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Im Osten nichts Neues – Über den Bestseller von Dirk Oschmann

von Peter Hintz

Der relative Mangel an ostdeutschen Führungsfiguren im hiesigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird in Deutschland medial auf verschiedene Weise aufgenommen: Mit Optimismus, dass es nach und nach mehr wird, mit Realismus, dass es für die aktuelle Situation historische, politische und soziale Gründe gibt, oder mit eingeschränktem Fatalismus, dass für andere Ostdeutsche alles schief läuft, sich aber zumindest die eigene Ossi-Brand pushen lässt.

Dirk Oschmanns Langessay Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) hat bereits Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste erreicht. Es handelt sich um ein Debattenbuch aus dem postfaktischen Zeitalter. Nicht nur wartet das Sachbuch mit populistischen Thesen zur anhaltenden Marginalisierung Ostdeutscher durch Westdeutsche auf, zur Immunisierung vor naheliegender Kritik betont der Autor gleich selbst in der Einleitung, dass es ihm gar nicht auf Genauigkeit ankomme: “Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise”. Oschmann, der ursprünglich aus Gotha stammt und in Leipzig als Professor für Germanistik tätig ist, befürchtet, dass ansonsten sein politisches Anliegen “bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt”.

Unsichtbar bleibt für Oschmann sonst die Geschichte einer BRD-Hegemonie über den Osten, die nichts weniger als den Imperialismus des Kaiserreichs in Afrika sowie die nationalsozialistische “Ostpolitik” fortsetze: “‘Buschzulage’ und ‘Aufbau Ost’ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis andererseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten”. Als ob das Problem dieser Neunzigerjahre-Sprache nicht vor allem darin bestand, dass privilegierte Westdeutsche und privilegierte Ostdeutsche sich wechselseitig zu Opfern von white man’s burden und rassistischer Diskriminierung erklärten, während in der Nachbarschaft die Asylheime brannten.

Je drastischer Oschmann die ostdeutsche Unfreiheit und die westdeutsche Fremdherrschaft herbeiredet und das interne politische Geschehen im Osten – nicht zuletzt den Rechtsradikalismus – dabei ausblendet, desto weniger überzeugend ist seine Argumentation. Pauschale Thesen von einer ‘antiautoritären Prägung’ des Ostens durch den Umsturz ‘89, die durch AfD und PEGIDA popularisiert worden sind, sind historisch nicht haltbar. Wenn Oschmann schreibt, dass man Ostdeutschen, die “teils mit hohem persönlichen Risiko eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären [muss], was Demokratie ist”, so sollte dabei zwischen DDR-Regimegegnern und Regimeprofiteuren unterschieden werden. Letztere spielen bei Oschmann kaum eine Rolle, ‘die Ostdeutschen’ waren in der Opposition oder zumindest passive Opfer des Systems. Nach dieser Begründungsschablone verengt der Literaturwissenschaftler Oschmann hohe AfD-Ergebnisse im Osten auf westdeutsche Täter wie Björn Höcke sowie auf das Versagen der westorientierten übrigen Parteien.

Ähnliche Klischees werden auch in Oschmanns Verhandlung der ostdeutschen Literaturszene deutlich, einem Schwerpunkt des Buchs, in dem es vorrangig um kulturelle Machtansprüche des Westens gehen soll: “Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann.” Mit Verweisen auf tatsächlich (Inge Müller, Franz Fühmann) und eigentlich gar nicht vergessene Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Brigitte Reimann) biedert Oschmanns Buch sich an ein bestehendes gebildetes Publikum in Ost und West an, ohne dass es ihm gelingt, etwas Neues zur “DDR-Literatur” zu sagen. Zum Beispiel dazu, dass der ebenfalls erwähnte Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig gerade in den USA eine Renaissance erlebt.

Ingo Schulze liefert dem Buch einen Blurb, obwohl Schulzes letzter, erzählperspektivisch äußerst komplex konstruierter Roman, Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020), selbst eben die nicht einseitig ‘westdeutschen’, sondern wechselseitigen kulturellen Projektionen auf den Osten abbildet. Schulzes Roman destabilisiert damit sowohl Sachsen-Romantik à la Uwe Tellkamp als auch journalistische Dämonisierungsversuche im Sinne eines berüchtigten (und eigentlich falsch verstandenen) Spiegel-Covers, an dem sich Oschmann abarbeitet. Statt etwas Unerwartetes dazu zu schreiben, rekapituliert Oschmann auch bloß den neueren Kunststreit zwischen dem ostdeutschen Maler Neo Rauch und dem westdeutschen Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, versucht daran zu beweisen, dass es der ostdeutsche Kunstbetrieb schwerer hat als der im Westen – als ob diese Debatte nicht auch den steigenden Einfluss von ostdeutschen Künstlern im (inter)nationalen Diskurs zeigen könnte.

Nach Oschmann ist “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe […] die der ostdeutschen Männer insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 […], das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR”. Oschmann bezieht sich dabei auf die historisch-soziologische Studie Lütten Klein (Suhrkamp 2019) von Steffen Mau, die eine Benachteiligung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in anderen sozialen Feldern nachweist. Im Gegensatz zu Oschmann ist nach Mau der Osten aber eben keine simple Projektions- und Konstruktionsfläche des Westens. Ein Verständnis der Transformation des Ostens seit der Wende verlangt auch einen Blick auf die DDR-Gesellschaft vor 1989. Faktoren wie die ethnische Homogenität der DDR, der lange Zeit niedrigere Ausbildungsstand und Akademikermangel im Osten, Abwanderungsbewegungen sowie die – von engagierten Ostdeutschen selbst initiierte – politische Ausgrenzung der alten SED- und Stasieliten müssen dabei ebenso zentraler Teil der Erzählung sein wie westdeutsche Machtinteressen, Netzwerke und Administratoren. Oschmann hingegen betont die Rolle negativer Stereotype über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, erfindet einen ‘antiostdeutschen’ Rassismus und verfehlt damit strukturelle Ursachen für empfundene Probleme. Aber bekanntlich enthält sein Buch ja einen Undifferenziertheits-Disclaimer, der interessanterweise dann doch nicht gilt, wenn es darum geht, herauszustellen, dass Hitler Österreicher war.

