von Jacob Birken
Vor einigen Wochen bekam ich an der Uni die Anfrage eines Medienprojekts weitergereicht, das zu Fake News auf TikTok aufklärt. Es ging um einen Clip, in dem als ‚Erfinder‘ unseres Schulsystems der US-Industrielle John D. Rockefeller präsentiert wurde – tatsächlich, heißt es dort, hätte Rockefeller sich das Schulsystem ausgedacht und finanziert, weil niemand mehr in seinen Fabriken arbeiten wollte und er daher ein Mittel suchte, um Kinder ihren Eltern zu entreißen und sie zu gefügigen Arbeitskräften umzuprogrammieren. Stimmt das?, wollten die Medienleute von uns an der Abteilung für Nordamerikanische Geschichte wissen.
An dem Clip ist so einiges Unfug, aber Rockefeller hatte durchaus ein Interesse daran und die Mittel dazu, das US-Bildungssystem im Sinne des Großkapitals zu gestalten. Wie viele ‚Progressive‘ dieser Zeit bewarb er die sogenannte ‚vocational education‘, also Bildung, die junge Menschen statt auf akademische Karrieren für die Arbeit in Landwirtschaft, Industrie oder Haushalten vorbereiten sollte. Auch der prominente Schwarze Aktivist Booker T. Washington propagierte beispielsweise, dass ein solches Bildungssystem die Schwarze Bevölkerung im Süden der USA aus Armut und Abhängigkeit emporheben würde. Zum Geist des ‚Progressivismus‘ um 1900 gehörte neben Reformen und oft paternalistischer Philanthropie – Rockefeller spendete 180 Millionen Dollar für dieses Bildungsprojekt – die Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche: Alles und jeder wurde vermessen, kategorisiert und katalogisiert, um das Zusammenleben und die Arbeitswelt effizienter und planbarer zu gestalten.
Ins große Bild dieser Reform gehört auch das ‚testing movement‘ – die Idee, mit angeblich wissenschaftlichen Methoden wie dem IQ-Test herauszufinden, zu welchen Arbeiten die Menschen jeweils am ehesten fähig wären. Wie so oft bei solchen Ideen lohnt es sich, sie eher vom erwarteten Ergebnis her zu betrachten als von ihren hehren Ansprüchen. So ergaben die Untersuchungen in den von Rockefeller finanzierten Projekten im Süden, dass der unterprivilegierte Nachwuchs dort am ehesten zur – Überraschung! – einfachen Landarbeit ‚talentiert‘ sei. Damit blieb nicht nur effektiv alles beim Alten, sondern wurde zur Norm fixiert. Die Datenerhebung sollte vorgeblich helfen, etwas über die Menschen als Individuen herauszufinden, aber praktisch diente sie vor allem dazu, ihnen die von der Wirtschaft erwünschte Funktion zuzuweisen.
Diese aus heutiger Sicht hochproblematische Verquickung von wissenschaftlicher Normierung, Effizienzdenken und Philanthropie war um 1900 bürgerlicher Konsens, auf den Kapitalisten wie Rockefeller bequem aufbauen konnten. Der Prozess scheint viel zu komplex, um ihn in einem TikTok-Video zu vermitteln oder zu debunken (von den Medienleuten hörte ich nie wieder). Dabei ist gerade darin eine Pointe versteckt. TikTok mag eine populäre Plattform für radikale und radikalisierende Inhalte sein, doch auch hier lässt sich die Perspektive auf Zweck und Mittel umkehren. Wofür Menschen TikTok nun nutzen mögen – der Nutzen dieser Nutzung ist für die chinesische Firma ByteDance rein ökonomisch. Selbst der kapitalismuskritischste ‚Content‘ ist zuallererst dafür interessant, ein verwertbares Profil der Nutzer:innen anzulegen: Menschen, die sich für den Sturz der kapitalistischen Hegemonialmacht interessieren, kauften auch diese Produkte: …
Das alles könnte eine Anekdote aus der großen Geschichte des „Datenkolonialismus“ sein, an der der Kommunikationswissenschaftler Ulises Ali Mejias und der Soziologe Nick Couldry seit Jahren schreiben. Aktuell erscheint in deutscher Übersetzung ihr neues Buch Datenraub (im Original Data Grab, 2024); zuvor hatten sie das Thema im Buch The Costs of Connection (2019) und diversen Aufsätzen bearbeitet. Es geht dabei um den technischen Zugriff auf immer mehr Aspekte des Lebens, um daraus wirtschaftlich verwertbare Daten zu gewinnen – eine Entwicklung, die wohl alle betreffen wird, die gerade diesen Text lesen, und die immer unausweichlicher erscheint: Was an unserem Leben wird noch nicht datentechnisch erfasst, welche unserer Handlungen werden nicht entsprechend dadurch geprägt, dass sie – wie die Kapitalismuskritik auf TikTok – zuallererst den Normen der Datenerfassung genügen; und erst danach unseren individuellen, gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Ansprüchen?
