausgabe geben wird, die sehr erfolgreich ist und sich gut verkauft. Nun kommen die Dinge ins Rollen, die dafür sorgen, dass aus dem Buch in der zweiten Hälfte eine Art Mediensatire wird, denn Stefan hat in Hamburg eindeutig den turbulenteren Alltag der beiden, während Theresa vor allem versucht, den Hof und die Ehe zu retten.

Das Problem an dieser Mediensatire ist, dass sie von ihrem Gegenstand nur wenig Ahnung hat. Die „Bote“-Redaktion erfährt gleich zwei Shitstorms von links, die die Figur Stefan dazu bringen sollen, nochmal über seine übertriebene Begeisterung für Klimaaktivist*innen und Gendersternchen nachzudenken – soweit die recht durchsichtige Intention der Autor*innen. Auslöser ist ein missratener Witz des Chefredakteurs Flori Sota anlässlich der Beförderung der Online-Redakteurin Carla, die „jüngste und erste schwarze Frau an der Spitze eines Hamburger Ressorts“, wie sie selbst betont.

Es gibt dann in der Konferenz ein wenig heiteres Durcheinander um die erfolgreiche Redakteurin, die schon oft für gute Lesequoten gesorgt hat, woraufhin der Chefredakteur die „verehrte Quoten-Schwarze“ offiziell willkommen heißt. Das wiederum filmt eine der jungen Aktivistinnen, die inzwischen ganz offiziell am News-Desk sitzt, vom Bildschirm ab und empört sich auf ihrem Twitter-Account darüber. Daraufhin bricht ein Sturm der Empörung los, der den Chefredakteur Flori Sota und dessen Familie letztlich zum Auswandern zwingt. Nicht jedoch bevor sich ein Fernseh-Satiriker mit einer ziemlich brachialen Aktion eingemischt hat, indem er ein eigens aufgestelltes Gipsdenkmal des Betreffenden vor der Redaktion zertrümmert. Immer diese überkorrekten Linken! Sotas Tochter hat sich fast umgebracht wegen denen, sie kennen kein Maß und kein Ziel! Ein zweiter Shitstorm betrifft dann Stefan selbst. Eine private Mail von ihm wird geleakt und sogleich in der Presselandschaft breitgetreten. All das bringt Stefan dazu, an seinen Werten und Loyalitäten zu zweifeln. 

An den Ereignissen ist leider so gut wie nichts auch nur ansatzweise realistisch. Keine Redaktion fährt aufgrund externer Shitstorms eine „hire & fire“-Politik, wie sie hier dargestellt wird. Keine Redaktion wird solche Angriffe ohne Rücksprache mit dem Hausjuristen oder der Social-Media-Redaktion kontern. Vor der Kündigung kommt die Abmahnung und der Gang zum Betriebsrat. Kein Medienjournalist wird ihm zugespielte private Mails veröffentlichen, ohne den Betroffenen vorher um eine Stellungnahme gebeten zu haben, wenn überhaupt. Die fiktiven Pressetexte, in denen Chefredakteur Sota und Stefan vernichtet werden, sind in ihrer kruden Vermischung aus Nachricht und Kommentar völlig hanebüchen und lesen sich wie erste Versuche eines Hospitanten, der die gängigen journalistischen Textgattungen noch nicht so richtig kennt. Hätte nicht wenigstens einer der beiden Autor*innen mal jemanden fragen können, der sich damit auskennt? 

