Autor: Jacob Birken

Wege des Nichtsehens – Naomi Klein schreibt in „Doppelgänger“ über politische Verwechslungen

von Jacob Birken

Online ist es ja normal, dass wir uns verkehrt sehen. Auf Zoom oder Skype wird unser eigenes Bild meistens gespiegelt, um einem Selbstbild zu entsprechen, das wir eben vor allem aus dem Spiegel kennen: uns so zu sehen, wie die anderen uns (und wir sie) sehen, würde uns nur verwirren. Die Öffentlichkeit ist grundsätzlich eine immense Maschine, die immer neue Bilder von Personen erzeugt, die jemandes Erwartungen gehorchen sollen. Heute ist noch der Computer dazugekommen, der gegebenenfalls besser weiß, wen wir wie sehen wollen.

Diese zahllosen Repräsentationen sind uns ähnlich oder nicht ähnlich genug, was wiederum die Herstellung weiterer Repräsentationen herausfordert. Manchmal sind diese Repräsentationen auch etwas Anderem ähnlich, wie beispielsweise einem Stereotyp oder einfach einer anderen Person. Die kanadische Autorin Naomi Klein ist so in den letzten Jahren immer öfter in die dubiose Situation gekommen, in einer anderen Naomi – der US-Autorin Naomi Wolf – erkannt zu werden. Auch mir war das irgendwann passiert, als ich mich beim Doomscrollen darüber gewundert und geärgert hatte, dass selbst Naomi Wolf umgekippt war; früher eine wichtige kritische Stimme, jetzt ein weiterer Aluhut, der skurrile Theorien über massenhafte Zwangssterilisation durch Covid-Impfungen und Todesstrahlen vom 5G-Mast verbreitete.

Nun hatte ich hier sofort fälschlicherweise an Naomi Klein gedacht, der solche Verschwörungsgeschichten zum Glück fremd sind. Beide Naomis sind sich eigentlich auch nur sehr oberflächlich ähnlich: Vom Aussehen und den Namen her, aber auch, weil sie beide als Kritikerinnen einer kapitalistischen wie chauvinistischen Gesellschaft bekannt wurden – radikale Frauen, die sich das System vornahmen. Wolf hatte 1990, noch in ihren späten Zwanzigern, The Beauty Myth (Der Mythos Schönheit) veröffentlicht, eine Kritik an ‚Schönheit‘ als normativem Instrument patriarchaler Unterdrückung. Klein, acht Jahre jünger, dekonstruierte in No Logo 2000 die kapitalistische Markenwelt und wurde schnell als eine Vordenkerin der globalisierungskritischen Bewegung gesehen, wie wiederum Wolf mit der dritten Welle des Feminismus assoziiert wurde.

Damit standen beide vor einem gemeinsamen, wenngleich sehr unscharfen Hintergrund. Das ist nicht zuletzt die Timeline, auf der wir uns durch Hot Takes und Schreckensnachrichten doomscrollen, und deren Themen weiterhin (oder jetzt erst recht) diejenigen sind, die Wolf und Klein vor Jahrzehnten gesetzt haben. Beide Naomis sind Stimmen in der öffentlichen Diskussion der zusammenhängenden Krisen der Gegenwart. Nun war mit der Covid-Pandemie eine weitere Krise hinzugekommen, und Wolf nahm dazu (erwartbar) eine radikale Position ein, die sie (unerwartet) auf die andere Seite des politischen Spektrums führte – anfangs irgendwo links oder zumindest progressiv verortet, trat sie plötzlich regelmäßig mit Rechtsradikalen wie Steve Bannon auf. Früher schrieb sie gegen die Militarisierung der USA und die ungehinderte Verbreitung von Schusswaffen an, jetzt ist sie mit ihrem früheren Bodyguard – einem Ex-Soldaten – verheiratet und berichtet begeistert von ihrem privaten Arsenal.

Dass viele, für die Wolfs frühere Arbeit relevant war, dies jetzt als Verrat an der gemeinsamen Sache verstanden, ist nachvollziehbar, dass sie sie nun mit Klein verwechselten und sie bei jedem neuen Unfug ihrer Namensvetterin mit wütenden Mails bombardierten, weniger. Diese Verwechslung ist nicht ganz so trivial, wie es wirkt; für mich spielte sicherlich die Sorge oder schlimme Ahnung hinein, dass auch Klein ‚in diesen schwierigen Zeiten‘ kippen könnte. Seit der Pandemie, spätestens mit dem russischen Überfall auf die Ukraine schien das ein Schicksal zu sein, das viele Linke und allgemein Intellektuelle ereilte.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der um die Jahrtausendwende wesentliche Texte zur Theorie des Ausnahmezustands und der totalitären Menschenvernichtung veröffentlicht hatte, sah jetzt den Totalitarismus bereits darin realisiert, dass Hochschullehre während der Pandemie über Zoom stattfinden musste; Byung-Chul Han, sonst eher für sanft konservative Kulturkritik am digitalisierten Kapitalismus zuständig, schwadronierte in Interviews 2020 von einer „Hysterie des Überlebens“, während der aktivistische Dramaturg Anselm Lenz vor der Berliner Volksbühne mit ausgewiesenen Rechtsradikalen zum „Demokratischen Widerstand“ gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur demonstrierte.