Dass diese Entwicklung alle betrifft, heißt nicht, dass sie alle auf gleiche Weise betrifft. Wenn ich etwas bei Amazon bestelle, wird das Unternehmen mein Kaufverhalten auswerten, um damit meinen künftigen Konsum zu beeinflussen; es wird meine Daten vielleicht auch mit anderen Unternehmen teilen, die damit Profit machen. Diese Entmächtigung ist freilich nichts im Vergleich dazu, wie die Mitarbeiter:innen des Konzerns in den Lagerhallen und hinterm Steuer der Lieferwägen zu organischen Komponenten eines automatisierten Systems degradiert werden.
Datafizierung als Herrschaftsinstrument betrifft damit eine Klassenfrage: Betuchtere wird das System dazu nudgen, dieses oder jenes Produkt zu kaufen, die Ärmeren macht es zu Marionetten der Logistiksoftware. So wie den glücklosen Paketboten in Ken Loachs Spielfilm Sorry We Missed You (2019), den das Tracking-Gerät seines Arbeitgebers von Adresse zu Adresse und schließlich in den psychischen wie körperlichen Abgrund hetzt. Wenn wir diese Klassenfrage bis an die Anfänge der Lieferkette weiterverfolgen, wird sie unausweichlich geopolitisch. Ohne die uighurischen Zwangsarbeiter:innen in chinesischen Fabriken oder die Kongoles:innen, die unter katastrophalen Bedingungen Cobalt oder Coltan abbauen, gäbe es wohl weder das Gerät, auf dem ich etwas bestelle, noch Amazons logistischen Apparat.
‚Kolonialismus‘ ist ein großes Wort und verweist auf einen großen historischen Zusammenhang. Couldry und Mejias ist das bewusst, und so ist ihr Begriff von „Datenkolonialismus“ nicht als Chiffre für Ausbeutungsverhältnisse überhaupt gemeint, sondern soll explizit Kontinuitäten und Brüche zwischen dem historischen Kolonialismus und den Phänomenen des vernetzten Kapitalismus der Gegenwart benennen. Kontinuität sehen sie auf struktureller Ebene – also in den Methoden und Ideologien; aber ebenso darin, wer hier auf welche Weise betroffen ist. Letzteres ist nicht anhand simpler geopolitischer Blockbildungen auflösbar. China geht etwa in Bezug auf datafizierte Herrschaft und Ausbeutung dem sogenannten ‚Westen‘ mitunter voran. Couldrys und Mejias‘ vorsichtiges und überzeugendes Argument ist eher, dass vom historischen Kolonialismus betroffene Regionen und Personengruppen noch heute wahrscheinlicher vom Datenkolonialismus betroffen sein werden, was sowohl mit dem historischen Erbe der wirtschaftlichen Benachteiligungen zu tun hat wie auch mit kulturell und technisch verankerter Diskriminierung.