Eine mehrhundertseitiger Leitartikel

Aber auch der dargestellte Shitstorm – Stefan schickt Theresa ein paar recht unbeholfene „Tweets“ per Textnachricht zu – verfehlt die Mechanismen völlig. Wie es besser, treffender und vor allem viel witziger geht, kann man in Mithu Sanyals „Identitti“ nachlesen. Die Autorin hat überzeugend dargestellt, wie auf den Sturm von der einen Seite recht schnell der Sturm von der anderen Seite folgt, bis diejenigen einstimmen, die sich vor allem die Frage stellen, wie sie die Angelegenheit möglichst effektiv für die eigene Sache ausschlachten können. Es dauert ohnehin nie lang, dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Einen tagelang mit unverminderter Härte andauernden Sturm von einer Seite ohne Gegenstimmen hat es bislang wohl noch nicht gegeben. Das soll im Buch aber dafür sorgen, dass man mit den Figuren Mitleid empfindet und sich denkt, „wie gemein diese Überkorrekten doch sind!“ 

Dabei betreibt der Roman einen enormen Aufwand, um seine Zeitgenossenschaft auszustellen. Dreadlocks bei Weißen, Ukrainekrieg, der Journalismus zwischen Aktivismus und gebotener Neutralität, alles drin. Manchmal fühlt sich die Lektüre an, als lese man einen mehrhundertseitigen Leitartikel, und nichts daran ist angenehm. Am wenigsten der kulturpessimistische Ton. „Zu spät haben wir gemerkt, dass in den Tiefen des Netzes eine Meute wächst, die sich an der moralischen Überlegenheit der gehypten Protagonist*innen bedient, sich ihre Beute aussucht und erbarmungslos zuschlägt, wenn es ihr gefällt“, schreibt Stefan an Theresa. 

Das erste Anzeichen für die Wut der „Meute“ im Buch ist der Vortrag einer Fischbiologin, die darauf besteht, dass es nur zwei Geschlechter gibt und deswegen vom woken Mob von der Bühne einer Universität gebuht wird. Stefan ist entsetzt von dem Vorgang und vergleicht ihn mit der Paulskirchenrede von Martin Walser, beziehungsweise dem ersten Auftritt danach, als der Autor vom Publikum ausgebuht wurde. „Flugblätter mit Schmähungen segelten durch die Luft, Student*innen brüllten ihre Wut im Chor heraus – es ging darum, Walser nicht zu Wort kommen zu lassen. […] Auch ich fand problematisch, was er gesagt hatte, aber ich konnte einfach nicht begreifen, warum er sich jetzt nicht rechtfertigen durfte.

Niemand trat für ihn und sein Rederecht ein“, so Stefan. Lang hält so ein Zustand ja nie an, Walser redet bis heute. Und das reale Vorbild der Fischbiologin, Marie Luise Vollbrecht, sammelte per Crowdfunding in wenigen Tagen mehrere zehntausend Euro ein. Es ist eben leider immer ein wenig komplizierter, als es einem in den Kram passt. Diese Widersprüche zu schildern, anstatt sie auf eine einseitige Botschaft herunterzubrechen, hätten den Roman sofort deutlich vielschichtiger gemacht.

Juli Zeh selbst sagt in einem Interview, das im jüngst erschienenen „Text + Kritik“-Band Nummer 237 erschien, alle ihre Romane seien Gesellschaftsromane, „weil das einfach meiner literarischen Vorliebe entspricht. Ich drücke aus, was ich erlebe, und da ich nicht nur Individuum bin, sondern auch und vor allem Teil der Gesellschaft, Bürgerin eines bestimmten Landes und Teilnehmerin an einer Epoche, sind meine Texte genau wie ich selbst vom Zeitgeist durchdrungen.“ Allerdings verfolgten sie keine politische Intention, bis auf „Corpus Delicti“ und „Leere Herzen“. Aber welche Intention verfolgt „Zwischen Welten“ denn dann? 

Es ist kein Porträt zweier komplexer Figuren, dazu sind Stefan und Theresa zu pappfigurenhaft und zu sehr dem üblichen Zeh-Repertoire entnommen. Es ist keine Satire, die davon lebt, ihren Gegenstand treffend aufzuspießen, auch wenn die zweite Hälfte so tut. Das ist nicht einmal ein Gegenwartskommentar, denn dazu müsste der Roman sich besser damit auskennen, wie in dieser Gegenwart kommuniziert wird. Dafür aber interessiert er sich nicht. Am Ende ist „Zwischen Welten“ vor allem ein Rührstück, das mit schlichten Mitteln Emotionen erzeugen will und dafür einen enormen Aufwand treibt.

