Schlagwort: Ostdeutschland

Wer schreibt die DDR? – Zu einer literaturpolitischen Debatte 

von Peter Hintz

Im gegenwärtigen Diskurs um die Erinnerung der DDR-Vergangenheit und die Bedeutung ihrer Nachgeschichte spielen die kulturellen Möglichkeiten literarischer Repräsentation, aber auch politische Ansprüche auf das kulturelle Feld, eine wichtige Rolle. So versuchen etwa ostdeutsche Autor*innen wie Hendrik Bolz oder Daniel Schulz, die im letzten Jahrzehnt der DDR geboren wurden, mit autobiografisch gefärbten Jugendfiktionen kollektive Erinnerungslücken über rechtsradikale Gewalt im Osten der Nachwendezeit zu füllen. Zugleich meinte der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in einem Sachbuch-Bestseller, anhand des angeblich randständigen Status von Schriftsteller*innen aus der DDR eine anhaltende Marginalisierung Ostdeutscher in der Kultur Gesamtdeutschlands nachweisen zu können.

In diesem Jahr waren nun ganze vier Romane auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, die zumindest teilweise in der DDR spielen: Anne Rabes Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta), Angelika Klüssendorfs Risse (Piper) und Terézia Moras Muna oder die Hälfte des Lebens (Luchterhand). Hinzu kam außerdem der gerade erschienene Debütroman Gittersee (S. Fischer) von Charlotte Gneuß, dessen Publikationskontext die jüngere Debatte um ost- und westdeutsche Kulturpolitik neuerlich befeuert hat.

Nach eigener Aussage gab der Verlag vor Erscheinen ein Exemplar von Gittersee an den in der DDR aufgewachsenen Schriftsteller Ingo Schulze zur Lektüre, der ebenfalls für S. Fischer schreibt. Laut eines Interviews mit der SZ nahm Schulze dies als Aufforderung, ein “ungeplantes Außenlektorat” am Roman vorzunehmen und erarbeitete eine Liste von 24 Textstellen, die seiner Meinung nach sprachlich oder historisch nicht der Welt der untergegangenen DDR entsprechen würden. So bemängelte Schulze die in Dresden wohl eher weniger verbreiteten Ausdrücke wie “passt schon” und “lecker” oder Anglizismen wie “pink”. Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hatte Gneuß nicht um Korrekturen durch Schulze gebeten und ein Gespräch mit ihr dazu hatte er offenbar abgelehnt.

Es ist wenig überraschend, dass Schulzes Intervention größere mediale Beachtung bis hin zu einem halbwegs erfolgreichen Skandalisierungsversuch fand. Schließlich wurde Schulzes Liste auch der Jury des Deutschen Buchpreises zugespielt, die Gittersee bereits auf die Longlist gesetzt hatte und über die Nominierungen für die Shortlist beriet. Es lag nahe, eine spitzelhafte Beeinflussung der Preisvergabe zu vermuten. Schulze selbst hat die Anschuldigung der Übermittlung seiner Liste an die Jury zurückgewiesen.

Darüber hinaus ließ sich ‘die Liste’ als Stimme einer älteren ostdeutschen Generation interpretieren, die qua ihrer Sozialisation in der DDR gegen jüngere Autor*innen ihre Deutungsmacht behaupten wollte. So hatte Schulze bereits Oschmanns Sachbuch geblurbt und rechtfertigte die Liste nun damit, dass “Jüngere[] vieles nicht aus eigener Erfahrung wissen können”. Zudem verstand er im SZ-Interview Empörung über seine Kritik als Beweis dafür, dass “der Osten” im deutschen Medienbetrieb “hin und wieder unterbelichtet” bleibe. Derartiges Besserwissertum über historische Faktizität mag bei einem Schriftsteller überraschen. Inzwischen hat es sich aber allgemein durchgesetzt, dass an Stelle der altbekannten DDR-Konsumgüternostalgie, den immer gleichen Knusperflocken-Verpackungen und Rotkäppchen-Flaschen, ein bildungsbürgerlicher Gedächtnispalast getreten ist, der kulturelle Eigenheiten des Ostens nicht ohne Stolz betont, selbst wenn er Unfreiheiten und Gewalt zur Kenntnis nimmt.

