Klagenfurtsimulator – Reise in den Wellnessbereich des deutschen Literaturbetriebs

von Paul Jennerjahn

Der Kärnter Landeshauptmann, Klagenfurter und ein Mann des Volkes, zitierte den EM-Spielplan falsch. Im Garten vor dem ORF-Theater wurde seine Rede während der Eröffnung der 48. Tage der deutschsprachigen Literatur am Mittwochabend live auf der Leinwand übertragen. Blaugraue Wolkenballen drängten sich am Himmel, noch drückte die für das Wochenende vorhergesagte Hitze nicht in der Luft. Vorne an der Außenbühne saßen auf Holzstühlen an kleinen Tischchen die 14 Autor*innen, dahinter die interessierte Klagenfurter Öffentlichkeit, noch weiter hinten auf Bierbänken und in Zeltpavillons der Literaturbetrieb.

Vor mir schwenkte der meterlange Kameraarm, der für die Live-Übertragung im Fernsehen Aufnahmen des Publikums im Garten lieferte, schräg hinauf und blieb vor der Leinwand stehen. Oben im Studio sprach Peter Kaiser in die Kameras, und wir mussten im Garten die Hälse recken, um den Landeshauptmann auf der vom Kameraarm verdeckten Leinwand sehen zu können. Die Lösung seien die einzigen spielfreien Tage der Europameisterschaft am Donnerstag, Freitag und Samstag. Falsch, dachte ich, schon am Samstagabend begannen die Achtelfinals, noch während des Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Nach der Auslosung der Lesereihefolge und Ferdinand Schmalz´ Klagenfurter Rede zur Literatur wurden im überdachten Eingangsportal vor dem ORF-Theater Schnittchen und Schiffchen mit Kichererbsensalat aufgetragen, am Getränkestand die Weinschorlen ausgeschenkt, Eiswürfel klackten in den Gläsern. An einem Stehtisch unterhielten sich Lektor*innen aus den Verlagen S. Fischer, Hanser, Penguin, C. Bertelsmann und Suhrkamp. Die Agent*innen saßen zusammen oder standen in Zweiergespräche vertieft im Garten, ebenso die Journalist*innen von der ZEIT, der Süddeutschen Zeitung, vom Deutschlandfunk sowie SWR2. Hier und da mischten sich die Nominierten unter die Fraktionen, auch wir Studierenden. Als es dunkel wurde, war das Klagenfurter Publikum nach Hause gegangen, ohne dass ich es in Gesprächen mit den Literaturbetriebsmenschen um mich herum beobachtet hatte.

Thomas Strässle: Haben Sie den Rhythmus des Textes mitverfolgt, als das vorgelesen wurde?

Philipp Tingler: Ich war anwesend.

Thomas Strässle: Anwesenheit reicht nicht, mitverfolgen muss man auch noch.

Philipp Tingler: Also wollen Sie mir jetzt unterstellen, dass ich nicht imstande bin, den fantastischen, zauberhaften Rhythmus, der dem Ganzen unterschwebt, zu erfassen?

Im Zug nach Klagenfurt hatte ich Ingeborg Bachmanns zweiten Erzählungsband Simultan zu Ende gelesen. Hinter Salzburg legten sich die Gleise an das sprudelnde Band der Salzach, bevor der Zug ins Gasteinertal bog und ich die Homepage der Tage der deutschsprachigen Literatur aufrief. Wir sehen heuer bereits im Vorfeld, ließ sich Organisator Horst L. Ebner zitieren, dass immer mehr literarisch interessierte Menschen ganz ohne berufliche Notwendigkeit nach Klagenfurt kommen wollen. Manche Menschen sagen, dass die Tage der deutschsprachigen Literatur ein idealer Kulturkurzurlaub sind: Lesungen und Diskussionen ab dem Vormittag, am Nachmittag der See und dann Gespräche mit der gesamten Literaturszene am Abend. In der letzten Juniwoche wird die Kärntner Landeshauptstadt tatsächlich zu einer Literaturhauptstadt. Nicht alle Menschen sagten das, nur manche, und alles wurde bloß ein großer Urlaub, in dem man den Wellnessbereich des deutschen Literaturbetriebs besuchte. Du musst den Größenwahn dosieren, dachte ich, damit Bürgermeister Christian Scheider im folgenden Absatz sagen konnte, er freue sich, dass sich Klagenfurt am Wörthersee bereits zum 48. Mal der ganzen Welt als Hauptstadt der Literatur präsentieren darf.