Um hier wieder an mein früheres Beispiel aus der US-Geschichte anzuschließen: Nach der Abschaffung der Sklaverei wurden Schwarze systematisch kriminalisiert, um ihre Arbeitskraft als Gefangene weiter auszubeuten. Im 20. Jahrhundert wurden sie von staatlichen Zuschüssen und privaten Krediten ausgeschlossen, was Vermögensbildung über die Generationen hinweg verhinderte. Gleichzeitig wurden sie zu Opfern epistemischer Gewalt. Marginalisierte Menschen sind ‚Gegenstand‘ von Wissenschaften, während ihnen selbst der Zugang zu diesem Wissen verwehrt wird. Dies kann (und soll) zu einer Spirale der Entmündigung führen, wenn die wissenschaftliche Untersuchung – wie eben im IQ-Test – ‚belegt‘, dass das Subjekt gar nicht dazu in der Lage sei, den entsprechenden wissenschaftlichen Diskurs zu verstehen. Diskriminierung wird dabei ein Anstrich wissenschaftlicher Objektivität verliehen, der sich heute auf die digitale Datenverarbeitung und die falsche Wahrnehmung überträgt, dass der Computer ‚neutral‘ sei. „Das Wissen von Big Data gilt als das Wissen von Institutionen, nicht von Menschen, und steht somit in der Tradition der westlichen kolonialistischen Wissenschaft“, schreiben Couldry und Mejias.
Gerade Systeme, die angeblich unbefangen Datenmengen statistisch auswerten, zementieren Diskriminierung. Gut bekannt ist mittlerweile der Fall der Schwarzen Computerwissenschaftlerin Joy Buolamwini, die sich zum Testen eines Roboters eine weiße Maske anziehen musste, weil die Software ihr eigenes Gesicht nicht als Gesicht erkannte – ein groteskes Echo der rassistischen Wissenschaften früherer Jahrhunderte, die nicht-weißen Menschen ihr Menschsein absprachen. Wenn marginalisierte Personen nicht maßgeblich an der Entwicklung von digitalen Systemen beteiligt werden, verschiebt sich alles nur weiter zu ihren Ungunsten. Sie werden dann als fehlerhaft identifiziert. Im harmlosesten Fall werden ihnen Leistungen verwehrt, die an sich allen zur Verfügung stünden, im schlimmsten Fall wird der Fehler des Systems zum Verstoß des Individuums umgewertet, das sich auf sträfliche Weise nicht identifizieren lässt (und, ja, wer deshalb wirtschaftlich und sozial unten anlangt, muss sich erst recht den ausbeuterischsten Apparaten unterwerfen, um noch über die Runden zu kommen).
Dass solche Prozesse die (historisch) am wenigsten Privilegierten zuerst und am stärksten treffen, heißt nicht, dass sie nicht immer mehr Menschen betreffen. Darin liegen sowohl die strukturelle Ähnlichkeit wie der konkrete Unterschied zwischen historischem Kolonialismus und Datenraub. Couldry und Mejias greifen ein Konzept aus dem Gaming auf, um die Logik des Kolonialismus zu erklären – das 4X-Schema von Strategiespielen wie Civilization, Master of Orion oder Age of Wonders. „4X“, das sind die vier Kernprinzipien solcher Spiele: explore, expand, exploit & exterminate. Eine zuerst unbekannte Welt muss ‚entdeckt‘ werden, mitsamt ihren Gefahren und Ressourcen; das eigene Territorium wird erweitert, bis es vielleicht die gesamte Welt umfasst; die gefundenen Ressourcen werden ausgebeutet und verwertet; und alles, was sich einem in den Weg stellt, wird ausgelöscht oder auf eine Weise assimiliert, dass es nicht mehr als anders und eigenständig erkennbar ist. Der historische Kolonialismus ließe sich auf diese vier Prinzipien leicht herunterkochen, doch wie verhält es sich mit dem aktuellen Datenkolonialismus?