Das reihenweise Umkippen öffentlicher Intellektueller und Kulturleute hatte etwas Unheimliches. Methodische und ethische Ansprüche schienen sich von einem Tag auf den anderen verkehrt zu haben. Lästige Banalitäten wie Fernlehre oder die Impfung wurden mit industrialisiertem Massenmord verglichen, die solidarische Sorge umeinander (das Nicht-Anstecken mit einer potentiell tödlichen Krankheit) zu einem Übel, gegen das die hedonistische Verwirklichung des Individuums oder der Gemeinschaft verteidigt werden musste.

Dass Han im Interview die Sorge um das Überleben mit dem misogynen Begriff der „Hysterie“ belegte, war sicher kein Zufall. Es war aber auch kein Zufall, dass er seine Kritik an den staatlichen Covid-Maßnahmen ausgerechnet mit einer Referenz auf die ‚gute‘ Naomi herleitete: Wie Klein 2007 in The Shock Doctrine (Die Schock-Strategie) anhand von Beispielen zwischen Militärputschen während des Kalten Kriegs und den Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts herausgearbeitet hatte, werden gerade Krisensituationen dazu genutzt, um autoritäre Projekte bei einer verunsicherten oder desorientierten Bevölkerung durchzusetzen.

Das ist eine wichtige, scharfe Beobachtung. Klein hat dafür den Begriff desDisaster Capitalism“ geprägt, den 2015 der Journalist Antony Loewenstein für ein gleichnamiges Buch mit weiteren Fallstudien aufgriff. Desaster-Kapitalismus ist die Logik einer vermeintlichen Unausweichlichkeit im Krisenmoment, von Margaret Thatchers Slogan „There is no alternative“: Es gibt keine Alternative dazu, den Sozialstaat, öffentliche Verkehrsmittel oder humanistische Universitätsfakultäten durch Einsparungen kaputtzuschrumpfen; es gibt keine Alternative dazu, nach einer Naturkatastrophe den Wiederaufbau den zugleich teuersten und fahrlässigsten Großkonzernen zu überlassen; es gibt, und das ist die Folge von alledem, keine Alternative dazu, ganze Gesellschaftsschichten der Prekarisierung auszuliefern, damit sie selbst keine Alternative dazu haben, sich der Industrie als billigste Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. In der Tat gibt auch die Covid-Pandemie einige Beispiele für Desaster-Kapitalismus her: von der Maskenaffäre hin zu den Profiten, die Firmen wie Microsoft oder Zoom durch die erzwungene Umstellung auf digitale Lehre machten.

An einer solchen konkreten Kapitalismuskritik war Han freilich weniger interessiert als daran, wie die „digitale Biopolitik […] mit ihrem Kontroll- und Überwachungssystem die Kontrolle über unsere Körper in einer biopolitischen Disziplinargesellschaft ergreift“. Dennoch bereitete es mir ein ganz persönliches Unbehagen, wie nahtlos der Übergang war, wie anschlussfähig die materialistische Analyse des Ausbeutungskapitalismus für das apokalyptische Geraune schien.

Wo ist die Grenze zwischen einer kritischen Untersuchung, in der komplexe politische Phänomene auf eine elegante Formel wie Desaster-Kapitalismus reduziert werden, und der paranoiden Suche nach den ‚wahren‘ Gründen für die augenfälligen Probleme und Ungerechtigkeiten? Mit solchen Fragen wird die paranoide Perspektive zum übergreifenden Weltbild. Gerade weil ich Kleins Shock Doctrine so überzeugend fand und selbst regelmäßig zur reaktionären Politisierung von Krisen schrieb, stellte ich sie und letztlich mich unter Verdacht, auf die Schwurbelzone zuzusteuern, in der Wolf, Agamben oder Han so mühelos angekommen waren.

In der Verwechselbarkeit der beiden Naomis schien sich dieses Problem allegorisch zuzuspitzen und zwang Klein aus dieser vielleicht aufklärerischen, vielleicht paranoiden Logik heraus, sich damit ernsthafter zu beschäftigen – das heißt, ein verstörendes Phänomen unserer Gegenwart so weit zu durchdringen, bis es sich auf elegante Formeln reduzieren und in ein lesenswertes Buch fassen lässt. Doppelganger (2023, auf Deutsch noch nicht angekündigt) ist teils autobiographisch, teils eine sehr umfassende Bestandsaufnahme der politischen Kultur der letzten Jahre. Es ist nicht als philosophischer Text geschrieben, wirft aber grundsätzliche Fragen zu einer politischen Epistemologie auf. Klein nutzt die Figur des „Doppelgängers“ und die einer dazugehörigen „Spiegelwelt“, um die unheimliche Verwechselbarkeit zwischen kritischen linken Positionen und der nach rechts weit offenen Schwurbelzone auszuloten, die sich am Ende trotzdem als unaufhebbar widersprüchlich erweisen.

