von Peter Hintz
Alle Romane über glückliche Familien sind gleich, aber alle aktuellen Romane über unglückliche Familien enthalten ihre eigenen soziologisch informierten Erklärungen des Unglücks. Derzeit boomt eine neue ostdeutsche Erinnerungsliteratur, die individuelle traumatische Erlebnisse seit den Wendejahren stellvertretend für kollektive Erfahrungen von Ostdeutschen in dieser Zeit erzählt. In der Regel handelt es sich um Coming-of-Age-Texte, die in ostdeutschen Kleinstadtfamilien spielen und die auf eine möglichst genaue Beschreibung sozialer Verhältnisse Wert legen. Viel Setting, viel Gefühl, viele normale Leute. Es soll die Entwicklung von Ungleichheit, Gewalt oder politischer Radikalisierung im Osten verstehbar werden.
Solche fiktionalen Gesellschaftsporträts des Ostens erzählen drei gerade erschienene Romane. Es handelt sich um Schnall dich an, es geht los von Domenico Müllensiefen (Kanon Verlag), Verlassene Nester von Patricia Hempel (Tropen Verlag) und um Die schönste Version von Ruth-Maria Thomas (Rowohlt). Alle drei Romane lassen sich als jeweils eigene kollektive Erinnerungen an die 1990er und 2000er Jahre lesen, als Stimmen einer neuen Nachwendeliteratur – mit unterschiedlicher Überzeugungskraft.
Müllensiefens Schnall dich an, es geht los wird durch den Leipziger Literaturprofessor und Sachbuch-Bestsellerautor Dirk Oschmann geblurbt. Es handele sich um ein „lebens- und erfahrungsgesättigtes Erzählen“. Laut Klappentext habe Müllensiefen „mit 16“ bei der Deutschen Telekom gelernt und „viele Jahre als Bauleiter“ gearbeitet. Die Schriftstellerin Grit Lemke meint: „Endlich geht es mal um was. Nämlich die Scheißjahre. Drehspieß und Barbie, FCM und Dosenbier.“ Man vermutet ein Identifikationsangebot für Akademiker, die mal in einer ostdeutschen Kleinstadt gelebt oder was Richtiges gemacht haben. Laut Oschmann erzähle der Roman von „Freundschaft und Liebe, Leben und Sterben sowie [den] kleinen und d[en] großen Tode[n].“
Tatsächlich geht es in Schnall dich an, es geht los um den ostdeutschen white trash, der im Gegensatz zum Poproman Nullerjahre von Hendrik Bolz (KiWi 2022) nicht aus der Perspektive einer jugendlichen Protestkultur während der sogenannten „Baseballschlägerjahre“ beschrieben wird, sondern möglichst selbst zu Wort kommen soll:
„Manchmal fragte ich mich, wie ich hier gelandet war. An irgendeiner Stelle musste ich falsch abgebogen sein oder mich vielleicht umgedreht oder meinetwegen auch gar nichts gemacht haben. […] Wir hätten in Magdeburg leben können, und ein Fernsehteam vom MDR hätte uns gefilmt, wie wir uns um unsere Zukunft sorgten. Aber ich stand hier auf der anderen Seite vom Fernseher, stand hinter dem Tresen, und anstatt Bier auszuschenken und Leuten so ein wenig Ablenkung vom Alltag zu verkaufen, schnitt ich Fleischpampe vom Spieß und sorgte für Sodbrennen statt für einen ordentlichen Rausch.“
Protagonist und Erzähler des Romans ist ein Mann Mitte 30 namens Marcel, der sich als Imbissbudenverkäufer in der fiktiven ostdeutschen Kleinstadt Jeetzenbeck durchs Leben schlägt und auf ein besseres Leben hofft – vor allem aber auf die Rückkehr seiner kubanischstämmigen Exfreundin Steffi, die regelmäßig Ordnung in die männlich dominierte Provinz bringen muss. Marcels Schwester ist bei einem Autounglück gestorben und seine Mutter arbeitet als Putzfrau. Daneben treten sowohl Faschos auf als auch eigensüchtige Kleinunternehmer und schlechte Väter. Schließlich lebt man im Norden von Sachsen-Anhalt und südlich der Gürtellinie, wo es letztlich ja nur arme Schweine geben könne:
„Du hast schmutzige Hände!“, sagte meine Mutter zu meinem Vater, ohne sich umzudrehen, und Papa zog eines seiner karierten Taschentücher aus der Hose und wischte sich damit die Hände ab. „Dass du die Dinger noch immer benutzt. Ich nehme nur noch Tempo“, sagte Dirk, und anstelle meines Vaters antwortete meine Mutter: „Das sollte Ralf besser auch tun. Vor allem, wenn er in den Wald geht. Wie neulich!“ Mein Vater schwieg, und Dirk fragte: „Was war denn im Wald?“ „Er musste scheißen!“ Dirk blieb stehen: „Boah. Du Sau! Hast du dir mit so einem Ding den Arsch abgewischt?“ „Was sollte ich denn machen?“, plärrte mein Vater, vor Stolz grinsend. „Hätte ich etwa Blätter oder meine blanke Hand nehmen sollen? So wie unsere ausländischen Freunde?“ „Nee.“ „Genau“, sagte mein Vater. „Erst wird die Hand braun und dann der Rest.“