Der offensichtliche Unterschied ist, dass sich die vier Prinzipien bei letzterem nicht länger direkt auf Grundbesitz, Rohstoffe und Arbeitskraft beziehen. Alles davon spielt weiterhin eine Rolle – sonst würde das neue Smartphone nicht hergestellt, bestellt und geliefert werden können, sonst würden sich nicht unterbezahlte Clickworkers durch endlose Mengen an oft traumatisierenden Inhalten arbeiten müssen, damit die Social-Media-Apps auf diesem Smartphone einigermaßen verdaulich bleiben und der mit generativer KI dafür erzeugte Clickbait möglichst keine Spuren von Kinderpornographie mehr enthält. Dennoch kreist jetzt alles um Daten, und die ersten Prinzipien – „explore“ und „expand“ – fordern, immer mehr Bereiche des Lebens erfassbar und quantifizierbar zu machen.
Das kann eine plumpe, übergriffige Angelegenheit sein, wenn etwa Webplattformen und Apps unser Verhalten auswerten, um ‚passende‘ Werbeangebote in der Timeline zu platzieren, aber es ist grundsätzlich eine Frage des Wissens. Im Spiel Civilization werden Ressourcen – Eisen, Aluminium, Uran – auf der Weltkarte erst sichtbar, wenn eine dafür notwendige Technologie erlernt wurde, und ähnlich verhält es sich mit den ‚Rohstoffen‘ des Datenkolonialismus. Dass etwas – Konsumverhalten, Puls, Bewegungsdaten – digital erfasst werden kann und wird, hängt ebenso mit den jeweils notwendigen neuen Technologien zusammen wie mit dem Interesse, es weiter zu verwerten („exploit“).
Nun ließe sich einwenden, dass damit im Gegensatz zum historischen Kolonialismus niemandem etwas weggenommen wird – was habe ich verloren, wenn Amazon oder Spotify wissen, welche Musik ich gerne höre? Autonomie, würden Couldry und Mejias einwenden, womit wir zum interessantesten und heikelsten Aspekt ihrer These kommen, zum Aspekt des „exterminate“. Wie die beiden Autoren wiederholt betonen, wäre ein direkter Vergleich zwischen selbst den unangenehmsten Auswüchsen des Datenraubs und der Sklaverei und den Genoziden des historischen Kolonialismus unhaltbar. Zynisch gesagt ist die Auslöschung von Menschen im heutigen Stadium des Kapitalismus nicht notwendig, wenn der Expansion des Datenterritoriums und seiner Auswertung schließlich niemand physisch im Wege stehen kann. Ausgelöscht wird vielmehr die Selbstbestimmung, und das auf eine Weise, bei der wir zumindest Mitwisser:innen sind. Dass die Musik-App ‚weiß‘, was ich gerne hören würde, ist bequem und ein erster Schritt auf einem Pfad, an dessen Ende ohne die Hilfe des Computers kein Handel(n) mehr möglich ist. Das ist ein weiterer Aspekt der „Expansion“: Wenn alles datenförmig wird, ist für alles ein Computer notwendig.
Couldry und Mejias verweisen in Costs of Connection auf ein kleines Experiment der Soziologin Janet Vertesi, die sich während ihrer Schwangerschaft aus der Datafizierung auszuklinken versuchte. Bereits ihre Bitte an die Verwandtschaft, die Schwangerschaft nicht auf Social Media zu thematisieren, schien nicht vermittelbar. Schließlich scheiterte sie am Kauf eines Kinderwagens, da ihre zunehmend arkanen Workarounds (wie mit Bargeld bezahlte Amazon-Geschenkkarten für anonyme Bestellungen) sie suspekt machten und aus der digitalen Ökonomie ausschlossen – „opting out is not only antisocial, but it can appear criminal“, musste sie feststellen.