Doppelgänger:innen in Märchen, Filmen oder Romanen sind Verkörperlichungen einer Identitätskrise, die zur Gefahr für die Person wird, wenn sie durch ihr Doppel ausgetauscht oder überschrieben wird. Sie sind nur in einer Gesellschaft denkbar, in der das Individuum als einzigartig verstanden wird und dessen Einzigartigkeit zugleich instabil bleibt, gewissermaßen immer nur flüchtig zwischen Person und Gesellschaft ausgehandelt: Der Eigenname im Ausweis, auf dem Buchumschlag oder im Social-Media-Profil, der mit den eigenen Erinnerungen und denjenigen anderer korrespondiert. Auf einer grundlegenden psychologischen Ebene geht es hier um Objektpermanenz, die Fähigkeit, jemanden oder etwas als dieselbe, denselben, dasselbe wiederzuerkennen, selbst wenn wir sie zwischendurch nicht sehen.

Objektpermanenz ist ein unerlässliches Mittel der Psyche, um Gemeinschaftlichkeit überhaupt denkbar zu machen – dennoch bleibt sie gerade in ihrer sozialen Anwendung zu einem winzigen Teil immer spekulativ, wenn wir beispielsweise annehmen, dass eine Person auch heute so sein wird, wie wir sie von früher kennen. Umgekehrt reflektieren wir, dass und wie wir von anderen als eine andauernde Persönlichkeit wahrgenommen werden. Als Kapitalismuskritikerin kommt Klein nicht umhin, dies vor dem Hintergrund einer den Regeln des Marktes unterworfenen Gesellschaft zu diskutieren, in der Identität als Marke (z.B. ‚die Kapitalismuskritikerin Naomi Klein‘) aufgebaut und gepflegt werden muss. Soziale Medien fördern und fordern das. Wie Klein beschreibt, entsteht der zumindest indirekte Zwang, sich selbst als Doppelgänger:in auf den üblichen Plattformen anzulegen, um dort die von der eigenen Peer Group als ‚richtig‘ angesehene Haltung zu performen.

Dieses Zurechtstutzen der Person auf eine wiedererkennbare, wettbewerbsfähige Haltung führt mit dazu, die Gesellschaft in „Spiegelwelten“ aufzusplittern, deren jeweilige Ethik nicht aus der Auseinandersetzung mit konkreten Umständen und Vorstellungen von Gerechtigkeit abgeleitet wird, sondern nur im Gegensatz zur Position der anderen Seite stehen muss. Politik ist nicht länger ein Prozess gesellschaftlicher Veränderung, sondern nur noch Markentreue. Von der Diagnose einer ‚gespaltenen Gesellschaft‘ brauchen wir nicht allzu viel zu halten, um solche Phänomene beobachten zu können. Die Weigerung, Komplexität jenseits einfachster Bekenntnisse für ‚gut‘ und gegen ‚böse‘ anzuerkennen, verflacht auch die Person zum Display, auf dem die Haltung des Augenblicks abgefragt werden kann.

Dass das Profil auf Social Media Persönlichkeit als Kontinuität darstellt, im besten Fall als öffentliches Tagebuch gelesen werden kann, interessiert nicht weiter, wenn es nur auf die aktuelle Performance ankommt. Umgekehrt werden oft genug alte Posts herausgesucht, um damit die fehlende moralische Integrität einer Person anzuzeigen. Post um Post setzen wir weitere Doppelgänger:innen unserer selbst in die Welt, die uns gegenüber zu nichts verpflichtet sind, im Zweifelsfall aber stets gegen uns aussagen werden.

Das alles ist unheimlich, und soll es vielleicht sein – ein kollektives Gaslighting, in dem niemand sicher vor den eigenen Doppelgänger:innen bleibt. Wolf wird für Klein unheimlich, weil sie in ihr gegen ihren Willen (wieder-)erkannt wird: Als kritische Autorin, die die Machtstrukturen hinter aktuellen Krisen aufdecken will, aber auch als jüdische Frau. So sehr Doppelgänger:innen dabei an das Problem der individuellen Identität rühren (was würde passieren, wenn ich mir auf der Straße selbst begegnen würde?), so sehr sind sie ein Mittel paranoider Gesellschaftskritik (was ist, wenn die Menschen auf der Straße nicht die sind, für die ich sie halte?). Der, die oder das Andere als ein Gegenüber des Individuums – eben nicht ich – kann im gesellschaftlichen Zusammenhang zum Anderen werden, das nicht der eigenen Gemeinschaft angehört. Doppelgänger:innen werden damit politisch – bedrohliche Un-Personen, die ein Kollektiv unterwandern. In der Popkultur wird das zum Motiv von Horror- oder Sci-Fi-Geschichten wie Das Ding aus einer anderen Welt oder Die Körperfresser kommen.

Es ist bezeichnend, wie einfach diese Storys aktualisiert und an gegenwärtige gesellschaftliche Fragen angepasst werden können – bereits beim ersten Körperfresser-Film, Don Siegels Die Dämonischen von 1956, könnte der schleichende Austausch der Menschen durch emotionslose Außerirdische eine Allegorie auf eine kommunistische Unterwanderung der USA oder auf den Konformismus der antikommunistischen McCarthy-Ära sein. Wenn Naomi Wolf also ihre bizarre Mär davon vorträgt, wie die Impfstoffe die „Energiefelder“ der Menschen verändern, sie gefühllos, wie „Hologramme“ wirken und „Teenager und ältere Kinder sich wie Zombies oder Roboter“ bewegen lassen, werden dabei bekannte Motive aus der Science Fiction abgerufen und mit der Kritik an einem vorgeblichen Konformismus der Geimpften verwoben.