Kuriositäten, die ein weiteres Ergebnis von Unterkomplexität mit Ansage sind: Als Teil von Oschmanns Versuch, eine allgemein negative Konnotation des “Ostens” im öffentlichen Diskurs herzuleiten, präsentiert er die Stadt Leipzig als geteilt in einen attraktiven Westen und in einen “fast verrufen[en]” Osten. Für mich als Leipziger ist das einigermaßen befremdlich, da sich schon seit einigen Jahren eben auch der Leipziger Osten zur Hipster- und Studentengegend gentrifiziert. Zum mangelnden Stadtinteresse passend findet Oschmanns Buchpremiere aber gar nicht am Ort seiner Professur in Sachsen statt, sondern in Prenzlauer Berg, bekanntlich ebenfalls hip und historisch in Ostberlin gelegen.

Positive Entwicklungen seit der Wiedervereinigung etwa die sich angleichenden Niveaus bei Löhnen und Arbeitslosigkeit, Industrieboom und Modernisierung der Infrastruktur, steigende Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern – weist Oschmann mit Verweis auf das Debate-Me-Primat zurück: “Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‘differenzierter Darstellung’. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht”. Aha. Als ob Oschmanns Populismus nicht vor allem an eine Leserschaft in den ostdeutschen Bundesländern verkauft werden soll, statt sonst wen überzeugen zu wollen.

Neue politische Romane jüngerer ostdeutscher Autorinnen und Autoren bieten sozialkritische Gegenerzählungen zu Oschmanns eigenem pessimistischen Narrativ, was aber auch einen möglichen ostdeutschen Generationenkonflikt offenbart. Das ist vor allem erwähnenswert, weil Oschmann sie als das, “was der Westen sich vom Osten denkt” verächtlich macht. Diese Texte leisten ihre eigene Gedächtnisarbeit durch fiktionalisierte Jugenderinnerungen der sogenannten “Baseballschlägerjahre”. Im Hinblick auf solche autofiktionalen Romane kann man Oschmanns Faszination für die “Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse” teilen, nur ist Oschmanns eigener Text viel eher polemisch als analytisch und ordnet seine eigenen, für sich genommen erhellenden autobiografischen Anekdoten aus dem deutschen Universitätsbetrieb, dieser Polemik unter.

Hendrik Bolz’ Nullerjahre (KiWi 2022) etwa zeichnet aus der Ich-Perspektive ein schier endloses, fast rauschhaftes Panorama schulischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er Jahren. Diese Gewalt ist politisch aufgeladen durch rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Rhetorik und gestützt durch die Abwesenheit von Kontrollinstanzen. Oschmann verkennt völlig, dass solche Erinnerungen eben nicht nur affirmativ ein westdeutsches Publikum erreichen wollen, sondern zuerst einer jüngeren ostdeutschen Generation insgesamt eine Stimme geben. Bolz’ empathischer Roman verschweigt nicht die Strukturschwächen des Ostens im Vergleich zum Westen, sondern macht eben durch sein Verlegen der Handlung in die vermeintlich boomenden “Nullerjahre” auf sie aufmerksam. Vielschichtiger als Oschmanns Wessi-Ossi-Opfergeschichte erzählt der Roman die Erzeugung von Männlichkeit zwischen Autorität und Vorbildern, Klasse und Weißsein.

Eine Gewaltgeschichte erzählt auch Anne Rabes spannungsreicher, aus weiblicher Perspektive geschriebener Debütroman Die Möglichkeit von Glück* (Klett-Cotta 2023), der fast zeitgleich mit Oschmanns Buch erschienen ist und mit gegenwärtigen Verklärungen der DDR aufräumt. Diese Verklärungen sind heute weniger im konsumistisch-nostalgischen Stil von Good Bye, Lenin! (2003) gehalten, sondern entdecken den Osten gern als kulturkonservative Alternative des ‘kleinen Mannes’ zum liberalen Westen. Anne Rabes Protagonistin Stine, wie der Ich-Erzähler von Nullerjahre von der Ostseeküste, stammt aus einer Familie von DDR-Funktionären. Eine Archivrecherche über ihren Großvater führt sie zu den Ursprüngen und Nachwirkungen der autoritären DDR-Pädagogik, die ihre Kindheit und Jugend in den Nachwendejahren prägen. Gerade zum Verständnis von sozialen Brüchen nach ‘89 ist also das Wissen um kontinuierliche Machtverhältnisse nicht nur im Westen, sondern auch im Osten notwendig.

Zwar ist Oschmanns Buch inzwischen von einem halben Dutzend Leitmedien besprochen worden und in der Bestsellerliste gelandet, doch neue Impulse außerhalb längst bekannter fatalistischer Narrative vermag es nicht zu geben. Für die Rezeption eines in einer überregionalen Tageszeitung erschienenen Textes, den Oschmann für Der Osten auf Buchlänge erweitert hat, dreht der Autor aber schon mal eine kapitellange Siegerrunde. So verkündet er:

“Mein FAZ-Artikel Wie sich der Westen den Osten erfindet ging am 3. Februar kurz vor Mitternacht online: Bereits um 0.04 Uhr bekam ich die erste positive Reaktion aus der Schweiz. […] Mir sind per E-Mail und per Post Studien, Aufsätze und Bücher zum Thema geschickt worden, von Soziologen, Historikern, Politologen und Linguisten, die das ungeheure Ausmaß der Benachteiligung mit Fakten und Daten belegen. – Offenbar hat der Text einen Nerv getroffen.”