Die Haltung des Erzählers zur Welt ist manchmal schelmenhaft schlau, manchmal aber auch tollpatschig und voller Selbstmitleid, gegen die Nazis und die Medien, aber auch unpolitisch. Irgendwie komplex, aber zugleich typenhaft soll er für etwas essenziell Ostdeutsches stehen. Es geht dem Roman nicht darum, diese Identität abzuwerten, sondern sie als natürliches Ergebnis ihrer sozialen Umstände zu präsentieren, konstruiert und zugleich authentisch. Im Osten gehe es dreckig und oft feindlich zu, aber wenigstens sind die Ossiseelen, bei allem Alltagsrassismus, in ihrem Schmerzempfinden noch nicht völlig abgestumpft. Aufgrund von Armut und Gewalt sind sie zu vernebelt für Veränderung, aber voller gerechtem Zorn.
Entsprechend derb wird das sich selbst beobachtende ostdeutsche Milieu aus Arbeitern und Arbeitslosen beschrieben. Leute „fressen“, heißen „der Dicke“ und machen sich über eine Figur lustig, die wie der Autor „Müllensiefen“ heißt. An einer Stelle des Textes hängt Marcel absurderweise an einem Fallrohr, um Steffi unbemerkt beim Tanzunterricht zuzuschauen, bevor sein Handy in ein Wasserfass fällt. Dazwischen fachsimpelt der Erzähler aber auch mal: „in den kleinen Orten leben die kleinen Menschen, die manchmal ganz groß sind, ohne es sein zu wollen.“ Wut klingt schließlich nach einer Mischung aus Vulgarität und engagiertem Soziologiebestseller:
„War mir scheißegal, was nun kommen würde, Hauptsache raus hier! Und mal ganz ehrlich: In einem Jahr würden auch nur die Maurer-, Koch- und Gas-Wasser-Scheiße-Berufe auf meine Mitschüler warten, die unbedingt das zehnte Jahr noch hier rumkriegen wollten. Oder die Stütze. So viel wusste ich schon: Der Betrag der Stütze war für alle gleich. Auch für die Streber.“
Zeitlich wird zwischen den frühen 2000er Jahren und den frühen 2020er Jahren hin- und hergeschaltet. Ein langsamer Verfall von Marcels Familie wird nachgezeichnet. Richtig viel ändert sich auf fast 350 Seiten aber nicht, denn eigentlich ist man schon am Anfang ganz unten angekommen. Trotz brutaler Konflikte bei der Arbeit und zu Hause bleibt der Roman ziemlich spannungslos und vorhersehbar, als sollte man die angebliche ostdeutsche Stagnation auch beim Lesen zu spüren bekommen. An Marcels schönstem Tag geht es auf einen improvisierten Roadtrip in ein französisches Industriegebiet. Zum Glück entscheidet Marcel sich irgendwann, als Muttersohn und Vater alles besser machen zu wollen, mit einigen Hängern auf dem Weg zur sorgenden Männlichkeit:
„Vollrausch beim Lötzker Martinimarkt, ins Riesenrad gekotzt. Absturz beim Waldbadfest in Langeburg, in den See gekotzt. Besoffen auf dem Scheunentanz in Kaalke, über den Tresen gekotzt. Allen Abenden war gemein, dass ich dann dort nicht mehr wegkam. In Lötzek wachte ich damals in einem Hauseingang hinter dem Autoscooter auf.“
Schnall dich an, es geht los mag eine Satire auf die Festgefahrenheit der ostdeutschen Provinzgesellschaft sein und soll sich zugleich mit Menschen aus der ostdeutschen Provinz identifizieren. Wirklich überzeugend gelingt dem Roman der Spagat zwischen Kritik und Selbstidentifikation nicht, denn seine Welt ist weder besonders lustig noch besonders liebenswert:
„Dirk sprach von den kaputten und verdreckten Fabriken, davon, dass der Wald im Harz tot war und von dieser Drecksmauer, die nur ein paar Kilometer von uns entfernt stand und von der heute nichts mehr zu sehen war. […] Die ersten Jahre nach der Wende seien ganz gut gewesen. Bis er dann erkannt hätte, dass dieses Leben im Westen dann doch nicht so viel anders war, als er es in der Polytechnischen Schule gelernt habe. Da wuchs dann die Erkenntnis, dass es doch niemanden hinter der ehemaligen Grenze gab, der sich für Menschen wie ihn und meinen Vater interessierte. Und da sei ihm dann damals klar gewesen, dass es eine Sache gab, die beide Gesellschaften ablehnten: Nazi sein.“