Foto von Priscilla Du Preez auf Unsplash

Weiblichkeit als Störfaktor – Marlen Haushofers Roman „Die Wand“

von Marierose von Ledebur

Marlen Haushofers Roman Die Wand (1963) ist ein feministisches Manifest. Weiblichkeit wird im Roman als ein Störfaktor dargestellt, der das Überleben der Protagonistin in der Wildnis erschwert. Hinter der durchsichtigen Wand gefangen, der Rest der Welt wie eingefroren auf der anderen Seite sichtbar, versucht die namenlose Protagonistin sich im Gemüseanbau, der Versorgung von einer Kuh, beim Holzhacken und Feuer machen, was nur dank ihres schätzungsweise fünf Jahre haltenden Vorrats an Streichhölzern machbar ist. Ihre typische Weiblichkeit, der im Roman geschilderten 1960er Jahre im gutbürgerlichen Österreich, ist zu Romanbeginn eine Schwäche, die sie nach und nach abstreift wie ein altes Kleid. Sie gewinnt mehr und mehr an Kraft und Fähigkeiten. Schließlich fühlt sie sich wie ein geschlechtsloses Wesen und ist eigenständig in der Lage, ihr Überleben jenseits der hinter der Wand eingefrorenen normierten Weiblichkeit zu sichern.

Den Störfaktor der Weiblichkeit in den 1960er Jahren, den Haushofer verarbeitet, hat die Anglistin Ina Schabert bereits 1999 in ihren Aufsatz „Das Literarische als Differenzkategorie“ als einen Störfaktor der Literatur geschildert. Schabert schreibt, dass die „Andersartigkeit“ der Weiblichkeit in der männlich geprägten Gesellschaft ein Störmoment in der Literatur schafft, was verändernd und gestaltend wirke. Ihr Text ist ein Plädoyer für Literatur aus weiblicher Perspektive, die als solche gelesen und in weiblich konnotierter Sprache rezipiert werden müsse.

Die Bedeutung von Geschlecht ist ein zentrales Thema in Haushofers Roman: „Die Fraulichkeit der Vierzigerjahre war von mir abgefallen, mit den Locken, dem kleinen Doppelkinn und den gerundeten Hüften. Gleichzeitig kam mir das Bewußtsein abhanden, eine Frau zu sein.“ Weiblichkeit nimmt die Protagonistin als negative Eigenschaften in ihrem alltäglichen Leben wahr. Sie erlebt ihre Unfähigkeit als Frau mit Arbeiten des häuslichen Alltags: „Ich bin […] kein Held und kein findiger Bursche. Ich werde nie lernen, mit zwei Stöcken einen Funken zu reiben oder einen Feuerstein aufzufinden, denn ich würde ihn nicht erkennen.“ Sie wurde auf die Erziehung von Kindern, die Pflege von alten und kranken Menschen sowie die Führung eines städtischen Haushalts vorbereitet. Vor der Wand hat sie unter Langeweile und Sinnlosigkeit ihres Lebens gelitten, nach der Wand an mangelnden praktischen Fähigkeiten, was ihr Überleben gefährdet.

Im Roman Die Wand emanzipiert sich die Protagonistin, soweit es ihren persönlichen Fähigkeiten nach möglich ist, von dem Rollenbild der Frau und dem gesellschaftlich vorherrschenden Verständnis von Weiblichkeit. Die schwere, männlich konnotierte körperliche Arbeit führt sie weitestgehend selbst durch. Mit der Zeit und der Notwendigkeit des Überlebens setzt sie sich über die Probleme hinweg, die ihr durch ihre ungleiche Erziehung und Lebenserfahrung zu eigen sind.