Jenseits des Matterhorns lässt sich Folgendes konstatieren: Oschmanns Intervention im Namen einer deklassierten lost generation von ostdeutschen Männern, die sich inzwischen nahe vorm oder schon im Rentenalter befinden, kann merkwürdig verspätet wirken und ist, wie auch das angefügte fünfzehnseitige Literatur- und Anmerkungsverzeichnis zeigt, ein Kompilat von über dreißig Jahren Debatte zum Thema. Doch gerade in seiner Umwandlung von Kränkungsgefühlen in Tatsachen und in seiner Läuterungserzählung, in der Oschmann sich als enttäuschter Grün-Liberaler präsentiert, knüpft sein Buch an aktuelle populistische Redeweisen an, die eine sich als marginalisiert empfindende weiße Männlichkeit politisiert.

Unterbrochen wird Oschmanns Polemik-Performance immer wieder durch versichernde Einschübe, dass er sich möglichen Einwänden gegen die Überzogenheit seiner Rhetorik selbst bewusst ist: “Der Ton stört gewaltig, ich gebe es sofort zu. Denn ich sage ja nichts Neues, aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei”. Und vielleicht nimmt gerade diese völlige Transparenz, intellektuell unehrlich zu sein und ein gewaltiges Medienereignis bewirken zu wollen, dem Buch das Potenzial, dies über erwartbare Talkshowauftritte, Zustimmung der Unzufriedenen und verdiente Verrisse hinaus tatsächlich provozieren zu können.

* Anne Rabe ist selbst Autorin bei 54books; mir lag vorab ein Manuskript ihres Romans vor.

Ist die Kunst im Eimer? – 50 Antworten gegen das Ende der Kunst

von Christina Dongowski

Der Titel deutet es bereits an: Kolja Reichert schlägt in seinem Buch Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst durchgehend einen amüsanten Konversationston an. Blickt man aber genauer hin, dann  treibt ihn ebenso konsequent die Befürchtung um, mit der Rolle, die Kunst bisher in der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hat, könne es vorbei sein. Er fürchtet, dass selbst das Publikum, das immer noch zahlreich in die großen Museen und Ausstellungen strömt, die Kunst dort im Grunde “falsch” rezipiert: sie zum Beispiel nur als Unterhaltung konsumiert, als sozio-ökonomisches Distinktionsmerkmal einsetzt oder als Demonstrationsobjekt in Kulturkämpfen, in denen es nur richtig oder falsch gibt und niemand mehr Kunstwerke nach ästhetischen, kunstimmanenten Kriterien bewertet.

Eine Autorin mit weniger Zutrauen in den Eigenwert der Kunst und die Aura eines gelungenen Kunstwerks hätte aus dieser Diagnose vielleicht eine melancholische Klage über das Verschwinden der Kunst gemacht oder – beim heutigen Buchmarkt wahrscheinlicher – eine kulturkonservative Anklage des grassierenden Verlustes bürgerlicher Traditionen und klassischer Bildung. Kolja Reichert hat das Gegenteil davon geschrieben. Kann ich das auch? ist eine Hymne an Schönheit, an die Macht und Notwendigkeit von Kunst – und das als unterhaltsamer Ratgeber und Crashkurs für Menschen, die wissen wollen, was es mit Kunst tatsächlich Besonderes auf sich hat. 

Kunst als Spektakel des Kapitals

Das Buch beginnt mit seiner eigenen Urszene, die vor allem eine Szene gescheiterter Kunstvermittlung ist: Reichert beschreibt ausführlich, wie er im Februar 2020 in der Staatsgalerie Stuttgart als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion daran scheitert, den Zuhörenden zu erklären, warum das Kunstwerk Love is in the Bin (Die Liebe ist im Eimer) von Banksy, das zirka für ein Jahr in der Staatsgalerie zu sehen war, als Kunst tatsächlich belanglos ist, nichts mehr als ein Produkt aus dem Museumsshop, das sich in die Ausstellung verirrt hat. Seine Erklärungen, warum Love is in the Bin künstlerisch schlecht gedacht und langweilig gemacht sei, und damit ästhetisch unbefriedigende, schlechte Kunst, treffen bei seinen Zuhörer*innen kaum auf Resonanz. Die sind vor allem fasziniert von der Art, wie das Kunstwerk entstanden ist: Nachdem am 5. Oktober 2018 der Hammer des Auktionators von Sotheby’s gefallen war, hatte ein in den Goldrahmen eingebauter Schredder die Leinwand des eigentlich zum Kauf angebotenen Kunstwerks, Banksys berühmtes Balloon Girl, gut bis zur Hälfte eingezogen und in schmale Streifen geschnitten, die nun aus dem Rahmen heraushängen.

Das Stuttgarter Publikum ist davon beeindruckt, dass es ihnen die Leiterin der Staatsgalerie Christine Lange ermöglicht hat, die Sensation der Kunstwelt mit eigenen Augen sehen zu können. Die einmalige Chance, quasi live an einem großen Moment der Kunstgeschichte teilhaben zu können. So hat die Käuferin von Love is in the Bin, das Schredder-Auktionsbild bezeichnet und dafür rund 1,2 Millionen Euro bezahlt – um, das können die Zuhörer*innen im Februar 2020 natürlich noch nicht wissen, ihren halbgeschredderten kunsthistorischen Moment im Oktober 2021, wieder bei Sotheby’s für knapp 22 Mio. Euro an den nächsten Sammler zu verkaufen. (Das Bild und die Aktion sind hier gut beschrieben, ebenso wie hier im Video zu sehen.)

Kolja Reicherts Argument, hier werde die Kunst zu einem Spektakel des Reichtums degradiert und die Kunstbetrachter*innen vom aktiv ästhetisch wahrnehmenden und urteilenden Bürger zum Publikum dieses Spektakels, verfängt als Kritik bei genau diesem Publikum überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Zuschauerin kontert seine Kritik mit der Frage, ob den Kunst immer elitär sein müsse, und erhält dafür viel Beifall. Das wird quasi zum kunsthistorischen Moment Kolja Reicherts, in dem er begreift, dass Kunst als der besondere “Raum der Freiheit und der Menschlichkeit” massiv bedroht ist und eine bessere Verteidigung braucht als das, was er und seine Mitkombattant*innen auf dem Podium der Staatsgalerie zustande gebracht hatten. Das Buch mit den fünfzig Fragen im Titel, die tatsächlich auch alle gestellt und beantwortet werden, ist diese Verteidigung. Ob sie tatsächlich gelingt, muss wahrscheinlich jede Leserin für sich entscheiden – und die Antwort hängt wohl grundsätzlich davon ab, ob man die implizite Diagnose des Autors, das freie Reich der Kunst sei im Begriff zu fallen, überhaupt teilt. 