Da meint Marcel:
„Die Nazis in den Neunzigern kamen wenigstens noch ins Fernsehen, bis das dann langweilig wurde. Aber wir waren die, die allen scheißegal waren. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn ich mit der kompletten Nazikluft und Baseballschläger durch die Gegend gelaufen wäre? Ich kann es mir nicht vorstellen.“
Die „kleinen Menschen“ in Schnall dich an, es geht los stehen einem Veränderungsprozess gegenüber, in dem man als unbeholfener Charakter ohne Lottogewinn nicht viel auszurichten hat – eine erstaunlich affirmativ erzählte Selbstentmachtungsgeschichte des Ostens seit dem Mauerfall, wie sie der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem neuen Buch Freiheitsschock (C.H. Beck) kritisiert. In Müllensiefens literarischer Klassenanalyse des Ostens gibt es eigentlich nur ziemlich stereotype Lumpenproletarier und ‚Manic Ossi Dream Girls‘, von denen man auch nach der Lektüre des Romans nicht so richtig weiß, warum man sich für sie interessieren sollte. Vermutlich erscheint das Buch aber nicht gerade zufällig zwei Wochen vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen.
Auch Verlassene Nester von Patricia Hempel ist ein Entwicklungsroman, der aber in der unmittelbaren Wendezeit spielt und damit zehn Jahre früher angelegt ist als Müllensiefens Schnall dich an, es geht los. Die Protagonistin Pilly erlebt den Mauerfall aus kindlicher Sicht in der Nähe von Magdeburg, daneben steht eine allwissende Erzählinstanz, die auch die Geschichten der erwachsenen Figuren erzählt und miteinander in Kontrast setzt. Wie bei Müllensiefen geht es bei Hempel um einen ostdeutschen Alltag nach dem Mauerfall, der in keine einfache Befreiungserzählung passen soll. So heißt es in Verlassene Nester:
„Am Tag nach dem Mauerfall waren aus dem Lautsprecher des Pucks Sondersendungen und Musik gekrochen, die Katharinas Mutter damals so gewagt gefunden hatte. Sie traute sich nicht, den Fernseher anzustellen, und machte die Fischbude früher auf. Sie freute sich über die Anwohner, die wie üblich ihre Bestellungen aufgaben, ohne die Geschehnisse vom Vortag zu kommentieren. Im Ort tanzte niemand in eine vermeintlich bessere Zeit, und keiner stieg ins Auto, um sich an der Grenze Mitleidsgeld in die Tasche stecken zu lassen.“
Pillys Leben ist belastet, denn ihre Mutter ist verschwunden und taucht erst nach Jahren wieder auf. Vor diesem familiären Hintergrund entwickelt Hempel eine Erzählung über queere Jugendliche in den frühen 1990er Jahren, die ein bisschen an eine weibliche und ostdeutsche Version der Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn erinnert. Industrieruinen werden zu Spielplätzen, Naturbeschreibungen sind häufig sozialmetaphorisch: „Katja behauptete, dass die alten und kranken Tiere bewusst den Wald verließen, um ihrem Leben auf der Zugbrücke ein Ende zu setzen, aber natürlich war das wieder nur eine ihrer Geschichten. Trat man jedoch auf einen Knochen oder begegnete einer plattgefahrenen Münze, drehte man besser um.“
Aber nicht nur die Kinder und der Raum, in dem sie leben, wirken in ihrer seltsamen Ursprünglichkeit überlastet und angegriffen. Vor allem die Erwachsenenfiguren sind überwältigt von Veränderung und unfähig, für sich selbst und andere angemessen zu sorgen. Dabei kann die scheinbare Schlichtheit des Ortes und der Figuren von Verlassene Nester durchaus trügerisch sein. Tatsächlich werden im Perspektivwechsel des Romans die Selbstlügen der Figuren angedeutet, wie über die DDR-Erfahrung von Pillys Vater. So geht es im Roman nicht bloß darum, eine belastete ostdeutsche Kindheit zu erinnern. Der Roman zeigt auch, wie schnell Erinnerung in der Wendezeit von Selbstrechtfertigung überlagert sein konnte. Trotzdem bleibt sehr vieles doppeldeutig und ungeklärt, als ginge es mit dem Buch zugleich darum, die Schwierigkeit eines historischen Urteils über die eigene Gesellschaft vorzuführen – auch wenn dadurch offen bleibt, ob nun unvorsichtige Kinder oder Rechtsradikale die Häuser vietnamesischer Vertragsarbeiter angezündet haben.