Dies trägt nicht zuletzt dazu bei, die Anderen zu entmenschlichen. Im persönlichsten Abschnitt des Buches schreibt Klein über ihre eigenen Erfahrungen als Mutter eines autistischen Kinds. Die anfangs eher in ‚alternativmedizinischen‘ Kreisen verbreitete Falschinformation, dass Autismus eine Nebenwirkung von Impfstoffen sei, nimmt im neuen Zusammenhang der Covid-Pandemie eine bedrohlichere Note an. Wolfs dystopische Beschreibung von Geimpften als empathielos, kommunikationsunfähig und letztlich nicht ganz menschlich spiegelt gängige Vorstellungen von autistischen Personen. Klein zeichnet nach, wie die Pathologisierung autistischer Kinder zu Doppelgänger-Figuren in vielerlei Hinsicht eine Gewaltgeschichte ist: Von der ersten Bestimmung als Krankheit durch Hans Asperger, der autistische Kinder mitunter als genialisch verklärte, aber viele mit seiner Diagnose effektiv in den Tod im NS-Euthanasie-Programm schickte, bis hin zu Eltern, die eine solche Diagnose vor allem als eine persönliche Enttäuschung wahrnehmen und sie durch die rücksichtslose Anpassung des Kindes an die eigenen normativen Vorstellungen wiedergutmachen wollen.

Im Narrativ vom ‚falschen‘ Kind erkennt Klein eine den Doppelgänger:innen verwandte folkloristische Figur wieder – das Wechselbalg, ein dämonisches, monströses Wesen, das Eltern anstatt des eigenen Kindes untergeschoben wird. Als Märchen kann das der Ausdruck von Ängsten sein, aber auch die nahezu ritualisierte Rechtfertigung, als anders empfundene Kinder gewissermaßen für deren falsche Existenz zu bestrafen: Oft gehört zu diesen Geschichten, dass das Wechselbalg extremer Gewalt ausgesetzt werden muss, damit es wieder ins Reich der Feen flüchtet und mit etwas Glück das ‚echte‘ Kind zurückkehrt.

Dass es sich bei historischen Wechselbalg-Geschichten ‚eigentlich‘ um eine Chiffre für Gewalt gegen neurodiverse Kinder handeln könnte, zeigt, dass sich selbst eine kritische Hermeneutik nie aus einer verschwörerischen Logik befreien kann: Hier ist es eben die andauernde Verschwörung gegen das autistische Kind, die im alten folkloristischen Motiv aufgedeckt wird. Wie lässt sich hier eine klare Grenze ziehen? Wechselbälger oder zombifizierte Geimpfte sind Fiktionen, höchstens von denjenigen als wahr empfunden, die sich die Welt auf andere Weise nicht erklären könnten.

Dennoch steht hinter der falschen Erklärung ein Erklärungsbedarf. Verschwörungstheoretiker:innen mögen bei den Fakten falsch liegen, schreibt Klein, doch nicht im Gefühl. Und in der Tat lag während der Pandemie vieles im Argen, was auf konkrete Machtverhältnisse zurückgeführt werden könnte – seien es die Prekarisierung der Pflege, das Geschacher der Pharmaindustrie um Patente, anstatt die Impfstoffe für weltweite Herstellung freizugeben, oder die klaren Interessen der Techindustrie an einer erzwungenen Digitalisierung. Weshalb also eine Erklärung für solche Missverhältnisse suchen, die auf den ersten Blick als wirre Fantasterei zu erkennen sein sollte – warum schlechte Science-Fiction über verimpfte Überwachungschips verbreiten, anstatt sich beispielsweise für offene Softwarestandards und eine gerechtere Gesundheitspolitik einzusetzen?

Die erste Antwort ist: Weil es zu kompliziert wäre. „Der paranoide Verstand ist viel kohärenter als die wirkliche Welt“, schrieb der Historiker Richard Hofstadter bereits 1964 in seinem Essay „The Paranoid Style in American Politics“. Wenn Bill Gates und George Soros als übermächtige Strippenzieher für alles verantwortlich sind, was in der Welt schiefläuft, bleiben nicht allzu viele Fragen offen und erst recht nicht diejenige, auf welcher Seite man steht. In dieser Vereinfachung auf ein Schema von Gut vs. Böse fällt vieles weg, und genau dies könnte die Taktik dahinter sein. Klein nennt dies „Wege des Nichtsehens“, eine Weltsicht, davon geprägt, an den wesentlichen Problemen, an den konkreten menschlichen Anliegen vorbeizuschauen, die hinter den immer weiter gespiegelten Doppelgänger:innen verborgen bleiben.

