Der König der Übertreibung – Was den Content-Creator IShowSpeed so berühmt macht

von Lennart Rettler

Knapp 22 Millionen auf Instagram, 27 Millionen auf YouTube und fast 29 Millionen auf TikTok – Das sind die Follower*innenzahlen die Onlinestar IShowSpeed – unter Kenner*innen auch gerne nur „Speed“ genannt – vorweisen kann. Er ist aktuell einer der bekanntesten Content-Creator*innen weltweit. Wenn man die Videos von Speed zum ersten Mal anschaut, fragt man sich jedoch, worauf dieser Riesenerfolg beruht.

Im gesellschaftlichen Diskurs über Personen, die ihren Lebensunterhalt in Online-Sphären verdienen, hält sich ein ziemlich unsinniger Allgemeinplatz sehr beständig: Content-Creator*innen seien eigentlich fast alle Nichtskönner. Mit Blick auf dieses Hinterfragen der Fähigkeiten von Internetstars lohnt sich die Beschäftigung mit dem Konzept der parasozialen Beziehungen von Donald Horton und Richard Wohl, ein bei Medien- und Kommunikationswissenschaften beliebter Ansatz. Die beiden Psychologen Horton und Wohl schauten sich in den 1950er-Jahren die Beziehung von Zuschauer*innen zu bekannten Medienpersonen an, wobei sie sich vor allem auf Moderatoren (in den 50ern waren das beinahe ausschließlich Männer) konzentrierten. Eine These, die sich aus ihrer Arbeit ableiten lässt: Viele Medienstars können genau das gut, was das Medium von ihnen verlangt.

Was schon für Moderatoren in den 1950er Jahren galt, gilt auch für die berühmten Medienpersonen unserer Zeit: Content Creator*innen – und das kann man ihnen nicht absprechen, sofern sie über eine gewisse Reichweite verfügen – bespielen die Regeln ihres Mediums perfekt. Spannend ist es zu beobachten, welchen Regeln und Grundlagen bestimmte Content-Creator*innen folgen, wonach sich also ihre Zuschauer*innen sehnen. Lifestyle-Influencer*innen aus den Bereichen „Food“ oder Travel“ schaffen es beispielsweise das mehr oder weniger Gewöhnliche als ungewöhnlich zu präsentieren. Aber welche Bedürfnisse genau bedient nun IShowSpeed? Was genau verlangen Medium und Zuschauer*innen von ihm?

YouTube und Twitch leben in vielerlei Hinsicht (natürlich gilt das nicht für alle und nicht für jedes Format) von Übertreibung und Speed ist unbestrittener Meister genau solcher Inhalte. Auf Übertreibung beruht auch der Erfolg von Mr. Beast, dem aktuell erfolgreichsten Youtuber. Auch in Deutschland baut sich gerade der Erfolg eines Streamers auf, der erheblich mit Mitteln der Übertreibung arbeitet. Vor kurzem sah ich auf Twitter ein Video, das mich länger beschäftigte: Ein deutscher Streamer namens Zarbex spielt mit zwei anderen deutschen Streamern das Partyspiel Smash or Pass zum Thema Pokémon. Bei diesem Spiel werden unterschiedliche Figuren, Personen, Dinge – in diesem Fall Pokémon – danach beurteilt, ob die Spielenden mit ihnen Geschlechtsverkehr ausüben würden („smash“) oder eben nicht („pass“). Die Spielidee klingt absurd, klickt im Internet aber ziemlich gut. Es gibt beispielsweise ein wirklich gutes Video im selben Format mit allen 898 Pokémon bis zur 8. Generation vom YouTuber Markiplier.

Zarbex wird im Verlauf des Spiels von einem der anderen zwei Streamer als „vanilla“ bezeichnet, was so viel bedeutet wie konservativ, langweilig oder prüde in seinem Verhältnis zur Auswahl der Pokémon die er „smashen“ würde. Mit diesen Vorwürfen konfrontiert holt Zarbex zum Rundumschlag aus: Er erzählt ausführlich, wie er als Jugendlicher mehrfach in ein Pokémon-Kuscheltier onaniert hat und wie er dieses dann beim Umzug vor seinen Eltern versteckt hat. Zarbex ist Mitte 25 und – wie es in der Überschrift zum Video im Twitter-Beitrag, der mir angezeigt wurde heißt – „Er hat nicht mal ne Wette verloren oder so, er erzählt es einfach“. Warum erzählt Zarbex diese absurde Geschichte? In einem Beitrag auf dem zur Gaming-Community gehörenden Webblog Mein-MMO heißt es über den Streamer: Zarbex hat sich in den letzten Monaten vor allem durch seine offene und direkte Art einen Namen gemacht. Er scheut sich nicht, intime und oft skurrile Details aus seinem Leben preiszugeben“. Diese Offenheit, so sagt Mein-MMO, mache ihn erfolgreich. Hinter dieser angeblich offenen und direkten Art, die Zarbex auszeichnet, steckt vermutlich auch ein kluges Spiel mit den Logiken von Sichtbarkeit in Social Media. Zarbex mag auf manche „direkt“ oder „offen“ wirken, aber vor allem übertreibt er. Übertreibung ist hier nicht unbedingt als verfälschend oder unwahr gemeint, sondern bezieht sich auf das Unerwartete, das Unangemessene, das absolut Gesteigerte. Zarbex ist ein aktuell extrem schnell an Reichweite gewinnender Deutscher Streamer, in dessen Verhalten sich einige Parallelen zu denen von IShowSpeed, dem König der Übertreibung, zeigen 