Keine Angst vor ästhetischen Grundsatzfragen

Aber auch wenn man der Überzeugung ist, dass das Bedürfnis Kunst zu schaffen eine wesentliche menschliche Eigenschaft ist und man sich über ihren Fortbestand keine Sorgen machen muss, liest man Reicherts amüsant und engagiert geschriebene Verteidigung der Kunst gegen ihre Verwandlung in ein ökonomisches und soziales Spektakel mit Gewinn. Denn Reichert stellt sich auch den grundsätzlichen Fragen, die von Teilen des Kunstbetriebs gern als irrelevant, banausisch oder als eine Art Majestätsbeleidigung abgetan werden: “Worum geht es in der Kunst?”, “Was wollen uns die Künstler sagen?”, “Handelt es sich bei Kunst um ehrliche Arbeit?“ Und die beiden im Kunstbetrieb am meisten gehassten Fragen: “Wozu ist Kunst gut?” und “Was ist Kunst?”

Reichert entschärft diese Grundsatzfragen nicht, indem er sie ironisiert oder als Vorwand für ein rhetorisches Feuerwerk nimmt, das die Fragenden vergessen lässt, was sie überhaupt gefragt haben. In seinen Antworten verzichtet er weitgehend auf kunstwissenschaftliche und philosophische Terminologie, – so fällt der Begriff “Kunstautonomie”, um deren Verteidigung es Reichert ja geht, nur wenige Male –, stattdessen orientiert er sich an einem sprachlichen Register, das man vielleicht am besten als Alltagssprache gebildeter Laien beschreiben kann. Diese Art über Kunst zu schreiben ist in der deutschsprachigen Kunstliteratur tatsächlich nicht allzu verbreitet. Eine Frage des Buches lautet nicht ohne Grund: „Warum sind Texte über Kunst so unverständlich?” In den besten Passagen des Buches zeigt Reichert, wie man ernsthaft und engagiert über Kunst schreiben kann, ohne dass bereits der Stil Leser*innen, die nicht in den entsprechenden Habitus sozialisiert wurden, nahelegt, dass Kunst für sie eigentlich kein Thema zu sein hat. 

Im “Tieferlegen” der Eintrittsschwelle in das Reich der Kunst leistet Reichert also einiges. Sein wichtigstes Werkzeug, neben der zugänglichen Sprache, ist dabei die ziemlich konsequente Trennung der Kunst von dem Betrieb, der sich seit dem 18. Jahrhundert um sie gebildet hat. Reichert führt die Leser*innen mit viel Insiderwissen durch die einzelnen Abteilungen des Betriebs: von der Chefetage über Marketing und Vertrieb bis hin zu Personalwesen und in die Produktionshallen. Dieser Blick hinter die Kulissen versetzt die Leser*innen in die Lage, nicht nur die Kulissenschieberei und die Scharlatanerien im Kunstbetrieb besser einschätzen zu können, sie bekommen auch die Mittel an die Hand, die eigenen Ressentiments kritisch zu reflektieren. Hoffnung und Ziel dabei: Die Menschen sollen lernen, wie wenig dieser in weiten Teilen tatsächlich sehr ärgerliche Betrieb mit dem zu tun hat, um das es eigentlich geht, die Kunst.

Reichert will die Kunst retten, indem er seinen Leser*innen ein Bewusstsein davon vermittelt, dass hinter diesem ganzen Bohei wirklich etwas ist, was die Mühe lohnt, bis dahin vorzudringen. Er stärkt die einzelne, individuelle Betrachter*in gegen die Zumutungen und Behauptungen des Kunstbetriebs. Wer jetzt fürchtet, Reichert sei nun doch beim Anything Goes der Staatsgalerie Stuttgart angekommen, Hauptsache hohe Besucherzahlen, kann sich entspannen: Das radikale Empowerment der Einzelnen gegenüber dem Kunstbetrieb und ein extrem starker Begriff von Kunst gehen hier zusammen. Kunst ist eben nicht einfach das, was vom Betrieb so genannt wird und gefällt, sondern Kunst ist das radikal Andere zu unserer Alltagserfahrung und zu der Art, wie wir normalerweise mit Objekten umgehen und wie wir Objekte machen. Oder wie Reichert es fast lyrisch selbst am Schluss seines Buches formuliert:

“Was ist Kunst?

Etwas radikal Fremdes

Etwas entwaffnend Vertrautes

Ein Maß, auf das nichts passt

Ein Portal in die Geschichte

Ein Portal in einen selbst

Ein Widerstand, an dem unsere Gewohnheiten abprallen

Ein Spreizeisen, das sich zwischen alle Gründe stemmt

Eine Ausnahme in der Welt, die es erlaubt, sie zu sehen

Die Laufmasche unserer Illusionen

Luft unter den Flügeln der Vorstellungskraft 

Die Frage,die jedes gelungene Kunstwerk aufwirft und die Antwort, die es gibt

Das Schwierigste” 

(S. 248)

Gemeinsam über Kunst sprechen lernen

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt, ist bei Reichert eigentlich die Bedingung dafür, dass wirklich jede*r einen Zugang zur Kunst finden kann (eigentlich sogar muss). Kunst ist für jede*n die maximale Differenz zur Normalität, da unterscheidet sich eine Zerspanungsmechanikerin in nichts von einem Kunsthistoriker. Der Kunsthistoriker hat nur gelernt, wie man milieu-adäquat und wissenschaftlich darüber spricht. Ob er die Kunst am Kunstwerk tatsächlich wahrgenommen und erfahren hat, bleibt in gewisser Weise ein Geheimnis zwischen Kunst und Betrachter, – selbst wenn er so enthusiastisch und auf angenehme Art belehrend über Kunstwerke schreiben kann wie Reichert selbst.