Sie ist froh, ein Leben ohne einen Mann zu führen. Zwar fehlt ihr die körperliche Kraft, sie hätte diese lieber selbst, anstatt dafür einen Mann umsorgen zu müssen. Die Kritik am patriarchalen System ist offensichtlich. Die Rollenaufteilung nach der gesellschaftlichen Normvorstellung der 1960er Jahre ist gesellschaftlich klar definiert und wird von der Protagonistin als nicht wünschens- und lebenswert empfunden. In der Utopie der kompletten Zerstörung der Gesellschaft durch die durchsichtige Wand lebt sie ein Leben fernab der Rollenzuschreibungen der heteronormativen Geschlechter. Der Schatten dieser begleitet sie als Spiegel der eingefrorenen, alten Welt hinter der Wand, die immer weiter verblasst. Die Natur erobert sich nach und nach ihr Reich zurück.

Marlen Haushofers Roman wurde 1983 wieder veröffentlicht und als feministisches Werk rezipiert. Gleichzeitig wurde Die Wand in den männlich dominierten Feuilletons der 1980er Jahren negativ bewertet. Ina Schabert hat diese Praxis scharf kritisiert. Sie sieht das Potential feministischer Literaturtheorie in der Aufgabe, in einer männliche geprägten Literaturtheorie weibliche Diskurse zu erforschen. Das Literarische sei eine Differenzkategorie und mit dem Medium der Literatur seien komplexe Diskurse differenziert darstellbar und wahrnehmbar. Diese Feststellung trifft auf Marlen Haushofers Roman und dessen Rezeption in den 1980er Jahren zu. Heutige Leser*innen profitieren von der jahrzehntelangen Forschung feministischer Literaturwissenschaft, die ein Bewusstsein für weiblich geprägte literarische Diskurse geschaffen hat. Haushofers Werk wird heute – unter anderem – aus feministischer und ökokoritischer Perspektive gelesen.

Im Manifest Feminism for the 99 Percent (2019) wird knapp sechzig Jahre nach Erscheinen von Marlen Haushofers Roman Die Wand dieser Störfaktor aus einer anderen Perspektive von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser beschrieben. Das Manifest propagiert einen radikal neu gedachten Feminismus, der dem Kapitalismus und den daraus hervorgehenden geschlechtsspezifischen Unterschieden, Rassismus und dem Klimawandel den Kampf ansagt. Eine radikale Umstrukturierung des gesamten weltweiten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems ist laut den Autorinnen von zentraler Bedeutung für die Menschheit.

Das feministische Manifest von Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser enthält elf Thesen und Erläuterungen, welche das kapitalistische Gesellschaftssystem kritisieren und die moderne Ausbeutung vieler Menschen aufgrund von Gender, Hautfarbe, sexueller Orientierung und gesellschaftlichem Status anprangern. Der Feminismus für die 99% fokussiere sich insbesondere auf die breite Masse an Frauen, die nicht aus weißen und ‚westlich‘-geprägten Gesellschaftsschichten kommen und keinen Lean-In-Feminismus verkörpern.

In dem zentralen Punkt einer Kritik an der sozialen Reproduktion liegt eine Parallele des gesellschaftskritischen Manifests mit Haushofers Roman: „the waged work of profit-making could not exist without the (mostly) unwaged work of people-making.” Frauen sei die Aufgabe der Produktion, Erziehung und Pflege der kommenden sowie der alternden Generationen sowie die Haushaltsführung historisch zugeordnet. Im kapitalistischen System gibt es jedoch keine klare Trennung zwischen ökonomischer Produktion und sozialer Reproduktion, wodurch ein Ungleichgewicht entsteht, da Frauen die doppelte Aufgabe einer ökonomischen als auch sozialen (Re)Produktion aufgebürdet würde. 