Nun hat Klein selbst politische Anliegen, und aus diesen lässt sich die zweite Antwort ableiten: Weil es zu kompliziert wäre, sich mit dem Kapitalismus (und der eigenen Verstrickung in dessen Machtverhältnisse) auseinanderzusetzen. Erneut werden wir mit einer Verschwörung konfrontiert, die diesmal hinter dem Verschwörungsdenken selbst steht. Hier lassen sich allerdings keine finsteren Strippenzieher:innen ans Licht zerren, sondern nur die eigene, selbstverschuldete Unmündigkeit gegenüber einem System, das auf Ausbeutung und Ungleichheit aufbaut (an dieser Stelle der allfällige Disclaimer, dass auch dieser Text auf Geräten geschrieben und gelesen wird, in deren Produktion höchstwahrscheinlich Kinder- und/oder Zwangsarbeit eingeflossen ist). Anders gesagt: Bill Gates als dämonischer Blutsauger lenkt den Blick weg von Bill Gates als Vertreter eines kapitalistischen Systems, von dem selbst die meisten Aluhüte dadurch profitieren, indem auch sie nicht in einem Sweatshop oder einer Coltan-Mine arbeiten müssen.

Ein pragmatischer Zugang zum Dilemma um Doppelgänger:innen und Spiegelwelten wäre also die Frage, was verborgen bleibt oder wird, wenn vermeintlich etwas ‚aufgedeckt‘ wird – ein Zugang, der nicht auf das beschränkt bleiben darf, was wir von vornherein als Augenwischerei abtun. Klein weiß sehr wohl, dass Aufklärungsarbeit niemals neutral bleibt, weil sie schließlich von historisch und kulturell verorteten Menschen betrieben wird.

Dass es ausgerechnetjüdische Intellektuelle waren, die sowohl im frühen Marxismus wie in der kritischen Theorie des 20. Jahrhunderts den Kapitalismus als Ideologie und Machtstruktur dekonstruierten, ist ein antisemitisches Narrativ, aber ebenso – wie Klein zu einem plot twist verdichtet – die jüdische Reaktion darauf, zum Sündenbock für gesellschaftliche Zustände gemacht zu werden, die eigentlich dem Kapitalismus anzulasten sind. Das ist im 21. Jahrhundert nicht weniger aktuell: US-amerikanische Rechtsradikale verwenden mittlerweile routiniert die Chiffre vom „Kulturellen Marxismus“, aus dem vorgeblich die zeitgenössische Identitätspolitik und ergo sämtliche die ‚westliche Zivilisation‘ (sprich, die heteronormative weiße Gesellschaft) bedrohenden Phänomene zwischen Black Lives Matters und körperlicher Selbstbestimmung stammen.

An Perfidie ist das kaum zu überbieten – dem simplen Anliegen schwarzer oder trans Menschen, nicht ermordet zu werden, wird die Legitimität entzogen, weil sich dahinter eigentlich ein politisches Projekt dubioser (jüdischer) Marxist:innen verberge; zugleich werden letztere als Gruppe identifiziert, die aus dem Diskurs und schließlich der Gesellschaft ausgeschlossen gehört. Chris Rufo, der als Stratege der radikalen Rechten in den USA solche Narrative erfolgreich verbreitet hat, arbeitet bereits daran, den Nahost-Konflikt auf ähnliche Weise nutzbar zu machen: Konservative sollten „einen starken Zusammenhang zwischen Hamas, BLM, DSA [den demokratischen Sozialist:innen], und der akademischen ‚Dekolonisation‘ im öffentlichen Bewusstsein herstellen“ – eine neue Kohorte von Doppelgänger:innen also, dank der dann in den USA das Uni-Seminar zur Geschichte der Sklaverei und danach die Gewerkschaft in der Autofabrik verboten wird, weil sie irgendwie für die in Israel durch die Hamas durchgeführten Massaker mitverantwortlich seien.

Es ist schwer, sich gegen solchen Unfug zu wehren. Zum einen können kontrafaktische Mythen überzeugender sein, da sie schlichtweg einfacher sind, unmittelbar ein Feindbild bieten, das zur Verantwortung gezogen werden soll. Zum anderen findet dies alles innerhalb von Diskursen statt, die als Wettbewerb und nicht als gemeinschaftsbildender Prozess geführt werden. Als Angehöriger einer Minderheit zögere ich oft selbst, mich zu diesbezüglichen Konflikten zu äußern, gerade weil ich weiß, dass das als Versuch interpretiert werden würde, mir einen Vorteil zu verschaffen – wenn zum Beispiel hochrangige deutsche Politiker:innen über ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ und eine ‚Einwanderung ins deutsche Sozialsystem‘ sprechen, als wäre der Wunsch nach besseren Lebensumständen nicht selbstverständlich, sondern eine kriminelle Masche, gehe ich als sogenannter Spätaussiedler vorsichtshalber davon aus, dass selbst die glatteste ‚Integration’ gerade als Beweis dafür angebracht werden könnte, sich hier etwas erschlichen zu haben. Im Sinne Kleins muss ich immer damit rechnen, dass in oder statt mir mein Doppelgänger des ‚Einwanderers‘ erkannt wird, den ich als Individuum immer vertrete, ohne über seine Identität bestimmen zu können – „du kannst dieses Doppel nicht abschütteln, weil du es nicht selbst erschaffen hast“, wie sie zu solchen identitätspolitischen Doppelgänger:innen schreibt.