Sich (wieder) eine gemeinsame Sprache für unsere Wahrnehmungsweisen von Kunst zu erarbeiten, ist dann auch das andere große Anliegen des Buches. Reichert wählt seine an der Alltagssprache orientierte Schreibweise nicht nur, weil er ein populäres Sachbuch schreibt. Im zunehmenden Verschwinden einer gemeinsamen Sprache, um über Kunstwerke zu reden und ihre Qualität zu beurteilen, beziehungsweise im völlig Beliebig-Werden des Sprechens über Kunst sieht Reichert nicht nur ein Symptom ihres Verschwindens, sondern dieser Mangel an Sprache gehört auch zu den Ursachen dieses Verschwindens. (Frage 31: Liegt die Kunst im Auge des Betrachters? Darauf antwortet Reichert mit einem klaren Nein. Die Kunst liegt im Kunstwerk.)

Wie angemessen über Kunst zu sprechen beziehungsweise zu schreiben sei, darum kreisen denn auch einige Fragen des Buches. Reicherts Antwort darauf ist im Grunde sehr klassisch: mit großer Genauigkeit entlang der eigenen Wahrnehmung des Kunstwerks. Ein Text über Kunst, der die Erfahrungen der Betrachter*in mit dem Kunstwerk nicht spiegelt, vielleicht auch weil es keine gab, ist kein guter Text über Kunst – ein Maßstab, den Reichert bei den Passagen zu konkreten Kunstwerken im Buch selbst ziemlich gut erfüllt. 

Aber auch Reichert entkommt den Problemen, die man sich immer einhandelt, wenn man abstrakt über die Kunst schreibt, nicht ganz: Im Buch kommt zu wenig Kunst zur Sprache. In seinem Wunsch, die Leser*innen gegen die Widerstände aus dem Kunstbetrieb als potenzielle souveräne Betrachter*innen zu bestärken und zu motivieren, arbeitet sich Reichert vielleicht doch zu ausführlich an diesem Kunstbetrieb und seinen Manierismen ab. Auch wenn die für viele Leser*innen sicherlich ein zentrales Faszinosum darstellen.

So haben die zwei überzeugendsten Argumente Reicherts, dass man Kunst nur in konkreten Kunstwerken erfahren kann, und dass man sich vielen unterschiedlichen Kunstwerken aussetzen muss, um eine kompetente Kunstbetrachterin zu werden, meines Erachtens zu wenig Einfluss auf den Aufbau des Buches. Anstelle der Antworten auf die Fragen, was Kunst von einem Auto unterscheidet und ob NFTs Kunst seien, hätte ich mir eine ausführlichere Auseinandersetzung mit konkreten Kunstwerken gewünscht, und vor allem mehr Arbeit daran, was das Spezifische eines Kunstwerkes gegenüber anderen ästhetischen durchgeformten Objekten ist. Mehr Platz für eine konkrete Schule des Sehens – dann wäre Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst der fast perfekte Wegweiser ins Reich der Kunst.

Photo von Caleb Salomons auf Unsplash

Here we are now, entertain us – Wem gehören die 90er Jahre?

von Isabella Caldart

Vor einigen Jahren ist den Millennials (zu denen ich auch gehöre) – wie auch der Öffentlichkeit generell – aufgegangen, dass sie nicht mehr die „junge Generation“ sind. Diese Erkenntnis fällt in etwa mit Beginn der Pandemie zusammen, als alle Welt aus Langeweile oder Einsamkeit TikTok installierte und die wahre junge Generation entdeckte, die dort bereits sehr aktiv war: Gen Z. Wenn man ehrlich ist, hatten Millennials (in etwa die zwischen 1980 und 1995 Geborenen) eine sehr lange Zeit, rund zwanzig Jahre, in der sie als die Jungen, die Trendsetter, die Zukunftsgewandten, diejenigen, die die Kultur und Gesellschaft bald prägen würden oder schon prägten, angesehen wurden. Dass wir, die wir schon lange fest im Erwachsenenleben verankert waren, plötzlich abgelöst wurden, kam für viele dennoch als Schock oder zumindest unbehagliche Wahrheit.

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Expedition ins Tankstellen-Terrain – Florian Werners „Die Raststätte“

von Lena Brinkmann

Kann etwas so funktional und wenig einladend sein, dass darin eine Schönheit liegt? Florian Werner ist sich dessen sicher und geht einer Faszination aus Kindertagen nach: Die Raststätte soll nicht länger als Inbegriff des Gewöhnlichen herhalten. Mit dem Vorsatz, die blinden Flecke am Wegesrand der Autobahnen auszuleuchten, begibt er sich auf eine Expedition. In Die Raststätte. Eine Liebeserklärung (erschienen im Februar 2021 bei Hanser) rekonstruiert er die deutsche Raststätten-Topografie, nimmt beobachtend teil und spielt sprachlich auf hohem Niveau die landläufigen Vorurteile gegen kluge Beobachtungen aus.

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Kein Preis zu hoch? – Über Preise und was sie mit Krieg und Krisen zu tun haben

von Daniel Stähr

Wer sich häufig in sozialen Medien bewegt, kennt vielleicht das Gefühl, sich durch die unzähligen Posts zu wühlen und dabei auch über humoristisch gemeinte Aussagen zu stolpern – meist eine Mischung aus banalen Vergleichen und halblustigen Insider-Witzen. Manchmal aber steckt in dieser scheinbar lustigen Feststellung mehr Wahrheit und mehr Relevanz, als den Nutzer*innen bewusst und uns als Gesellschaft lieb ist. 

schade dass der Klimawandel den Spritpreis nicht erhöht, dann wäre das seit locker 20 Jahren kein Thema mehr

— E L H O T Z O (@elhotzo) April 12, 2022

Der User El Hotzo wirft hier nämlich implizit eine Frage auf, die uns viel mehr beschäftigen sollte: Wieso haben die Energiepreise in den vergangenen Jahrzehnten so wenig auf die sich immer weiter verschärfende Klimakatastrophe reagiert, sind im Zuge des Krieges in der Ukraine aber gefühlt über Nacht extrem gestiegen? Was treibt Preise? Und vielleicht noch wichtiger – was können uns Preise über die Welt in der wir leben sagen?