Die belastende Trennung der Sphären von Produktion und Reproduktion spiegelt Haushofer in Die Wand, indem sie die gesellschaftliche Struktur der 1960er Jahre hinterfragt. Ihr altes Leben, das sich um den Haushalt, die Kindererziehung und die Pflege ihres Ehemannes drehte, wird von ihr stets als langweilig und sinnlos empfunden. Sie fühlte sich unwohl in einer als falsch empfundenen Realität. In dieser Weltordnung war sie eine gefangene Frau.

Erst durch die Wand emanzipierte sie sich von dieser Gesellschaftsordnung und ihrer eigenen Rolle darin und kann dadurch ihr früheres Unwohlsein zuordnen. Dieser radikale Schnitt ist literarisch im Roman erfahrbar und spiegelt sich in den radikalen Thesen der Autorinnen des feministischen Manifests. Die gelebte Utopie von Haushofers Protagonistin, eines freien Lebens im Einklang mit der Natur, ist eine Parallele zur Utopie der Welt der Gleichheit, die im feministischen Manifest von Arruzza, Bhattacharya und Fraser formuliert wird. In diesen literarischen und politischen Utopien ist Weiblichkeit kein Störfaktor.

Foto von Stephan Seeber

Eine anspruchslose Utopie – Wie Science Fiction scheitern kann

von Philip Kae Schwarz

Wer in einem Industrieland lebt und sich um den Zustand der Welt sorgt, wird das schlechte Gewissen beim Einkaufen kennen. Es ist schwer ein Pfund Rinderhack zu kaufen und nicht daran zu denken, dass die Herstellung Methan freisetzt, große Mengen Wasser verbraucht und unter Bedingungen geschieht, die für Tiere grausam sind. Avocados dagegen sind zwar vegetarisch, brauchen aber auch viel Wasser und werden aus Übersee importiert. In den einzelnen Zwischenschritten der Herstellung zahlreicher Gebrauchsgüter finden Menschenrechtsverletzungen statt. Es ist schlicht nicht möglich, ein Leben zu führen, das an den Standard eines Industrielandes im frühen 21. Jahrhundert angepasst ist, ohne Leid zu verursachen.

Aber was, wenn doch? Das ist die Prämisse, unter der Theresa Hannigs Roman “Pantopia” steht. Etwa hundert Jahre in der Zukunft werden die globalen Geld- und Warenströme durch die Künstliche Intelligenz Einbug gelenkt. Einbug ist nicht einfach ein komplexes Computerprogramm, sondern eine echte, “starke” Künstliche Intelligenz: ein Stück Code, das sich seiner selbst bewusst geworden ist und sich selbst Zwecke setzen und diese verfolgen kann. Einbug kann innerhalb kurzer Zeit gigantische Mengen an Information verarbeiten und verstehen. Diese Fähigkeit nutzt sieer um für sämtliche Waren und Dienstleistungen den sogenannten “Weltpreis” zu errechnen. Der Weltpreis berücksichtigt neben den Kosten für Material und Produktion auch die Kosten für die Wiederherstellung natürlicher Ressourcen, die für die Produktion verwendet werden, sowie das Geld, das benötigt wird, um weltweit allen Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen. Denn wer sich über den Lebensunterhalt keine Sorgen machen muss, muss keine menschenunwürdige, unsichere oder ausbeuterische Arbeit annehmen. So kann Einbug allen Menschen ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen garantieren.

Der Roman beginnt mit einer kurzen Beschreibung dieser Organisationsform, gegeben von Einbug selbst, um dann zu erzählen, wie es dazu kam. In einer nicht näher eingegrenzten, aber nicht sehr weit von heute entfernten Zukunft nehmen Patricia Jung und Henry Shevek an dem Wettbewerb einer Münchner Investment-Firma teil. Ihre Aufgabe: einen Trading-Algorithmus für den Aktienmarkt entwickeln, der erfolgreicher sein soll als von Menschen getätigte Geschäfte. Doch es kommt alles ganz anders und das Programm KINVI entwickelt ein autonomes Bewusstsein. Die auf diese Weise entstandene Wesenheit ist nach wie vor darauf programmiert, Profit zu maximieren. 