Am frühen Morgen war ich in Bozen in den Zug gestiegen, die anderen reisten aus Köln und Berlin an. Acht Autor*innen, die an einer deutschsprachigen Schreibschule studieren, der Kölner Kunsthochschule für Medien, begeben sich mit ihrer Dozentin, der Schriftstellerin Alina Herbing, auf eine Exkursion zu den Tagen der deutschsprachigen Literatur nach Klagenfurt, so die Versuchsanordnung.

Philipp Tingler: Aber das ist doch nichts Bahnbrechendes, das ist doch nichts, ja, irgendwie… Das kann man auch im Fernsehen sehen.

Mithu Sanyal: Nee, kann ich nicht, also das kann ich nicht im –

Philipp Tingler: (unterbricht) Mach mal den Fernseher an.

Wenn die Lesungen morgens um 10 Uhr begannen, waren alle Liegestühle vor der Leinwand besetzt. Wo niemand saß, reservierten Handtaschen und Halstücher wie an einem Strand die Liegestühle. Während der Lesung von Sarah Elena Müller spannten am Donnerstag bunte Regenschirme über dem vorderen Gartenbereich und einige der transparenten Regencapes waren zu sehen.

In butterfarbenen Filzumhängetaschen mit Bachmann-Konterfeis waren uns Akkreditierten Gimmicks überreicht worden, neben den Regencapes ein Brillenputztuch und ein Deutschlandfunk-Kühlschrankmagnet, Traubenzucker und Kugelschreiber, ein Fächer und Flyer. Ein Heft warb für den Salon Inge, das begleitende städtische Rahmenprogramm, darunter ein Schreibworkshop in The Art of Dream and Memoir Writing. Holen Sie sich frische Impulse für Ihr Schreiben und/oder Ihre Tätigkeit als Trainer:in, Coach, Lehrer:in, Therapeut:in, Mensch, bewarb das Programmheft den Kurs. Auch die Abschlusslesung des Klagenfurter Literaturkurses, traditionell am Mittwochnachmittag vor der Eröffnung der Tage der deutschsprachigen Literatur, empfahl das Heft der Stadtgesellschaft.

In diesem Jahr hatte die Ausschreibung der Literaturwerkstatt für unter 35-jährige Autor*innen besonders spät begonnen, weil die Finanzierung lange unklar war, und zum Bürgermeisterempfang am Donnerstagabend im Schloss Maria Loretto waren zum ersten Mal die Agent*innen nicht eingeladen, auch wir nicht. Sparte der rechtspopulistische Bürgermeister, einst FPÖ-Mitglied und Tennislehrer von Jörg Haider, am möglicherweise linksliberalen Bachmann-Preis, der neurotisch jeden Verdacht zerstreuen musste, möglicherweise selbstreferenzielle elitenkulturelle Echokammer zu sein? In den Gesprächen der Literaturbetriebsmenschen spekulierten wir am Mittwoch und Donnerstag darüber, aber niemand wusste Verlässliches.