Und dann kann es sogar ganz verlockend werden, sich selbst in den Spiegelwelten zu verirren. In einem sonderbaren Text für den Guardianschrieb Klein wenige Tage nach dem Gewaltausbruch in Israel zu Antisemitismus. Es ist wieder ein persönlicher Text, doch auch einer, dem man förmlich die Anstrengung des Nichtsehens anmerkt. Am Antisemitismus scheint ihr weniger wesentlich, dass er Gewalt legitimiert, als dass er in Folge den „militanten Zionismus“ anfeuert; an den israelischen Opfern muss sie daher schnell vorbeischauen, in eine unausweichliche Zukunft, in der die Israelis wieder dem entsprechen, was Klein in ihnen sehen will: Täter:innen, eben. Inmitten der gegenwärtigen Spiegelwelten, in denen genug Akteur:innen ohne zu zögern Rassismus gegen Antisemitismus ausspielen werden, um den Kampf gegen beide zu sabotieren, bleibt es wesentlich, sich klar gegen Gewalt und Unrecht zu positionieren; es sollte aber der Sache nie schaden, einfach kurz zu schweigen, wenn man im Chaos des Augenblicks nichts anderes produzieren würde als weitere Doppelgänger:innen.

Matsch, Mönch, Medien – Über die Memefizierung Lützeraths

von Jacob Birken

Es ist eine besonders skurrile Szene, die von den Protesten gegen die Räumung der Siedlung Lüzerath in Nordrhein-Westfalen im visuellen Gedächtnis bleiben wird: Mehrere schwer gerüstete Polizist:innen versuchen hilflos, sich aus dem tiefen Matsch des Geländes zu befreien. Sie rutschen auf den Knien hin und her, versuchen einander aufzurichten und versinken doch immer wieder in der weichen Masse. Ein in eine braune Kutte gekleideter Mensch stapft derweil vor ihnen hin und her, als könne ihm das schlammige Gelände nichts weiter anhaben; als hätte sich, im Gegenteil, die Natur selbst mit ihm gegen die schwarz gepanzerten Scherg:innen des industrialisierten Kapitalismus verschworen. Nachdem er mehrfach provokativ ein Pappschild mit der Aufschrift „LÜTZI BLEIBT“ neben den Polizist:innen platziert, geht er schließlich in die Offensive und stößt einen der Polizisten zurück in den Matsch.

Die am 14. Januar aufgezeichnete Szene ging schnell viral, wie zuvor die eindrucksvollen Bilder der Polizist:innen vor den ominösen Formen des Schaufelrad-Baggers oder die Aufnahmen der zwei in einem Tunnel verschanzten Aktivisten, die sich selbst nur als „Pinky“ und „Brain“ identifizierten. Bereits hier zeichnete sich in der Rezeption und den Referenzen ab, wie für den Protest eine bestimmte popkulturelle Rahmung gewählt wurde. Es dauerte entsprechend nicht lange, bis die ersten Remixes der Matsch-Szene oder davon inspirierte Bilder und Clips auf Social Media verbreitet wurden.

Gutes Meme-Material

Gerade in ihrer Absurdität schien die Szene die Fantasie zu beflügeln – und das auf eine recht spezifische Weise: Die im Matsch gefangenen Polizist:innen und der Mönch wurden in die bereits vorliegenden Ikonographien des Fantastischen eingeschrieben, wie sie Film und Fernsehen, aber vor allem das Gaming der letzten Jahrzehnte lieferten – auf Twitter oder Mastodon wurden Mönch und/oder Polizist:innen schnell mit Figuren aus den Spielreihen Assassin’s Creed oder Age of Empires assoziiert oder gleich als Karte für Magic: The Gathering („Climate Warrior Monk“) und Playmobil-Set („Lüzerath Matsch Massaker“) umgesetzt. Damit wird deutlich, dass die Bilder einerseits gutes Meme-Material hergeben – der darin gezeigte Antagonismus aber andererseits mittels ganz bestimmter Narrative interpretiert oder weitergesponnen wird.

Was sagt dieses Potenzial einer popkulturellen Leseweise formal über diese Bilder aus, was über ihren politischen Nutzen? Zuallererst steht die Matsch-Szene nicht für sich allein, sondern folgt den in der ersten Januarwoche aufgenommenen Fotos der Räumung. Insbesondere ein Foto des freien Bildreporters Marius Michusch, das in einer nächtlichen Szene drei Polizist:innen in Schutzausrüstung vor einem gewaltigen Schaufelrad zeigte, wurde schnell als „[v]ery Star Wars or Dune“ oder „straight from a dystopian video game“ eingeordnet. Erste Montagen seiner Bilder mit Star-Wars-Logo oder Sturmtruppen statt Polizist:innen ließen nicht lange auf sich warten. Dieses ‚Wiedererkennen‘ von Sci-Fi-Motiven in unserer Gegenwart ist ohne weiteres aus dem dystopischen Narrativ heraus verständlich – die Wirklichkeit nimmt jetzt quasi vorweg, was wir aus der katastrophalen Zukunftsvision bereits kennen.