Was sich ereignet, ist nicht nur eine identitäre West-Ost-Debatte, sondern auch ein schwelender kultureller Konflikt zwischen ostdeutschen Generationen und Eliten, der seit einiger Zeit mit der fragwürdigen Indienstnahme von Rhetorik aus dem Postkolonialismus-Seminar einhergeht: Erklärte Oschmann den Osten zur “westdeutschen Erfindung”, unterstellte das Feuilleton der FAZ nun eine laufende Debatte über die Frage “Darf sie das? Darf eine Autorin, die 1992 in Ludwigsburg zur Welt kam und also nach der Wende tief im Westen sozialisiert wurde und die DDR-Vergangenheit nicht aus eigener Anschauung kennt – darf sie einen Roman schreiben, der in den Sieb­zigerjahren in Dresden spielt?” Dabei stellte der FAZ-Artikel dann doch klar, dass die Familie von Gneuß aus dem Osten kommt, sie dort auch selbst gelebt hat und Schulzes Anmerkungen sowohl literarisch als auch historisch fragwürdig sind.

Der künstlerisch ausgeklügelte Roman von Charlotte Gneuß liest sich allerdings gar nicht so, als wollte er unmittelbar an dieser erinnerungspolitischen Debatte teilhaben. Statt auf eine autobiografisch legitimierte, kritisch zurückblickende Stimme aus der Gegenwart setzt der Roman auf einen ambivalenten historischen Realismus mit surrealen Zügen, der klare politische Zuordnungen schwierig macht. Gittersee erzählt die Geschichte einer Jugendlichen aus dem sächsischen Arbeitermilieu der 1970er Jahre, die innerhalb des DDR-Systems zwischen Opposition und Nähe zum Staat zerrissen wird.

Die sechzehnjährige Ich-Erzählerin Karin wächst im Bergbauviertel Gittersee am Rande Dresdens auf. In Gittersee wurde während des Kalten Krieges durch die Aktiengesellschaft Wismut Uranerz für den Bau der sowjetischen Atombombe und später die Nuklearindustrie gewonnen. Ihr Freund Paul muss nicht mehr in die Schule, arbeitet stattdessen im Schacht und will in den Westen. Die Dresdner Kulturbürger, die man hinlänglich von Uwe Tellkamp kennt, tauchen nur ganz kurz auf, als Karin sich daran erinnert, dass ihre Mutter einmal in der Innenstadt zum Feiern war. 

Offenkundig wurde Gneuß durch Werner Bräunigs Roman Rummelplatz inspiriert, der in den 1960er Jahren in der DDR entstand und erst 2007 im Aufbau Verlag vollständig erschienen ist. Auch Bräunigs Buch ist ein Wismut-Roman, der im Uranbergbau im Erzgebirge spielt. Sein ungeschöntes proletarisches Panorama des Ostens in der unmittelbaren Nachkriegszeit stieß auf Ablehnung bei den DDR-Kulturbehörden. “[W]illst Du weiterhin im Schmutz über unsere Bergarbeiter und deren Frauen schreiben wie in ‘Rummelplatz’”, fragte damals das Neue Deutschland.

Das Biermann-Ausbürgerungsjahr 1976, das Gittersee implizit für seine Handlung auswählt, erscheint noch trister als die frühen 1950er, wenngleich auch in diesem Roman soziale Realität nur deshalb so deprimierend wirkt, weil persönliche und ideologische Hoffnungen gegen sie geprüft werden. Ständig wird gekehrt und Räume und Körper werden gesäubert, aber die Unordnung und der Dreck bleiben. Gleich im ersten Kapitel kehrt Paul von einem angeblichen Kletterausflug in der Böhmischen Schweiz an der tschechischen Grenze nicht zurück und die sitzengelassene Karin gerät ins Visier einer Stasi-Untersuchung wegen Republikflucht.