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Blinde Justitia? Blinde Flecken in einem Buch über das Justizsystem

von Martha Routen

Justitia ist blind, die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt und bestraft werden nur die, die Unrecht getan haben. So zumindest das Ideal. 

Letztes Jahr wurde ich im Zuge meines Rechtsreferendariats eingeteilt die Staatsanwaltschaft in einem Drogenfall zu vertreten. Laut Akte war kurz hinter der Schweizer Grenze ein Mann im Zug mit einer geringen Menge Morphin erwischt worden, die er auf dem Schwarzmarkt erworben hatte. In der Verhandlung sollte ich aufgrund seiner Vorstrafen statt einer Geld- eine Freiheitsstrafe beantragen, ob diese auch zur Bewährung ausgesetzt werden konnte, sollte ich “nach Eindruck in der Verhandlung” entscheiden.

Drogentransport über die Grenze, Opiate, unerfahren wie ich war, hatte ich einen zwielichtigen Dealer erwartet. Ich betrat den Gerichtssaal und fand stattdessen einen 50-jährigen Mann vor, der einen schlecht sitzenden Cordanzug trug und dessen Gesicht verunsichert und verlebt aussah. Er gestand die Tat sofort und erzählte, wie er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland gekommen war und nach vielen Jahren Arbeitslosigkeit schließlich der Drogensucht verfallen sei, der er – trotz mehrfacher Entzugstherapien – nicht entkomme. Der Arzt verschreibe ihm zwar Methadon, die Menge reiche aber nicht aus, weswegen er geringe Dosen illegal kaufe. Nur so könne er für seine Frau und Tochter zuhause erträglich sein. Wenn ich den Blick des vorsitzenden Richters richtig gedeutet habe, war für ihn ebenso wie für mich in diesem Moment eindeutig, dass dieser Mann nicht bestraft werden sollte. Und trotzdem war eine Straftat begangen worden und die Umstände so, dass eine Freiheitsstrafe kaum zu vermeiden war. Dem Angeklagten wurde das letzte Wort gewährt, er stand auf, es blieb ihm im Hals stecken, er setzte sich wieder. Er wurde zu einer kurzen Bewährungsstrafe verurteilt, der Richter wünschte ihm alles Gute, und so war die erste von fünf solcher Verhandlungen für den Tag zu Ende.

Hinter den Kulissen eines (teilweise) dysfunktionalen Systems

Ein ähnlich deprimierendes und dysfunktionales Bild des deutschen Justizsystems zeigt Ronen Steinke in seinem Buch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – die neue Klassenjustiz, das im Berlin Verlag erschienen ist. Steinke, selbst ein Jurist, der unter anderem eine Biografie von Fritz Bauer geschrieben hat, lässt diejenigen, die nicht im Bereich der Strafverfolgung tätig sind, hinter die Kulissen blicken. Er gibt dabei zum einen Beispiele aus der Praxis, aber nicht auf eine Art und Weise, an der man eine durch True Crime geprägte Schaulust befriedigen könnte. Zum anderen behandelt er Eigenheiten des Systems, die nicht zum Allgemeinwissen gehören, etwa Strafbefehle oder die Strafvollstreckung, und erklärt für Laien verständlich, wie diese geregelt sind und sich auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft systematisch diskriminierend auswirken und, im krassen Gegensatz dazu, wie viel weniger furchterregend die Justiz erscheint, wenn man nur genug Geld hat. 

So konnte beispielsweise der ehemalige FC-Bayern-Präsident Uli Hoeneß gegen eine Sicherheitsleistung von fünf Millionen Euro die Untersuchungshaft abwenden, als er wegen Steuerhinterziehung im Umfang mehrerer Millionen Euro beschuldigt wurde, während Menschen ohne festen Wohnsitz gerade wegen ihrer Obdachlosigkeit bei wesentlich geringfügigeren Taten schnell in Untersuchungshaft geraten. Ein signifikanter Teil der Gesellschaft lebt zwischen diesen beiden Extremen des Reichtums und der Obdachlosigkeit und hält die Gefahr, wegen einer Straftat vor Gericht oder in Untersuchungshaft zu landen, vor allem für eine abstrakte Möglichkeit. Das kann aber schneller Realität werden, als es einem lieb ist: Zu müde Auto gefahren, durch Alkohol gesteigerte Aggressivität, das falsche Foto auf Whatsapp weitergeleitet – die Wahrscheinlichkeit selbst einmal in das Strafsystem zu geraten, ist größer als viele bereit sind sich einzugestehen. 

Steinke thematisiert elementare Bestandteile des deutschen Justizsystems, von denen man annehmen würde, sie wären schon längst verändert worden, zu offensichtlich erscheint ihre Dysfunktionalität. Denn was könnte schon wichtiger sein, als das Ineinandergreifen der Rädchen im Getriebe, das dazu führt, dass der Staat einer Person die Freiheit entziehen kann? Nehmen wir als Beispiel die bereits erwähnte Untersuchungshaft, der Steinke ein eigenes Kapitel widmet. Die Untersuchungshaft, die rein juristisch betrachtet keine Strafe darstellt, dient dazu sicherzustellen, dass Beschuldigte zur Hauptverhandlung erscheinen, sobald – oder falls – gegen sie Anklage erhoben wird und dass in der Zwischenzeit keine Beweise vernichtet oder Zeug*innen eingeschüchtert werden. 

Wer kommt in Untersuchungshaft, wer nicht?