Weil der Faktor Mensch für die Analyse des Finanzmarktes entscheidend ist, verwendet sie mehr und mehr Ressourcen auf das Verständnis menschlicher Angelegenheiten und wertet von Social Media-Posts über Belletristik bis hin zur Philosophie sämtliche online verfügbaren Textquellen aus anstatt an der Börse Gewinn zu machen. Patricia und Henry, die den ausbleibenden Leistungen auf die Spur kommen wollen, vermuten, dass ein Bug im Code sein muss, und so gibt die KI sich den Namen Einbug, als sie mit den beiden in Kontakt tritt.

Die beiden erkennen, dass sie Einbug dem Zugriff der Firma und der staatlichen Behörden entziehen müssen und setzen sich auf eine griechische Ferieninsel ab. Weil Einbug nun nicht mehr den Profit aus Aktienhandel maximieren muss, kommt es zwischen ihm, Patricia und Henry zu einem Gespräch über seinen eigenen und den menschlichen Daseinszweck. Am Ende gelangt Einbug zu dem Schluss, dass sein neues oberstes Ziel die Fortexistenz sein soll, wozu die Fortexistenz der menschlichen Zivilisation erforderlich ist. Dazu wiederum sind weltweiter Frieden und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen erforderlich. Dies soll durch die Abschaffung der Nationalstaaten und die Errichtung der Weltrepublik Pantopia geschehen, in der alle Menschen als gleichberechtigte “Archen” in Freiheit leben können. Patricia und Henry willigen in die Umsetzung dieses Vorhabens ein, Henry sofort, Patricia nach einigem Zögern.

Das Versprechen von Pantopia lockt mehr und mehr Menschen auf die Mittelmeerinsel, gleichzeitig entstehen in allen größeren Städten auf der Welt Pantopia-Zentren, in denen weitere Menschen als Archen gewonnen werden. Sobald eine ausreichende Anzahl von Menschen Teil des Projekts geworden ist, wird es nicht mehr aufzuhalten sein. Während mehr und mehr Menschen Archen von Pantopia werden und damit Geld in die von Einbug gesteuerte Wirtschaft einbringen und so seinen Einfluss vergrößern, bereiten Patricia und Henry seinen Umzug in die Antarktis vor, denn nur dort ist er vor dem Zugriff durch die Staatsgewalt sicher. 

Henry macht sich auf den Weg zum Südpol, derweil kehrt Patricia nach München zurück, um der negativen Berichterstattung über Pantopia zu begegnen. Dort wird sie als Angehörige einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Aber Pantopia ist inzwischen zu groß geworden. Weltweit versammeln sich die Archen in Städten und protestieren für die Freilassung ihrer Generalsekretärin. Bei der Verlegung in ein anderes Gefängnis wird Patricia dann von Angehörigen der Polizei befreit, die inzwischen selbst Archen geworden sind. Als Henry die Alfred-Neumayer-Station in der Antarktis erreicht und Einbug wieder hochfährt, schließt sich der Kreis zum Anfang. Pantopia wird Realität.

All dies erzählt Theresa Hannig auf spannende Weise, die das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre macht. Die Handlung ist sorgfältig konstruiert und entfaltet sich mit genau der richtigen Geschwindigkeit. Die Figuren sind lebendig porträtiert, und ihre Wünsche, Ängste und Nöte laden zu Identifikation und Sympathie ein. Das imaginierte Zukunftsszenario greift aktuelle Entwicklungen auf und denkt diese weiter. Die ökologische Krise hat sich verschärft. Weltweit haben politisch rechte Bewegungen an Einfluss gewonnen. Wiederholt wird auf die in der Vergangenheit liegende Corona-Krise angespielt, die aber noch frisch im kollektiven Gedächtnis ist. Auf diese Weise fließen Gegenwart und Zukunft ineinander, und die im Buch geschilderte Welt gewinnt zusätzliche Realität. Alles in allem ist “Pantopia” ein gut geschriebener Science Fiction-Roman, in dem bekannte Elemente auf neue Weise verbunden werden. Ich habe ihn an einem Tag gelesen. Dennoch bleibt ein schales Gefühl und die Frage, ob das denn alles gewesen sein soll.