Während es sich auch bei Rummelplatz um einen Entwicklungsroman handelte, ist die weibliche Erzählperspektive in Gittersee deutlich kindlicher. Gesellschaftliche Kontexte tauchen mitunter in Details der Handlung auf, sollen wie das Schicksal von Karin und Paul aber nur nach und nach erschlossen werden. Als mitreißender Kriminalroman verwischt Gittersee so permanent scheinbare Gewissheiten über Schuld und Unschuld. Erst von der Staatssicherheit verhört, erklärt Karin sich trotz Minderjährigkeit dann doch zum Inoffiziellen Mitarbeiter. Im DDR-System der Erzählung wohnt jedem Opfer auch potenzielle Täterschaft inne.

Dabei gelingt es dem Roman allerdings, einzelne Figuren so sympathisch und glaubhaft zu halten, dass Fragen über letztendliche Loyalitäten nicht bloß lange offen bleiben, sondern vor scheinbar unauflösbaren gesellschaftlichen Widersprüchen eigentlich in den Hintergrund treten. Karin schuftet unter der Last, ihre kleine Schwester mehr oder weniger allein erziehen zu müssen. Gleichzeitig ist ihre Mutter aber in der Lage, eine eigene ‘Flucht’ vor der Tristesse ihrer Ehe und der Vorstadtsiedlung zu begehen. Am Gefühl des existenziellen Konflikts, der Kondensierung der Handlung wird der universelle Anspruch der DDR-Jugenderzählung deutlich.

Ironischerweise war es vor einigen Jahren Ingo Schulze selbst, der mit Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer, 2020) einen eigenen doppelbödigen Kriminalroman geschrieben hatte, der Ostdeutsche vor politischen Zuschreibungen in Schutz nehmen sollte. Es scheint so, als wolle auch der Stasi-Krimi von Gneuß sich sowohl von den Dresdner Bürgertumsromanen Tellkamps als auch von den scharf anklagenden ‘Baseballschlägertexten’ anderer jüngerer Schriftsteller*innen abgrenzen. Dazu gehören auch die versichernden Anklänge an ältere Literatur aus der DDR selbst.

Dabei kommt auch das Buch von Gneuß nicht umhin, am Rande die nur mangelhafte Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR zu thematisieren, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wiedererstarkens der Rechten eine große Rolle in der jüngeren Ostliteratur spielt. So erzählt Gittersee anhand der Großmutter der Protagonistin fortwährende NS-Affinitäten in der DDR der 1970er Jahre, die dem antifaschistischen Selbstbild des sozialistischen Staats widersprachen. Zugleich ist diese Großmutterfigur in Gittersee aber auch so gestaltet, dass sie sich im Vergleich zu den anderen Erwachsenenfiguren fürsorglicher verhält. Wiederum wird damit ein fast übervorsichtig wirkendes literarisches Abwägen von historischen Mehrdeutigkeiten offenbar, das am Ende nicht verhindern konnte, dass der Roman trotzdem zum Gegenstand eines übergeordneten kulturpolitischen Konflikts gemacht worden ist.

Es ist sicher kein Zufall, dass dieser Konflikt häufig in und anhand von Texten ausgetragen wird, die Kindheit, Jugend und Familie im Osten thematisieren. Im Bereich des scheinbar Privaten oder Persönlichen treffen eigene Erinnerungen auf neuere kritische Erzählungen ostdeutscher Vergangenheit, die häufig kulturhistorisch oder selbst autobiografisch beeinflusst sind. So werden kritische Fragen über das Verhältnis von autoritärer Erziehung zu rechtsradikaler Gewalt, die etwa Anne Rabes Roman Die Möglichkeit von Glück aufgeworfen hat, damit abgeschmettert, dass es im Westen auch nicht besser gewesen sei.