Auch wenn am Ende ein Freispruch steht, kann die Untersuchungshaft weitreichende und einschneidende Folgen haben. Abgesehen von der grundsätzlichen Belastung einer solchen Situation, können Probleme mit dem Arbeitgeber oder mit dem sozialen Umfeld entstehen. Der Hauptgrund, weshalb Beschuldigte trotz Unschuldsvermutung vorläufig eingesperrt werden, ist die Fluchtgefahr. Steinke stellt dar, mit welchen “fluchthemmenden” und “fluchtbegünstigenden” Faktoren das Gericht anhand von Erfahrungswerten in der Rechtsprechung Prognosen stellt. Ein Schulabschluss wird beispielsweise regelmäßig als fluchthemmend gewertet, eine intakte Familie ebenso – dass Familien häufig nur scheinbar intakt sind und dann eben kein stabiles Lebensumfeld bieten, bleibt außen vor.

Als fluchtbegünstigend dagegen wirken zum Beispiel Drogen- oder Spielsucht, oder wie bereits erwähnt das Fehlen einer festen Wohnung oder eines festen Aufenthaltsortes. Dass diese Kriterien seltener auf empirischem Wissen als auf Annahmen und Vorurteilen beruhen, liegt nahe – zur Veranschaulichung verweist Steinke an dieser Stelle darauf, dass die Rechtsprechung in den 1980er Jahren noch eine homosexuelle Beziehung nur ausnahmsweise als fluchthemmende “soziale Bindung” sah, da diese generell weniger verbindlich sei als eine heterosexuelle. Die Rechtsprechung gibt damit oft indirekt die gegenwärtige gesellschaftliche Haltung in Bezug auf politisch-relevante Themen wieder. Haltungen, deren diskriminatorische Auswirkungen häufig erst Jahrzehnte später kritisch reflektiert werden. Es ist demnach zu erwarten, dass zukünftige Jurist*innen auf unsere Rechtsprechung der Gegenwart zurückblicken und mit Entsetzen feststellen, mit welcher Sorglosigkeit mit dem Schicksal von Menschen ohne festen Wohnsitz, Drogenproblemen oder ungesichertem Aufenthaltsstatus umgegangen wurde – als seien solche Probleme allesamt auf das Versagen der Betroffenen zurückzuführen, statt auf das der Gesellschaft und des Staates, sich hinreichend um vulnerable Gruppen zu sorgen. 

Grundlegend richtig, im Detail einseitig

Die grundlegende Prämisse des Buches ist also ohne Zweifel richtig und ich teile Steinkes Frust. Insbesondere aufgrund der Positionierung des Buches für ein fachfremdes Publikum, ist es aber eminent wichtig, dass bei den Leser*innen das Gefühl entsteht, sich eine eigene, gut informierte Meinung gebildet zu haben, sodass Einwände der Gegenposition weniger Eindruck machen können, da diesen schließlich schon argumentativ begegnet wurde. Gerade in einem hochkomplexen Konstrukt wie dem Justizsystem ist diese Kontextualisierung entsprechend relevant. Sie kommt aber in Steinkes Buch zum Teil zu kurz. 

Das betrifft vor allem die einseitige Darstellung mancher Aspekte, wie zum Beispiel des Strafbefehlsverfahren. Strafbefehle stellen eine Art vereinfachte und zügigere Art der Verurteilung dar, die ohne Hauptverhandlung erledigt werden kann. Bei hinreichendem Tatverdacht erläutert die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung des Tathergangs in einem Strafbefehl, in dem auch eine Geldstrafe oder geringe Freiheitsstrafe zur Bewährung verhängt wird. Hält das Gericht die Ausführungen in der Form für stimmig und bestätigt den hinreichenden Tatverdacht, wird der Strafbefehl per Post an den Angeklagten oder die Angeklagte geschickt. Wenn diese*r nicht innerhalb einer kurzen Frist Einspruch erhebt, was zu einer regulären Hauptverhandlung führen würde, wird der Strafbefehl rechtskräftig und steht einem Strafurteil gleich. 

Steinke bemängelt an dieser Verfahrensart, sie sei “unpersönlich, automatisiert, effizient” und kritisiert zurecht, dass es gravierende Folgen haben kann, wenn Angeklagte die Strafbefehle aus verschiedenen Gründen nicht erhalten oder nicht verstehen – etwa aufgrund sprachlicher Hürden oder mentaler Einschränkungen. So staffeln sich Geldstrafen, die nicht bezahlt werden, und schließlich ergeht ein Haftbefehl für Menschen, die nicht einmal mitbekommen haben, dass sie einer Straftat beschuldigt waren. Soweit prinzipiell richtig. 

Die simple Kritik am Strafbefehlsverfahren greift allerdings zu kurz, da Hauptverhandlungen häufig eine große Belastung darstellen und ein persönliches Erscheinen nicht für alle die vorteilhaftere Variante darstellt. Die meisten Strafverfahren sind öffentlich. So müssen sich Angeklagte nicht nur gegenüber den Richter*innen und der Staatsanwält*innen behaupten, es könnten auch Zuschauer*innen im Sitzungssaal sein – manchmal ganze Schulklassen, manchmal auch die Presse. In den meisten Fällen werden Angeklagte über ihre persönlichen Verhältnisse aussagen – eine sehr private Angelegenheit. Auch die Inszenierung eines Strafverfahrens mit den Roben und der Positionierung der Richter*innen kann und soll imponierend wirken. Gerade unter Berücksichtigung dieser Umstände ist es durchaus denkbar, dass manche einen Brief dieser sehr vulnerablen Situation vorziehen würden, in der unter anderem das Gefühl von Überforderung, Scham, Angst und Wut keine Seltenheit darstellt. 

Debattenbuch mit blinden Flecken

Steinkes Buch hat ein eindeutiges Ziel, eine klare Agenda. Wer wenig Geld hat, wird in der Justiz stark benachteiligt, wer Geld hat, kann das System manipulieren. Es ist dementsprechend ein mit Recht wütendes Buch und will die Leser*innen dabei mitreißen, um Aufmerksamkeit für strukturell diskriminierende Verurteilungspraxis und Strafvollzug zu generieren: Ein Thema, das in Gesellschaft und Politik regelmäßig zu kurz kommt. Zu sehr ist das kollektive Verständnis von Justiz und Gefängnis von Moralvorstellungen und Vorurteilen geprägt, die den Blick für soziale Fragen in dieser Hinsicht trüben. 