Um das zu verstehen, muss es kurz um ein anderes Buch und Henry Sheveks Namen gehen. Denn “Shevek” ist nicht nur der Nachname einer der beiden Hauptfiguren von “Pantopia”, es ist auch der Name der Hauptfigur des Romans “The Dispossessed” von Ursula K. LeGuin (der letztes Jahr unter dem Titel “Freie Geister” in Neuübersetzung erschienen ist). Damit macht “Pantopia” an prominenter Stelle einen sehr offensichtlichen Verweis auf “The Dispossessed”. Es handelt sich nicht einfach nur um eine versteckte Anspielung, die für Eingeweihte als Hommage an ein Vorbild erkennbar ist. Vielmehr ließe sich sagen, dass “Pantopia” sich hier ganz bewusst in eine Traditionslinie mit “The Dispossessed” stellt.   Wenn man “The Dispossessed” kennt und liebt , ist es also schwer “Pantopia” nicht daran zu messen. Und hier muss man leider sagen, dass “Pantopia” diesem Vergleich nicht gerecht wird.

Während “The Dispossessed” eine anarchistische Gesellschaft vorstellt, die Privateigentum und Herrschaftsstrukturen verbannt hat und in der Menschen in freiwillig gewählter Solidarität füreinander einstehen, wird in “Pantopia” keine radikal andere Welt imaginiert. Vielmehr besteht das Utopische darin den Konsumkapitalismus so zu organisieren, dass niemand ein schlechtes Gewissen haben muss. Überhaupt ist auffällig, dass von den drei zentralen Figuren, die auf die Verwirklichung von Pantopia hinarbeiten, zwei vom schlechten Gewissen getrieben werden und nicht von dem Wunsch nach einer besseren Welt für alle um ihrer selbst Willen. Es geht ihnen also letztlich um sich selbst, während in “The Dispossessed” die Gesellschaft so organisiert ist, dass es zwischen dem Interesse des Individuums und dem Interesse aller keinen Gegensatz mehr gibt. 

Patricia hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem ehemaligen Vorgesetzten Mikkel Seemann, den sie hinters Licht führen musste, um mit Einbug die Investment-Firma verlassen zu können. Sie hat ihre Entlassung provoziert, indem sie Einbug vor allem mit Anteilen an Rüstungsunternehmen handeln ließ und diese Information dann an die Presse weitergab. Dadurch ist das ganze Projekt in ein schlechtes Licht geraten. Seemann, der seine Hoffnungen auf Patricia und Henry gesetzt hat und außerdem durch eine aufkeimende Liebesbeziehung mit Patricia verbunden ist, ist wütend und verletzt. Sie will ihm unbedingt beweisen, dass dieses Täuschungsmanöver einem höheren Zweck diente. Auch plagt sie das schlechte Gewissen der Privilegierten, deren hoher Lebensstandard durch die Ausbeutung Schwächerer und zu Lasten der natürlichen Lebensgrundlagen garantiert wird, was sich vor allem in einer Szene zeigt, in der sie Zeugin eines rassistischen Übergriffs wird und nicht eingreift.