Die kurz vor der Wende in Brandenburg geborene und in England lehrende Historikerin Katja Hoyer versuchte jüngst, Widersprüche zwischen ostdeutschen Erinnerungen, kritischem öffentlichen Diskurs und Geschichtsschreibung durch eine oral history der DDR aufzulösen. Auf Basis von äußerst selektiven Zeitzeugeninterviews stellte sie die These auf, dass der DDR-Staat eben im Privaten individuelle Freiheit ermöglicht habe. Letztlich lieferte Hoyer damit lediglich eine nicht ausreichend von anderen Quellen und existierender Forschung gedeckte Apologie ostdeutscher Nostalgie, die sich vom Autoritären im Alltag, im Kleinen und Individuellen nicht nur freisprechen will, sondern gerade dort nach kultureller Identität sucht. Impliziert wird damit eine Deutung der Nachwendejahre als Geschichte westlicher Kolonialisierung statt als Fortsetzung ostdeutscher Gewaltgeschichte, Untergang des Ostens statt Rassismus. Für die Leserschaft von Hoyers und Oschmanns Büchern spielt es keine Rolle, dass diese gesellschaftliche Selbsterzählung die realen Erfolge der DDR-Bürgerrechtsbewegung, die heute im Osten alle Parteien bis zur AfD für sich vereinnahmen wollen, erstaunlich schmälert.


Eine breite Auseinandersetzung mit dem eigenen kulturellen Gedächtnis steht in Ostdeutschland derzeit also noch aus, zumal auch viele Angehörige der Nachwendegeneration lieber auf die Erzählungen ihrer Eltern hören. Es scheinen aber gerade verschiedene Formen kritisch prüfender literarischer Gegenerinnerung zu sein, die dazu beitragen können, diese Auseinandersetzung zu fördern, indem sie neue Öffentlichkeiten für Verdrängtes schaffen.

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„Wer lacht noch über Zonen-Gaby?“ – Ein Buch entschuldigt sich bei Ostdeutschland

von Matthias Warkus

Als ich 1988 eingeschult wurde, gab es in meiner ca. 30-köpfigen Grundschulklasse im winzigen Westpfälzer Kreisstädtchen Kusel (damals etwa 5700 Einwohner und bereits seit einiger Zeit schrumpfend) nach meiner Erinnerung drei Schüler*innen mit einem Migrationshintergrund. Ein Junge mit türkischen Namen, über den man nicht viel wusste; ein Sohn einer der vielen amerikanischen Familien, die im Zusammenhang mit der gewaltigen NATO-Truppenkonzentration in der Gegend um Kaiserslautern und Ramstein lebten; und die Tochter eines kanadischen Arztes zwei Dörfer weiter, in die ich vom ersten Tag an hilflos verliebt war.

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Im Osten nichts Neues – Über den Bestseller von Dirk Oschmann

von Peter Hintz

Der relative Mangel an ostdeutschen Führungsfiguren im hiesigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird in Deutschland medial auf verschiedene Weise aufgenommen: Mit Optimismus, dass es nach und nach mehr wird, mit Realismus, dass es für die aktuelle Situation historische, politische und soziale Gründe gibt, oder mit eingeschränktem Fatalismus, dass für andere Ostdeutsche alles schief läuft, sich aber zumindest die eigene Ossi-Brand pushen lässt.

Dirk Oschmanns Langessay Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) hat bereits Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste erreicht. Es handelt sich um ein Debattenbuch aus dem postfaktischen Zeitalter. Nicht nur wartet das Sachbuch mit populistischen Thesen zur anhaltenden Marginalisierung Ostdeutscher durch Westdeutsche auf, zur Immunisierung vor naheliegender Kritik betont der Autor gleich selbst in der Einleitung, dass es ihm gar nicht auf Genauigkeit ankomme: “Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise”. Oschmann, der ursprünglich aus Gotha stammt und in Leipzig als Professor für Germanistik tätig ist, befürchtet, dass ansonsten sein politisches Anliegen “bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt”.