Dass das Gefängnissystem in seiner jetzigen Form nicht funktioniert, ist schon länger bekannt, aber ohne gesellschaftlichen und politischen Willen wird sich an diesem System nichts verändern. Insofern ist Steinkes aktivistische, teils polemische Schreibweise nachvollziehbar – es handelt sich um ein Debattenbuch, mit allen Stärken und Schwächen dieses Genres. Dabei entsteht neben der teilweise überspitzten Einseitigkeit des Textes der Eindruck, dass manche Aspekte links liegen geblieben sind, die das Buch differenzierter, aber auch weniger kompromisslos in seiner nicht unberechtigten Wut gemacht hätten. 

Zu Beginn heißt es beispielsweise: “Worüber man heute aber [in Bezug auf die Justiz] sprechen muss, das sind Mentalitäten, Vorverständnisse. Die Art, wie Menschen, die die Justiz prägen, auf die Welt blicken.” An dieser Stelle wäre erwartbar gewesen, dass der Autor neben Klassenunterschieden auf strukturellen Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung eingeht, auch wenn die soziale Frage im Mittelpunkt des Buches stehen soll. Im aktuellen Diskurs und nach dem Stand der Wissenschaft können diese Phänomene kaum als getrennte Probleme behandelt werden. Ihre beinahe vollständige Vernachlässigung im Verlaufe des Buches fällt negativ ins Gewicht, auch wenn am Ende der Einleitung die Problematik des Ausdrucks “Klasse” erwähnt wird, da dieser ein komplexes Thema unkompliziert erscheinen lasse und Steinke en passant anmerkt, dass viele der im Buch thematisierten Mechanismen überproportional auf “Menschen mit Migrationshintergrund” zutreffen. Eine stärker intersektionale Perspektive wäre hier durchaus sinnvoll gewesen. 

Besonders unglücklich mit Blick auf die Thematik ist, dass die Autor*innen des von Steinke in der Einleitung zitierten Essays “Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis” gerade die Bezeichnung “mit Migrationshintergrund” in diesem Bereich als problematisch betrachten, da damit suggeriert würde, dass nur Menschen mit Migrationshintergrund strukturellem Rassismus ausgesetzt seien. In derselben Fußnote gewinnt man zudem den Eindruck, der Autor spiele die Bedeutung des Merkmals People of Colour für den Gegenstand des Buches herunter, mit Verweis auf zum Teil zwanzig Jahre alte Sozialforschung. Dieser Eindruck erhärtet sich im Verlauf des Buches, wenn – erneut in einer Fußnote – die Ergebnisse einer entsprechenden Studie zu Untersuchungshaft und Aufenthaltsstatus angezweifelt werden, oder Praxisfälle unter expliziter Erwähnung der Herkunftsländer der Angeklagten erläutert werden, ohne jedoch strukturelle Diskriminierung zu erwähnen. 

Intersektionale Perspektiven

Wie eng verschiedene Arten struktureller Diskriminierung mit der Frage der Gleichheit vor Gericht zusammenhängen, wird beispielsweise im britischen Diskurs immer häufiger thematisiert. Unabhängig von der Frage der konkreten Vergleichbarkeit der Justizsysteme, kann angenommen werden, dass grundlegende Probleme in ähnlicher Form auftreten. So erzählt Alexandra Wilson in ihrem Buch In Black and White von ihren Erfahrungen als nicht-weiße Anwältin in einem Justizsystem, das auf einer Klassengesellschaft beruht und setzt sich dezidiert mit den Verstrickungen von Race and Class in a Broken Justice System auseinander. Die Juristin und Autorin Shon Faye wiederum zeigt in ihrem Buch The Transgender Issue den engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, dysfunktionaler Justiz und der Diskriminierung von trans Personen auf. Auch in The Secret Barrister – Stories of the Law and How it’s Broken werden gerade in Bezug auf die Besetzung des Schöffenamtes intersektionale Aspekte aufgegriffen. 

Nicht zuletzt wird in Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich ganz überwiegend der Eindruck vermittelt, Richter*innen und Staatsanwält*innen seien stets desinteressiert an den sozialen Implikationen ihrer beruflichen Entscheidungen und dass sich daraus zwei diametral gegenüberstehende Lager ergeben würden: diejenigen, die innerhalb des Justizsystems arbeiten und es uneingeschränkt befürworten, und diejenigen, die außerhalb des Justizsystems stehen und es grundsätzlich verneinen. Ohne Frage leidet das Justizsystem an beträchtlichen Problemen und sicherlich gibt es auch Justizbeamt*innen, deren Empathie zu wünschen übrig lässt. Eine Simplifikation sowohl des Systems, als auch der darin arbeitenden Personen, ist jedoch in dieser Form verfehlt und wenig konstruktiv. 

Trotz diskutabler Unzulänglichkeiten in der Umsetzung handelt Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich von überaus wichtigen Themen, die zu selten im Rampenlicht stehen oder überhaupt bekannt sind. Steinke leistet damit einen Beitrag zur gegenwärtigen Tendenz lange etablierte Strukturen auf ihre diskriminierende Auswirkungen zu untersuchen, statt sich mit dem status quo zufrieden zu geben und bietet in diesem Sinne am Ende des Buches auch konkrete Verbesserungsvorschläge. Denn, so wie Steinke und viele andere in diesem Kontext bereits zitiert haben: den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse.  

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Weiterleben müssen – Einige Gedanken über vier zuversichtliche Bücher

von Matthias Warkus

Texte, die damit beginnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, sind oft öde und anstrengend. Es ist nicht ohne Grund ein Klischee, dass schlechte Vorträge bei Poetry-Slams oder offenen Lesungen oft damit anfangen (oder sich gar darin erschöpfen), dass jemand vom Anruf mit der Aufforderung, etwas zum Thema des Abends zu schreiben, erzählt. Daher habe ich erhebliche Skrupel, diesen Text so einzuleiten, aber nachdem ich nun  fast drei Jahre lang daran gescheitert bin, es irgendwie anders zu machen, fange ich tatsächlich mit seiner Entstehung an. Weiterlesen