Freilich ist dystopische Sci-Fi ihrerseits keine reine Fantasie, sondern Spekulation auf Basis historischer Erfahrungen – George Lucas musste uniform gerüstete Truppen eines totalitären Regimes nicht erst für Star Wars erfinden, und ohne die Selbstinszenierung des Faschismus im 20. Jahrhundert hätte die Inszenierung des galaktischen Imperiums ein paar Jahrzehnte später wohl nicht die gleiche Wirkung auf das Kinopublikum gehabt. Bis heute entstehen solche antagonistischen Bilder gewissermaßen zwischen den Konfliktparteien, was auf allen Seiten der Diskussion erstaunlich oft übersehen wird.

Inszenierte Staatsmacht

Dass beispielsweise Jana Hensel in der ZEIT angesichts der Bilder aus Lützerath ein „ganz großes Aktivistenkino“ sieht, das „Hollywood hätte […] nicht schöner inszenieren können“, taugt weniger zur Polemik, als die Autorin meint: Wenn schwer gerüstete Uniformierte eine gigantische Maschine verteidigen, damit diese in einem von den Grünen mitregierten Bundesland ungestört umweltschädigende Ressourcen aus der Erde baggern kann, haben wir es mit einem ganz anderen Repräsentationsproblem zu tun als mit den eitlen Medienpraktiken von Aktivist:innen. Der Vorwurf, dass sich die Klimabewegung „inszeniere“, überspielt auf naive oder strategische Weise, dass die Machtdemonstration des Staatsapparats ihrerseits eine Inszenierung ist, dass ihre Macht bis ins Detail – die industriell gefertigte Uniform – hinein durch diese Inszenierung ästhetisch gestützt wird. Dass wir dies als normal ansehen oder am besten übersehen sollen, zeigt, wie normalisiert die Verbindung von Staatsapparat und fossiler Energie letzten Endes ist.

Vor diesem Hintergrund können wir auch einen Tweet des CSU-Politikers Andreas Scheuer lesen, der bei einem Foto der von Polizist:innen weggetragenen Luisa Neubauer falsches Spiel vermutete: „Bestens ausgeleuchtet oder mit Photoshop nachgeholfen? Hauptsache hoher Aufmerksamkeitsfaktor“, mokierte sich Scheuer, nur um von der Presseagentur dpa aufgeklärt zu werden, dass das Licht im Bild von einem Mannschaftswagen in der Nähe gekommen war. Dieser reaktionären Lüge, dass es den Aktivist:innen nur um die Bilder gehe, steht der sonderbare Drang entgegen, den sehr konkreten Protest vor Ort auf die mediale Ebene von Memes zu reduzieren – den Konflikt erst mittels popkultureller Referenzen einzuordnen, obwohl er an sich gar keiner weiteren Vermittlung bedürfte.

Wenn Wirklichkeit wie Fiktion aussieht

Dies hat möglicherweise sehr zeittypische, aber auch strategische Gründe. Ein guter Grund ist sicherlich Humor. Gerade angesichts eines autoritär agierenden Staatsapparats ist die ironische oder absurde Brechung der Situation subversiv und kathartisch. „But the main thing is the joy, laughter is a therapy“, twitterte am 16. Januar der Account @MonchLutzi, bei dem es sich tatsächlich um den Menschen in der Kutte handeln könnte. Die Matsch-Szene wurde in den sozialen Medien entsprechend als klassischer Slapstick rekontextualisiert, wie er schließlich mit den Keystone-Cops am Anfang des Hollywood-Films stand. Ein Clip wurde mit launiger Klavierbegleitung und Soundeffekten unterlegt, sobald wieder jemand in den Schlamm fiel (boing!); ein anderer nutzt einen Zeitraffer-Effekt und den Track „Yakety Sax“, der im Abspann der Benny-Hill-Show jeweils zu absurden Verfolgungsjagden lief – bereits in der britischen Comedy-Serie ein Rückgriff auf den Slapstick der Stummfilmzeit.

Das Wiedererkennen des historischen Slapsticks im Material aus Lützerath ist auf ähnliche Weise politisch wie die Sci-Fi-Referenzen – mit nur kleinen Eingriffen scheint sich so zu ‚bewahrheiten‘, dass Polizist:innen auch jenseits der Fiktion ungelenke Witzfiguren seien. Das hat durchaus etwas Magisches, wenngleich im Sinne einer ironisch-sentimentalen Wiederverzauberung der Welt. So geht es in den diversen Lützerath-Memes nicht nur um konkrete popkulturelle Referenzen zwischen Slapstick-Cops und Sturmtruppen, sondern auch um eine Reflexion unseres eigenen Medienkonsums. Wenn die Wirklichkeit sich als wie die Fiktion herausstellt, hat sich die Zeit vor dem Bildschirm wenigstens gelohnt, im Gegensatz zur Wahlstimme für die Grünen.

Die Memefizierung Lützeraths könnte damit eine Sehnsucht ausdrücken, durch den Eskapismus der letzten Jahrzehnte und seine heroischen Franchises hindurch schließlich wieder in der Wirklichkeit anzukommen. Der Mensch des Spätkapitalismus flüchtet sich zuerst aus dem drögen Alltag in fiktive Welten voller dramatischer Konflikte, nur um irgendwann (zu spät?) feststellen zu müssen, dass sich ausgerechnet in unserem Alltag Konflikte von ebenso epischen Dimensionen verborgen hatten!