Speed ist ebenfalls jemand, den viele als offen, direkt und authentisch bezeichnen würden. Der Internetstar wurde laut eigener Aussage 2005 geboren, ist also gerade erst 19. Berühmt wurde der Amerikaner vor allem durch Fortnite-Streams. Konkret sind es seine Ausraster und die Beleidigungen seiner Gegner*innen, die er in Onlinevideospielen trifft, die sich in Form von Kurzvideos auf YouTube, Instagram und TikTok viral verbreiten. Der Anstieg seines Erfolgs sucht dabei selbst im schnelllebigen Social-Media-Game seinesgleichen. Zu seinem Durchbruch trägt außerdem bei, dass er den Fußball und das Fußballvideospiel EA Sports FC (vormals FIFA) für sich entdeckt.

Fußball ist einer der größten Märkte weltweit. EA Sports FC ist neben Fortnite gerade in Europa eines der Videospiele mit der größten Community in den sozialen Medien. Es gibt etliche Content Creator*innen, die ihr täglich Brot mit Videos zu diesen Spielen verdienen. Speed hat mit dem Streamen von EA Sports FC unheimlich großen Erfolg. Dieser Erfolg beruht maßgeblich auf drei Ursachen, eine davon ist der Fußballspieler Ronaldo. Neben Ronaldo – auf den ich gleich zu sprechen komme – ist es vor allem seine Konformität, die Speed berühmt macht. Speed beherrscht die Erfolgsklaviatur der Videospiel-Streams, vor allem das übertriebene Ausrasten in Form exzessiver Jubelschreie, Controllerwürfe und endlosen Beleidigungen des Gegners bei Niederlagen. Diese Erfolgsmuster werden auch bei anderen YouTube-Phänomenen sichtbar, wie den Sidemen, besonders KSI oder wroetoshaw.

Was Speed jedoch in der EA Sports FC und Fußball Community unvergleichlich macht, ist sein (vermeintliches) Nicht-Wissen. Aus Amerika kommend, kokettiert er mit seiner Unkenntnis dem Fußball gegenüber. Berühmtheit erlangt er vor allem dadurch, dass er Fußballer-Namen bewusst oder unbewusst komplett falsch ausspricht. Es finden sich unzählige Zusammenschnitte auf YouTube, in denen aneinandergereiht wird, wie Speed z. B. den jetzigen Union Berlin Spieler „Volland“, „Holland“ nennt, während aus Timo Werner „Wiener“ wird. Er erkennt blitzartig jeden nahliegenden Gag und so wird aus dem Italiener Barella, natürlich „Umbrella“. Ganz stereotyp-amerikanisch verwechselt er durchgehend die Flaggen vieler europäischer Länder und sagt zu Belgien gerne „Germany“ und zu Schweden „Switzerland“.

Und dann ist da noch Ronaldo, der für Speed zu seinem Patron der nicht-amerikanischen Sportwelt wird. Speed eignet sich den Ronaldo-Markenzeichen-Jubel „Siu“ an, den er – passend seiner Rolle als nie-dazulernender Falschaussprecher – als „Sewi“ ausspricht. Ronaldo wird zu seinem Lieblingsspieler, Speed designt sich ein customized Ronaldo-Themed-Lamborghini (zu dem kommen wir gleich noch) und spielt sogar in einem Video mit Ronaldos Sohn Fußball. Als Speed Ronaldo dann in Real Life (IRL) sieht, ist er den Tränen nah

Speed profitiert von der Berühmtheit Ronaldos und auch der in den letzten Jahren seiner Karriere spielende Ronaldo profitiert von Speeds Fame. Aber es ist nicht nur Ronaldo, der aus der Aufmerksamkeit der Gaming-Welt einen Vorteil zieht. Für die ganze Fußballindustrie ist Speed ein willkommener Multiplikator, mit dem sich auch junge Fans erreichen lassen, deren Aufmerksamkeit sich immer mehr vom Livesport-Erlebnis auf die Kurzvideoplattformen verlagert. Entsprechend wird Speed neben den großen aktiven und ehemaligen Sportler*innen zur Verleihung des Ballon D’Or, dem größten Individualpreis im Fußballsport, eingeladen. Auch dort glänzt er – diesmal in feinster Abendgarderobe und mit seinem Markenzeichen: Übertreibung.

Pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft erobert Speed den Kontinent. Dieses Mal nicht nur über die Smartphone-Bildschirme sondern irl, in real life. Der YouTube-Star geht auf Europatour. Das macht er dabei weitaus raffinierter als die Stars der Fernsehbildschirmzeit, die noch große Hallen füllen mussten. Speed tourt für mehrere Wochen durch Europas Großstädte und kommt von Irland über Polen bis nach Rumänien. Kaum ein Land lässt er aus (England lustigerweise schon). An seinen Reisezielen macht er im Grunde genommen immer das Gleiche: Er läuft mehr oder weniger ziellos durch eine Großstadt und wird dabei gefilmt. Fast jeder Meter wird gestreamt. Begleitet wird er nicht nur von einer Kamera, sondern auch von zwei respekteinflößenden Bodyguards. Das scheint auch nötig zu sein, denn überall wird Speed von Scharen junger Teenager verfolgt, die ihn meistens um Selfies anflehen. Andere laufen ihm einfach hinterher, wieder andere probieren ihn zu küssen, ihm die Hose runterzuziehen oder die Haare rauszureißen – eine Person hatte damit wohl Erfolg, und stellt laut Speed wohl ein Büschel seiner Haare für 2000 Euro auf Ebay ein.

Dieses verhältnismäßig planlose Umherreisen, wird durch einige arrangierte Szenarios grandios ergänzt. So unterhält er sich beispielsweise im Auto mit Zlatan Ibrahimovic oder spielt Basketball im Büro des albanischen Premierministers Edi Rama. In Deutschland trifft er den Fußballer und Content-Creator Nader El-Jindaoui, mit dem er im Lamborghini Huracán durch Berlin rast. Außerdem brüllt er mehrfach den Namen von „Olaf Scholz“ vor dem Schloss Bellevue und verwechselt dabei Präsident und Bundeskanzler. Außerdem probiert er seinen ersten Döner (natürlich bei Mustafas Gemüse Kebab) und macht inmitten einer riesigen Menschentraube nach seinem ersten Döner-Bissen vor Begeisterung direkt einen Backflip; nur um dann später in Griechenland zu gestehen, dass Gyros Pita ihm besser schmeckt.

Treuer Begleiter ist bei all diesen Eskapaden (neben Kamera, Security-Guard und Teenie-Menschentraube) immer die Übertreibung: Er schreit ununterbrochen im „super hohen“ Kettenkarussel in Schweden, probiert sich mit einem Lebensgrößen Bären-Maskottchen zu prügeln, ringt den Tik-Tok-Zauberzwerg zu Boden und vor allem bellt er andauernd. Er bellt Hunde an, aber vor allem Menschen, meist ältere Menschen, die keine Streams schauen. Speed ist in jeder Hinsicht grenzüberschreitend. Er sucht bewusst die Übertreibung und eskaliert an jedem möglichen Punkt. Sagt jemand zu ihm in Belgien „Merci“ hört er „Messi“ und reagiert aggressiv, immerhin ist Messi für ihn als Ronaldo-Jünger doch der Antichrist.

Speeds Übertreibungsplots verlangen immer neue Steigerungen. Vor kurzem gipfelten sie darin, dass Speed aus dem Stand über seinen sonderangefertigen Ronaldo-Lamborghini gesprungen ist, während das Auto mit großer Geschwindigkeit von seinem Vater gefahren auf ihn zuraste. Angeblich hat er den Sprung einige Male wiederholt, weil die Drohne versagt hat. Natürlich kamen bei dieser Aktion Echtheitszweifel auf, die wiederum für Aufmerksamkeit sorgen. „Echtheit“ kann man bei Speed sowieso immer anzweifeln. Letztlich lebt seine Ästhetik der Übertreibung davon, die Grenze der Realität immer etwas weiter zu verschieben, sonst wären seine Aufnahmen weniger interessant. Übertreibung braucht die Ausschmückung, die Überbetonung und die Dramatisierung. Speed bedient diese Effekte perfekt.

Die Debatte, ob Speed oder auch Zarbex nun wirklich offen und direkt und damit „einfach ehrlich“ sind oder ob ihre Inhalte gar „authentisch“ sind, ist wenig ertragsreich. Viel interessanter ist, was Speed für diejenigen verkörpert, die ihm hauptsächlich bei seinen Streams zusehen: Jungs zwischen 10 und 16. Speed ist die ältere, reichere und amerikanische Version eines Teenagers, der häufig rumschreit, generell übermäßig laut ist und gezielt Momente zur Grenzüberschreitung sucht. Er ist der König der Teenager-Übertreibung. Das kann man vollkommen zurecht nervig finden, das kann man kindisch finden, aber man kann sich dabei (auch als Nicht-Teenager) wirklich amüsieren. Vor allem muss man eingestehen, dass er eben alles andere als ein Nichtskönner ist.

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