Dass Datenerfassung vorgeblich das Leben verbessern soll, aber effektiv Möglichkeiten und Freiheiten beschneidet, zeigt schon die Anekdote um das ‚testing movement‘ in den USA des frühen 20. Jahrhunderts. Nun war das damals eine paternalistische, herrschaftliche Praxis, die reiche Eliten und wohlmeinende Reformer:innen anderen aufdrängten. Big Data ist nicht weniger paternalistisch und herrschaftlich, aber weitaus subtiler. Couldry und Mejias schreiben von den „zivilisatorischen Narrativen“, die den Datenkolonialismus zu legitimieren helfen. Dazu gehören der zunehmende Komfort, die Vernetzung und das Versprechen, dass die KI schließlich ‚klüger‘ sei, wo doch wir Menschen die Komplexität unserer Welt längst nicht mehr überschauen können. Damit wird Datafizierung als unausweichlich präsentiert, zu einem Fortschrittsversprechen, dem sich niemand ernsthaft verweigern möchte.
An dieser Stelle möchte ich ein weiteres ‚X‘ vorschlagen, das vielleicht präziser ist als das heikle „exterminate“ oder das zumindest einen nicht unwichtigen Punkt zwischen letzterem und „exploit“ markiert: „extort“, die Erpressung. Im Mai stellte Schauspielerin Scarlett Johansson fest, dass die Firma OpenAI mit einer KI-Stimme warb, die verdächtig nach ihrer eigenen klang – Johansson hatte 2013 im Film Her eine KI eingesprochen, was sie über ihren Starstatus in diesem Kontext ikonisch machte. Nun hatte Johansson zuvor ein Angebot des OpenAI-Chefs Sam Altman zur Digitalisierung ihrer Stimme ausgeschlagen – eine nachvollziehbare Entscheidung, da der Punkt der KI-fizierung schließlich ist, das Original überflüssig zu machen. Altman & Co war das egal, und so heuerten sie einfach eine Sprecherin an, die Johansson zum Verwechseln ähnlich klang.
Die Ansage ist klar: Die komplette Verwertung von allem als Daten wird passieren, ob wir es wollen oder nicht – dass wir uns dem freiwillig ergeben dürfen, sollte als nette Geste seitens Big Data verstanden werden. Der Tech-Journalist Charlie Warzel setzt das zumindest metaphorisch in den gleichen Zusammenhang wie Couldry und Mejias – KI sei: „a technology that requires a mindset of manifest destiny, of dominion and conquest“, schreibt er. „Manifest Destiny“ ist dabei das historische Selbstverständnis der USA im 19. Jahrhundert, den Kontinent von Küste zu Küste zu unterjochen, weil man doch als fortschrittliche Nation einen Zivilisationsauftrag habe.
Gerade, dass es in Johanssons Fall um nichts ‚Wirkliches‘ geht, zeigt den eigentlichen Charakter des Datenkolonialismus. Es ist nicht einmal ihre Stimme. Was wird ihr dadurch weggenommen? KI-Fans verweisen gerne auf die ‚demokratisierende‘ Funktion dieser Technologien, die es vorgeblich allen ermöglicht, mit allen Mitteln kreativ zu sein. Das verändert aber auch den Spielraum von Johansson selbst, und das auf eine Weise, über die sie nicht länger vollends entscheiden kann. OpenAI hat ihre Stimme gefügig gemacht, nicht nur im kommerziellen Sinne, sondern weil jetzt noch der letzte Incel seine Sexfantasien damit vertonen kann.
Das ist ein recht grimmiger Plot-Twist, weil Johansson selbst bisweilen dubiose Praktiken vorgeworfen wurden – so wurde 2017 für die Neuverfilmung von Ghost in the Shell die Story passend umgeschrieben, damit die Hauptfigur der in Japan stattfindenden Handlung eben eine weiße Frau sein konnte. Wie bei OpenAIs Stimmenklau war das eine wirtschaftliche wie politische Angelegenheit: So entging japanischen Schauspielerinnen die Chance auf eine Hauptrolle in einem Hollywoodfilm, womit zugleich klargestellt wurde, dass ‚Hauptrollen‘ etwas sind, das eher weißen Schauspieler:innen zusteht. Couldry und Mejias greifen in Datenraub das Argument von Achille Mbembe auf, dass der Kapitalismus begonnen habe, „sein eigenes Zentrum zu rekolonialisieren“. Dass KI jetzt für den Datenkolonialismus das Starsystem Hollywoods – und damit die repräsentative Hochburg des Spätkapitalismus – unterwerfen soll, scheint mir dafür ein treffendes Beispiel.