Unsichtbar bleibt für Oschmann sonst die Geschichte einer BRD-Hegemonie über den Osten, die nichts weniger als den Imperialismus des Kaiserreichs in Afrika sowie die nationalsozialistische “Ostpolitik” fortsetze: “‘Buschzulage’ und ‘Aufbau Ost’ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis andererseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten”. Als ob das Problem dieser Neunzigerjahre-Sprache nicht vor allem darin bestand, dass privilegierte Westdeutsche und privilegierte Ostdeutsche sich wechselseitig zu Opfern von white man’s burden und rassistischer Diskriminierung erklärten, während in der Nachbarschaft die Asylheime brannten.

Je drastischer Oschmann die ostdeutsche Unfreiheit und die westdeutsche Fremdherrschaft herbeiredet und das interne politische Geschehen im Osten – nicht zuletzt den Rechtsradikalismus – dabei ausblendet, desto weniger überzeugend ist seine Argumentation. Pauschale Thesen von einer ‘antiautoritären Prägung’ des Ostens durch den Umsturz ‘89, die durch AfD und PEGIDA popularisiert worden sind, sind historisch nicht haltbar. Wenn Oschmann schreibt, dass man Ostdeutschen, die “teils mit hohem persönlichen Risiko eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären [muss], was Demokratie ist”, so sollte dabei zwischen DDR-Regimegegnern und Regimeprofiteuren unterschieden werden. Letztere spielen bei Oschmann kaum eine Rolle, ‘die Ostdeutschen’ waren in der Opposition oder zumindest passive Opfer des Systems. Nach dieser Begründungsschablone verengt der Literaturwissenschaftler Oschmann hohe AfD-Ergebnisse im Osten auf westdeutsche Täter wie Björn Höcke sowie auf das Versagen der westorientierten übrigen Parteien.

Ähnliche Klischees werden auch in Oschmanns Verhandlung der ostdeutschen Literaturszene deutlich, einem Schwerpunkt des Buchs, in dem es vorrangig um kulturelle Machtansprüche des Westens gehen soll: “Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann.” Mit Verweisen auf tatsächlich (Inge Müller, Franz Fühmann) und eigentlich gar nicht vergessene Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Brigitte Reimann) biedert Oschmanns Buch sich an ein bestehendes gebildetes Publikum in Ost und West an, ohne dass es ihm gelingt, etwas Neues zur “DDR-Literatur” zu sagen. Zum Beispiel dazu, dass der ebenfalls erwähnte Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig gerade in den USA eine Renaissance erlebt.

Ingo Schulze liefert dem Buch einen Blurb, obwohl Schulzes letzter, erzählperspektivisch äußerst komplex konstruierter Roman, Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020), selbst eben die nicht einseitig ‘westdeutschen’, sondern wechselseitigen kulturellen Projektionen auf den Osten abbildet. Schulzes Roman destabilisiert damit sowohl Sachsen-Romantik à la Uwe Tellkamp als auch journalistische Dämonisierungsversuche im Sinne eines berüchtigten (und eigentlich falsch verstandenen) Spiegel-Covers, an dem sich Oschmann abarbeitet. Statt etwas Unerwartetes dazu zu schreiben, rekapituliert Oschmann auch bloß den neueren Kunststreit zwischen dem ostdeutschen Maler Neo Rauch und dem westdeutschen Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, versucht daran zu beweisen, dass es der ostdeutsche Kunstbetrieb schwerer hat als der im Westen – als ob diese Debatte nicht auch den steigenden Einfluss von ostdeutschen Künstlern im (inter)nationalen Diskurs zeigen könnte.