Im Garten wurden Zuschauer*innen gebeten, aufzustehen und sich umzusetzen, damit der Kameraarm durch das Publikum schweben konnte. Unterbrachen sich die Jurorinnen und Juroren gegenseitig, schnitt die Regie die beiden beteiligten Köpfe oder alle im Live-Bild auf der Leinwand nebeneinander, wie bei einer Übertragung von Sportwettkämpfen, wenn auf einem anderen Platz ein Tor gefallen oder ein Platzverweis ausgesprochen worden war. Die sieben Kacheln im Bild. Vor den Jurorinnen und Juroren lagen auf ihren weißen Pulten gut sichtbar ihre Requisiten. Vor Philipp Tingler ein Glas Cola Zero mit Zitronenscheibe, am Eröffnungsabend eine Gucci-Sonnenbrille. Mehrere Gläser und ein Tropfenfläschchen aus Braunglas vor Mithu Sanyal, die neben Tingler saß. Eine prall gefüllte rote Mappe vor Brigitte Schwens-Harrant. Klaus Kastberger, als Juryvorsitzender auf dem Mittelplatz, hatte einen Hut vor sich liegen und wechselte teils zwischen zwei Lesungen seine Printshirts. Laura de Weck meistens nur mit einem Wasserglas. Vor Mara Delius, im Hosenanzug und mit einem blauen Fineliner in der Hand, Cola, Cappuccino und Wasser. Vor Thomas Strässle, genau Philipp Tingler gegenüber platziert, nie mehr als ein einzelnes Wasserglas und seine breitrandige Brille vor dem akkuraten Revers seines Sakkos.

Die Jurorinnen und Juroren saßen vor gerafften grauen Stoffbahnen, die schimmerten wie Samt, aus dem man Bühnenvorhänge näht. Das wichtigste Klagenfurter Prinzip, erläuterte Klaus Kastberger am Eröffnungsabend, bestehe in der Etablierung einer möglichst großen Transparenz in der Findung des literarischen Werturteils, dies sei auch deshalb wichtig, weil sich in der Offenlegung solcher Vorgänge der Kulturbetrieb selbst legitimiere. Diese Jury sei anders, sie tage nicht hinter verschlossenen Türen.

Einem Literaturbetrieb, der beginnt, die blinden Flecke seiner Machtstrukturen auszuleuchten, ist Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit der Literatursoziologin Carolin Amlinger fast schon zum Standardwerk geworden. Ästhetische Leistungskriterien, konstatiert Amlinger, lassen sich nicht objektiv festlegen, sie sind Gegenstand und Ausdruck sozialer Verhandlungen und somit nicht nur situativ und zeitlich variabel, sondern auch äußerst fragil. Gehen nun beide Momente der Auszeichnungspraxis – die Latenz der Entscheidungsfindung wie die Unsicherheit ästhetischer Wertung – wie im gegenwärtigen Literaturbetrieb eine Verbindung mit ökonomischen Steuerungsmechanismen ein, befördern sie Deutungsmuster, die eine Verschiebung von der Leistung zum Erfolg andeuten. Tatsächlich zeichnete die Jury mit Tijan Sila, Denis Pfabe und Johanna Sebauer Autor*innen aus, die größtenteils anders als die Mehrheit der Nominierten in großen Publikumsverlagen veröffentlicht haben, teilweise mehrere Bücher.

Philipp Tingler: Die Anerkennung von Doktortiteln hat auch immer etwas mit der Vergleichbarkeit von Qualitätsstufen in der akademischen Ausbildung zu tun.

Mithu Sanyal: Und die Vergleichbarkeit von Qualitätsstufen hat nichts mit Rassismus zu tun?

Philipp Tingler: Ich finde nicht, dass Sie jetzt diese Diskussion –

Mithu Sanyal: Aber du fängst doch diese Diskussion an.

Philipp Tingler: Nein, Mithu Sanyal, Sie fangen damit an, dem Autor bestimmte Lesarten und Interpretationen zu unterstellen.

Mithu Sanyal: Wir alle interpretieren diesen Text.

Philipp Tingler: Sie sagen einfach, das sei so, und ich will nur sagen, das ist das souveräne Recht des Autors und nicht Ihres, zu behaupten, das sei hier ein Manifest gegen irgendwas.

Nach der Lesung von Kaśka Bryla schlenderten Mimi Wulz von der Agentur Elisabeth Ruge und ich über den Parkplatz hinter den Zeltpavillons. Sie war gerne hier, in Frankfurt und Leipzig gehe es zwar auf den Abendveranstaltungen, den Partys auch ums Netzwerken, aber auf den Buchmessen pitche sie Manuskripte bei den Verlagen, das sei ein anderer Fokus als hier.