Wie geht es weiter? Couldry und Mejias wollen nicht nur aufklären und warnen. „Unser Ziel in diesem Buch ist es, das Unbehagen vieler einzelner Menschen am Datenkolonialismus in eine breitere und dauerhafte Bewegung zu verwandeln“, schreiben sie. In der Tat könnte gerade angesichts der „zivilisatorischen Narrative“ das Unbehagen am schnellsten mobilisiert werden, also der Zweifel daran, ob durch Datafizierung wirklich alles bequemer und besser wird. Ist es für mich wirklich so viel bequemer, Musik statt von einer CD oder MP3s über eine Streaming-App zu hören, oder zieht doch Big Data den weitaus größeren Nutzen daraus, mein Hörverhalten zu analysieren und zu normieren?
Im letzten Kapitel von Datenraub führen die Autoren zahlreiche Beispiele und konkrete Praktiken an, um sich dem Datenkolonialismus zu widersetzen. Datenraub als Weiterentwicklung des historischen Kolonialismus zu verstehen macht ein tiefgreifendes Umdenken notwendig, das viele Selbstverständlichkeiten der Gegenwart angreift. In Costs of Connection verweisen Couldry und Mejias auf den Aufsatz „Decolonization is not a metaphor” von Eve Tuck und K. Wayne Yang (2012). Tuck und Yangs Punkt ist, dass Kolonisierung die konkrete Enteignung, Vertreibung und Ermordung einer indigenen Bevölkerung bedeutete; um ihrem Namen gerecht zu werden, muss Dekolonisierung explizit dieses Unrecht und nicht nur aktuelle geopolitische Ausbeutungsverhältnisse angehen. Wäre das überhaupt möglich?
Tuck und Yang spielen in ihrem Text mit dem Wort „unsettling“, das als ‚ent-siedeln‘ übersetzt werden könnte, aber im Alltag das ‚Verstörende‘ bezeichnet. In der Serie Atlanta spielt die Folge „The Big Payback“ (2022) ein solches „unsettling“ durch: Hier werden weiße US-Amerikaner:innen plötzlich zur Rechenschaft für den Profit gezogen, den ihre Vorfahren mit der Sklaverei gemacht haben. Das ist doppelt verstörend, einerseits, weil das spekulative Szenario auf heute undenkbare Weise die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den USA radikal umkehrt, und andererseits, weil in der Wirklichkeit das historische Unrecht eben weiterhin ungesühnt bleibt und nachwirkt. In dieser Wirklichkeit scheint dieses Unrecht insofern unlösbar, weil die Umverteilung eventuell nur andere Unrechtsverhältnisse installieren würde.
Der Punkt ist also, nicht nur zu dem jeweiligen historischen Moment zurückzublicken, an dem jemand von jemand anderem beraubt wurde, sondern auch in die Diskurse, die die Aneignung von Eigentum (oder überhaupt Eigentum als ein politisches und kulturelles Konzept) legitimierten. Heute legitimieren diese Diskurse neue Formen von Ausbeutung und Entrechtung, und heute können wir ihnen etwas entgegensetzen – was vielleicht sogar etwas Hoffnung macht, durch den Widerstand gegen den Datenkolonialismus schließlich in einer Gesellschaft und Kultur anzukommen, die wiederum neue Mittel hat, um das Unrecht des historischen Kolonialismus anzugehen.
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Foto von Hunter Harritt auf Unsplash