Nach Oschmann ist “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe […] die der ostdeutschen Männer insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 […], das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR”. Oschmann bezieht sich dabei auf die historisch-soziologische Studie Lütten Klein (Suhrkamp 2019) von Steffen Mau, die eine Benachteiligung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in anderen sozialen Feldern nachweist. Im Gegensatz zu Oschmann ist nach Mau der Osten aber eben keine simple Projektions- und Konstruktionsfläche des Westens. Ein Verständnis der Transformation des Ostens seit der Wende verlangt auch einen Blick auf die DDR-Gesellschaft vor 1989. Faktoren wie die ethnische Homogenität der DDR, der lange Zeit niedrigere Ausbildungsstand und Akademikermangel im Osten, Abwanderungsbewegungen sowie die – von engagierten Ostdeutschen selbst initiierte – politische Ausgrenzung der alten SED- und Stasieliten müssen dabei ebenso zentraler Teil der Erzählung sein wie westdeutsche Machtinteressen, Netzwerke und Administratoren. Oschmann hingegen betont die Rolle negativer Stereotype über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, erfindet einen ‘antiostdeutschen’ Rassismus und verfehlt damit strukturelle Ursachen für empfundene Probleme. Aber bekanntlich enthält sein Buch ja einen Undifferenziertheits-Disclaimer, der interessanterweise dann doch nicht gilt, wenn es darum geht, herauszustellen, dass Hitler Österreicher war.

Kuriositäten, die ein weiteres Ergebnis von Unterkomplexität mit Ansage sind: Als Teil von Oschmanns Versuch, eine allgemein negative Konnotation des “Ostens” im öffentlichen Diskurs herzuleiten, präsentiert er die Stadt Leipzig als geteilt in einen attraktiven Westen und in einen “fast verrufen[en]” Osten. Für mich als Leipziger ist das einigermaßen befremdlich, da sich schon seit einigen Jahren eben auch der Leipziger Osten zur Hipster- und Studentengegend gentrifiziert. Zum mangelnden Stadtinteresse passend findet Oschmanns Buchpremiere aber gar nicht am Ort seiner Professur in Sachsen statt, sondern in Prenzlauer Berg, bekanntlich ebenfalls hip und historisch in Ostberlin gelegen.

Positive Entwicklungen seit der Wiedervereinigung etwa die sich angleichenden Niveaus bei Löhnen und Arbeitslosigkeit, Industrieboom und Modernisierung der Infrastruktur, steigende Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern – weist Oschmann mit Verweis auf das Debate-Me-Primat zurück: “Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‘differenzierter Darstellung’. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht”. Aha. Als ob Oschmanns Populismus nicht vor allem an eine Leserschaft in den ostdeutschen Bundesländern verkauft werden soll, statt sonst wen überzeugen zu wollen.

Neue politische Romane jüngerer ostdeutscher Autorinnen und Autoren bieten sozialkritische Gegenerzählungen zu Oschmanns eigenem pessimistischen Narrativ, was aber auch einen möglichen ostdeutschen Generationenkonflikt offenbart. Das ist vor allem erwähnenswert, weil Oschmann sie als das, “was der Westen sich vom Osten denkt” verächtlich macht. Diese Texte leisten ihre eigene Gedächtnisarbeit durch fiktionalisierte Jugenderinnerungen der sogenannten “Baseballschlägerjahre”. Im Hinblick auf solche autofiktionalen Romane kann man Oschmanns Faszination für die “Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse” teilen, nur ist Oschmanns eigener Text viel eher polemisch als analytisch und ordnet seine eigenen, für sich genommen erhellenden autobiografischen Anekdoten aus dem deutschen Universitätsbetrieb, dieser Polemik unter.

Hendrik Bolz’ Nullerjahre (KiWi 2022) etwa zeichnet aus der Ich-Perspektive ein schier endloses, fast rauschhaftes Panorama schulischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er Jahren. Diese Gewalt ist politisch aufgeladen durch rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Rhetorik und gestützt durch die Abwesenheit von Kontrollinstanzen. Oschmann verkennt völlig, dass solche Erinnerungen eben nicht nur affirmativ ein westdeutsches Publikum erreichen wollen, sondern zuerst einer jüngeren ostdeutschen Generation insgesamt eine Stimme geben. Bolz’ empathischer Roman verschweigt nicht die Strukturschwächen des Ostens im Vergleich zum Westen, sondern macht eben durch sein Verlegen der Handlung in die vermeintlich boomenden “Nullerjahre” auf sie aufmerksam. Vielschichtiger als Oschmanns Wessi-Ossi-Opfergeschichte erzählt der Roman die Erzeugung von Männlichkeit zwischen Autorität und Vorbildern, Klasse und Weißsein.