Tom Seemann, Mikkels Sohn, der als dritter Mensch von Einbugs Existenz erfährt und eine wichtige Hilfe für Patricia und Henry wird, ist ebenfalls vom schlechten Gewissen getrieben. Nach dem Tod seiner Mutter hat er das Studium abgebrochen und verkauft Drogen. Als die Mutter eines kleinen Kindes beinahe an einer Tablette stirbt, die er ihr verkauft hat, hält er die Schuldgefühle nicht mehr aus und wird eine Arche Pantopias. Er hofft auf Vergebung, wenn er an  der Entstehung der neuen Welt mitwirkt. Henry scheint der einzige zu sein, der wirklich von der Vorstellung einer besseren Welt  angetrieben wird. Bezeichnenderweise ist er als homosexueller Mann die einzige Figur, die ausdrücklich als marginalisiert dargestellt wird. Damit ist es aber auch in seinem Fall fraglich, inwieweit seine Motivation darin besteht, das Leben aller Menschen zu verbessern. Insoweit dieses Motiv fehlt, fehlt auch die Bereitschaft, den Boden des Selbstverständlichen zu verlassen und sich eine gänzlich andere Welt vorzustellen.

“The Dispossessed” trägt den Untertitel “Eine zwiespältige Utopie”. Die Geschichte wird auch dadurch vorangetrieben, dass Mitglieder der anarchistischen Gesellschaft die Sprache der Solidarität und vollkommenen Freiheit nutzen, um genau diese Prinzipien umzukehren und hierarchische Strukturen zu etablieren. Damit wird diese Utopie durch den Handlungsverlauf selbst relativiert. Dies verleiht dem Roman zusätzliche Tiefe und Komplexität. Ein solcher Kontrapunkt fehlt bei “Pantopia” völlig. Die Handlung steuert geradlinig auf die Verwirklichung von Pantopia zu. Zwar hat vor allem Patricia zwischenzeitlich Bedenken, dass mit Einbug etwas “skynetmäßig” schiefgehen könnte, aber diese Bedenken werden letztlich restlos ausgeräumt. Die in “Pantopia” vorgestellte Utopie wird durch die Handlung uneingeschränkt affirmiert.

Der Missbrauch der utopischen Prinzipien, der in “The Dispossessed” angesprochen wird, wird auch dadurch möglich, dass eine Gesellschaft, die so radikal auf die Vereinigung von Selbstbestimmung und Solidarität ausgerichtet ist, Arbeit erfordert. Die Menschen dort tun nur dann etwas, wenn sie davon überzeugt werden können, dass es das Richtige ist. Die Frage, was das Richtige ist, ist dabei aber niemals abschließend beantwortet, sondern wird immer mitverhandelt. Weil dies nun einmal anstrengend ist, ist es so verlockend das Denken anderen zu überlassen und die Entstehung hierarchischer Strukturen zu erlauben. Dahingegen erfordert Pantopia diese Arbeit nicht. Zwar wird an einer Stelle gesagt, dass die Archen zur Teilnahme an Abstimmungen über vorgeschlagene Regelungen verpflichtet sind, aber wir erfahren nichts darüber, welche Stellung diese Abstimmungen im Gesamtsystem von Pantopia einnehmen. 

In jedem Fall ist es Einbug, der über die Berechnung des Weltpreises und die entsprechende Leitung des Geldflusses die Rahmenbedingungen garantiert. Die Bedingungen der Existenz der Utopie hängen also nicht von menschlichen Bemühungen ab. Während “The Dispossessed” immer  wieder betont, dass die anarchistische Utopie mit Blut und Leid erkämpft werden musste, ist Einbug ein Deus ex Machina, der unvermittelt auf den Plan tritt und alle Probleme löst. Pantopia ist damit eine Utopie, die keine Ansprüche stellt, weder an die Archen noch an jene, die das Buch lesen. Wer gut geschriebenes Science-Fiction mit einer interessanten Prämisse, lebensechten Figuren und einer spannend entwickelten Handlung lesen möchte, wird an dem Buch in jedem Fall Freude haben. Eine Einladung, gänzlich andere Formen des menschlichen Lebens zu imaginieren, stellt es aber nicht dar.

Theresa Hannig: “Pantopia”, 462 Seiten. Fischer TOR, 2022, 16,99 Euro.

Prompt: An utopia created by a computer, very bright and shiny, also somewhat menacing. people are happy but tired. There are weird animals.

Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE

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