„Mud Wizard uses Push“

Zu dieser bislang eher tragikomischen Story kann gerade der Mönch von Lützerath einiges beitragen. Welche Rolle spielt der Mann in der braunen Kutte also für die visuelle Vermittlung des Protests? Zuallererst ist es wichtig, dass es viele Rollen sind. Die in unserer Gesellschaft marginal gewordene Figur des christlichen Ordensbruders tritt dabei hinter deren popkulturelle Aufarbeitungen – den Jedi-Ritter, den fanatischen Kriegermönch oder diverse zauberkräftige Kuttenträger – zurück. Das Absurde oder eben Fantastische an der Situation wird dadurch verstärkt, dass der Mönch zwar gegenüber den Polizist:innen und dem Ernst der Lage offensichtlich deplatziert wirkt, aber ebenso offensichtlich überlegen bleibt.

Das legt bestimmte Genre-Interpretationen des gesamten Konflikts nahe. Meine eigenen Assoziationen schwankten sofort zwischen Fantasy-Rollenspiel und Fighting Game, und in der Tat hatte bald jemand das Duell im Matsch mit einem Retro-Pixelart-Interface und Chiptune-Soundtrack ergänzt. „Mud Wizard uses Push“, signalisiert das Interface an der passenden Stelle, „It is very effective!“ Der linke Meme-Account Der Gazetteur hatte da schon eine andere Gaming-Referenz visualisiert: „Was gestern wirklich im Schlamm von Lützerath passiert ist (Zeugen berichteten von einem „Wololo“-Geräusch)“, steht über zwei Standbildern aus dem Video. Auf dem ersten sehen wir, wie der Mönch den Polizisten umstößt, auf dem zweiten ist der – wieder stehende – Polizist in dem gleichen Braunton eingefärbt wie die Kutte des Mönchs; ein Verweis auf das Strategiespiel Age of Empires, in dem „Wololo“-singende Priester gegnerische Figuren für die eigene Armee ‚bekehren‘ können.

Dies alles ist romantischer Eskapismus, in dem für diesen letztlich sehr asymmetrischen und durchaus gewaltsamen Konflikt ein spektakulärer Ausweg herbeigesehnt wird. Und doch wird diese Sehnsucht sofort ironisch gebrochen, wenn statt einer tatsächlichen Heilslehre ausgerechnet die nerdigsten Referenzen herangezogen werden (ich habe dann noch den passenden Zauberspruch aus Dungeons & Dragons recherchiert, der zur Situation passen würde: Das wäre „Transmute Rock“, der Stein in Matsch verwandelt).

Die Ironie schafft einen Sicherheitsabstand – zu den verfrühten Hoffnungen, dass Protest vor Ort oder Online tatsächlich etwas bewegen würde, aber auch zu der Öko-Aktivist:innen oft unterstellten doktrinären Humorlosigkeit. Johannes Schneider konnte die Matsch-Memes noch nicht gekannt haben, als er der Bewegung in der ZEIT am 13. Januar diagnostizierte, sich in „einem altbekannten heiligen (und hochromantischen) Ernst […] gegen jede Form (auch liebevoll) ironischer Bezugnahme“ zu immunisieren; Reinhard Müller von der FAZ delirierte derweil noch am 17. Januar von „einer Inszenierung, deren Regie Ernst Jünger zu führen schien“, und meinte damit erstaunlicherweise nicht die Reihen uniform gepanzerter Polizist:innen, sondern die Aktivist:innen.

Selbst bei „Pinky“ und „Brain“, den zwei Aktivisten im Tunnel, gehört die ironische Distanz zum Programm. „Aber du hast jetzt gar nichts über Kapitalismus gesagt“, beschwert sich einer der beiden in einem YouTube-Video aus der engen und immerhin mit einem Plastikblumenstrauß dekorierten Höhle; „Ja, ich dachte, das machst du“, kontert der andere, bevor nach einem Schnitt tatsächlich der erwartbare Kurzvortrag über die negativen Konsequenzen unserer gesellschaftlichen Ordnung kommt. Angesichts dieser Mixtur aus Situationskomik und didaktischem Anspruch wenig überraschend wurden die Beiden online schnell mit Ernie und Bert aus der Sesamstraße assoziiert.

Der gefährlichen Protestaktion wird so eine Qualität der wholesomeness verliehen – vielleicht sogar eine der Nostalgie gegenüber einer Kindheit, aus der ausgerechnet die Sesamstraße als tatsächlich aufklärerische, politisch progressive Institution übriggeblieben ist. Entspricht das dem Ernst der Lage? Vielleicht nicht, doch zumindest findet zwischen den manisch angehäuften Referenzen der Memes eine Auseinandersetzung mit der Repräsentationsebene dieses Konflikts statt, während auf der anderen Seite langsam doch die Frage gestellt werden sollte, ob ein dystopisch gepanzerter Staatsapparat – wie es Schneider schreibt – „nur ein demokratisch gefasstes Interesse durchsetzen“ hilft.

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