Eine Gewaltgeschichte erzählt auch Anne Rabes spannungsreicher, aus weiblicher Perspektive geschriebener Debütroman Die Möglichkeit von Glück* (Klett-Cotta 2023), der fast zeitgleich mit Oschmanns Buch erschienen ist und mit gegenwärtigen Verklärungen der DDR aufräumt. Diese Verklärungen sind heute weniger im konsumistisch-nostalgischen Stil von Good Bye, Lenin! (2003) gehalten, sondern entdecken den Osten gern als kulturkonservative Alternative des ‘kleinen Mannes’ zum liberalen Westen. Anne Rabes Protagonistin Stine, wie der Ich-Erzähler von Nullerjahre von der Ostseeküste, stammt aus einer Familie von DDR-Funktionären. Eine Archivrecherche über ihren Großvater führt sie zu den Ursprüngen und Nachwirkungen der autoritären DDR-Pädagogik, die ihre Kindheit und Jugend in den Nachwendejahren prägen. Gerade zum Verständnis von sozialen Brüchen nach ‘89 ist also das Wissen um kontinuierliche Machtverhältnisse nicht nur im Westen, sondern auch im Osten notwendig.

Zwar ist Oschmanns Buch inzwischen von einem halben Dutzend Leitmedien besprochen worden und in der Bestsellerliste gelandet, doch neue Impulse außerhalb längst bekannter fatalistischer Narrative vermag es nicht zu geben. Für die Rezeption eines in einer überregionalen Tageszeitung erschienenen Textes, den Oschmann für Der Osten auf Buchlänge erweitert hat, dreht der Autor aber schon mal eine kapitellange Siegerrunde. So verkündet er:

“Mein FAZ-Artikel Wie sich der Westen den Osten erfindet ging am 3. Februar kurz vor Mitternacht online: Bereits um 0.04 Uhr bekam ich die erste positive Reaktion aus der Schweiz. […] Mir sind per E-Mail und per Post Studien, Aufsätze und Bücher zum Thema geschickt worden, von Soziologen, Historikern, Politologen und Linguisten, die das ungeheure Ausmaß der Benachteiligung mit Fakten und Daten belegen. – Offenbar hat der Text einen Nerv getroffen.”

Jenseits des Matterhorns lässt sich Folgendes konstatieren: Oschmanns Intervention im Namen einer deklassierten lost generation von ostdeutschen Männern, die sich inzwischen nahe vorm oder schon im Rentenalter befinden, kann merkwürdig verspätet wirken und ist, wie auch das angefügte fünfzehnseitige Literatur- und Anmerkungsverzeichnis zeigt, ein Kompilat von über dreißig Jahren Debatte zum Thema. Doch gerade in seiner Umwandlung von Kränkungsgefühlen in Tatsachen und in seiner Läuterungserzählung, in der Oschmann sich als enttäuschter Grün-Liberaler präsentiert, knüpft sein Buch an aktuelle populistische Redeweisen an, die eine sich als marginalisiert empfindende weiße Männlichkeit politisiert.

Unterbrochen wird Oschmanns Polemik-Performance immer wieder durch versichernde Einschübe, dass er sich möglichen Einwänden gegen die Überzogenheit seiner Rhetorik selbst bewusst ist: “Der Ton stört gewaltig, ich gebe es sofort zu. Denn ich sage ja nichts Neues, aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei”. Und vielleicht nimmt gerade diese völlige Transparenz, intellektuell unehrlich zu sein und ein gewaltiges Medienereignis bewirken zu wollen, dem Buch das Potenzial, dies über erwartbare Talkshowauftritte, Zustimmung der Unzufriedenen und verdiente Verrisse hinaus tatsächlich provozieren zu können.

* Anne Rabe ist selbst Autorin bei 54books; mir lag vorab ein Manuskript ihres Romans vor.