Dagegen ist Die schönste Version von Ruth-Maria Thomas politisch deutlich engagierter, gleichzeitig aber auch der schockierendste der drei Romane. Es geht um sexualisierte Gewalt, die der Debütroman von Thomas mit zunehmender, schließlich kaum auszuhaltender Intensität beschreibt. Eine Studentin aus der Gegend von Cottbus, Jella Nowak, wächst in den Nullerjahren auf und verarbeitet rückblickend ihre Beziehungs- und Gewalterfahrungen.
Es handelt sich um einen Me-Too-Roman vor ostdeutschem Hintergrund, der auch überall dort spielen könnte, wo Frauen männlicher Gewalt ausgesetzt sind. Empfindungen eines Mangels elterlicher Fürsorge und schwierige Freundschaften, die sie ersetzen, spielen aber auch in diesem Nachwenderoman eine Rolle, ebenso die männliche Übermacht auf dem ostdeutschen Land und der Wunsch, daraus auszubrechen. Das Milieu des Romans von Thomas ist allerdings vielschichtiger als das bei Müllensiefen und Hempel, Großstadt und Universität kommen in dieser Millennialgeschichte ebenso vor wie Dorfdiscos und Lausitzer Plattensiedlungen.
Erlebnisse der Hauptfigur fügen sich nur langsam zu einem Gesamtbild. Anfangs erzählt sie, dass sie wieder bei ihrem alleinstehenden Vater untergekommen ist, weil sie ihren Freund Yannick für einen gewalttätigen Übergriff in ihrer gemeinsamen Berliner Wohnung angezeigt hat. Die Tat selbst und Jellas Beziehungsgeschichte, die bereits von männlicher Übergriffigkeit geprägt war, wird dann Stück für Stück, in einer Serie von Rückblenden, vermittelt.
„Und während wir Klausuren schrieben, wurden die Wohnblocks, die man aus dem Fenster der Aula sehen konnte, abgerissen. Für meinen Zustand hätte ich mir keine bessere Kulisse aussuchen können als einzelne, in sich zusammenfallende WBS-70-Platten auf kahlen Wiesen. Auch nach der Schule musste ich manchmal rennen, wenn die Panikattacken kamen. Panikattacken. Wie sehr es mich beruhigte, dass Google mir nun ein Wort für dieses Gefühl gegeben hatte.“
Formal gelingt es dem Buch besonders gut, Bruchstücke von Dialogen, auch Teile von Chats und Songs, in die Erzählung einzubinden. Damit werden Alltagswahrnehmungen aus den 2000er Jahren abgebildet, vor allem aber der Prozess der Erinnerung selbst.
„Was weiß ich denn, mein Vater klingt hilflos. Zu so was gehören doch aber immer zwei. Ich halte den Atem an. Auf einmal ist alles sehr still. Mein Handy vibriert wieder, und als ich die SMS von Yannick öffne und da steht
ich mache mir solche sorgen, bitte melde dich. Y
ist da keine Wut, kein Widerstand mehr.“
Die Sprache des Romans ist auch deshalb fragmentarisch, um sich Nostalgie zu widersetzen. So zeigt der Roman, wie die Protagonistin zunächst von Wunschbildern ihrer Beziehung geleitet ist: „die schönste Version dieses Moments […] vollkommen schön, wie altes Hollywood, mit Himbeerbrause.“ Jella verharrt aber nicht in diesem Zustand, sondern in ihren Rückblicken zeigen sich Selbsterkenntnis und Resilienz. Beschreibungen von Sex und Gewalt sind explizit, weil es darum geht, Grenzen dazwischen erzählerisch auszuloten. Fragen über die eigene Verantwortung und die der anderen kommen auf, die auch allgemeinere Bedeutung haben. Welche Rolle spielt Sozialisation, welche individuelles Handeln?
In Nachwenderomanen wie dem von Thomas geht es letztlich um Traumaarbeit, einem klassischen Thema der Erinnerungsliteratur. Und wahrscheinlich ist Die schönste Version auch deshalb mitreißender als andere Romane, weil er dieses Thema schonungsloser verfolgt, statt sich irgendwo zwischen Bemitleidung und Klassenanalyse in der ostdeutschen Provinz zu verlaufen.