Dann ist Klagenfurt für dich mehr Betriebsausflug als Arbeit? Quasi Urlaub?

Wenn ich im Urlaub wäre, würde ich anders auf die Texte schauen, ich habe schon die Agentinnenbrille auf. Also ich schaue hier nicht nur, was mir persönlich gefällt, sondern auch, welche Texte sich verkaufen lassen.

Und du warst auch bei der Abschlusslesung des Literaturkurses, auf dem Weg vom Bahnhof zum Hotel habe ich dich im Musilmuseum erspäht.

Beim Häschenkurs (die inoffizielle Bezeichnung für den Literaturkurs für junge Autor*innen) ist das Besondere, dass die Texte, die dort ausliegen, immer schon gedruckt werden, bevor die Tutoriumsgespräche stattfinden. Und manche Stipendiat*innen setzen dann die Kritik der Textgespräche direkt um und lesen einen völlig anderen Text als den auf dem Blatt. Vorgestern zum Beispiel plötzlich eine andere Erzählperspektive. Sollen wir uns kurz unter den Baum da stellen?

Auf dem Parkplatz begann es zu regnen, und wir stellten uns unter einen Ahorn.

Beim Häschenkurs sehe ich dann gut, inwiefern die Autor*innen imstande sind, mit Kritik am Text umzugehen und sie auch umzusetzen.

Und da sprichst du die Stipendiat*innen auch für die Agentur an?

Ja, mit einigen bin ich seit Mittwoch im Gespräch.

Philipp Tingler: Trotzdem gibt es immer noch objektive Kriterien, an denen man festmachen kann, ob ein Text in der Komposition und Ausführung gelungen ist. Das möchte ich hier schon nochmal festhalten.

Mithu Sanyal: Das habe ich ja auch gesagt.

Philipp Tingler: Nicht wirklich.

Mithu Sanyal: Doch, hab ich gesagt.

Philipp Tingler: Du hast gesagt, es gibt keine objektiv guten Texte.

Mara Delius: Aber Sie haben als zweites Kriterium, Mithu Sanyal, doch angeführt, berührt es Sie oder berührt es Sie nicht, das schien so ne Art Parallelkriterium zu sein.

Mithu Sanyal: Genau, ich hab einmal gesagt (gestikulierend), der Text ist in sich konsequent, aber es ist nicht der Text für mich.

Häschenkurs, hatte Mimi Wulz gesagt. Als vorvorletzte Dozentinnentätigkeit fahre ich heute mit meinen Studierenden nach Klagenfurt, hatte Alina Herbing am Mittwochmorgen in ihrer Instagram-Story geschrieben, und es hatte mich kurz an den Autor Daniel Schreiber erinnert, der einmal nach einem Besuch in einem Essayseminar an unserer Hochschule über uns auf Instagram schrieb, wie man eine Hand, an deren Fingern man glänzende Ringe trägt, so beiläufig wie möglich auf einen Tisch legt. Er sei nach Köln gefahren, um in zwei Seminaren übers Schreiben zu reden. Die Studierenden waren so süß.

Alina Herbing verlinkte am Mittwochmorgen vor Klagenfurt unsere Instagram-Profile. Der Literaturbetrieb wusste, an was für einer Hochschule sie unterrichtete, und er verfolgte ihren Content, in dem unsere Namen auftauchten. Der Literaturbetrieb waren Agent*innen der Literaturagenturen Graf & Graf und Gaeb & Eggers, die wir auf einer anderen Exkursion nach Berlin persönlich kennengelernt hatten, der Literaturbetrieb war die Lektorin von S. Fischer, die sich im Strandbad Loretto zu uns an den Steg setzte. In der Ferne schwankten sacht die an Bojen vertäuten Segeljollen auf dem Wörthersee. Du bist hier nicht der teilnahmslose Literaturbetriebsbeobachter, dachte ich und nippte an meinem Aperol Spritz. Vereinzelt erkannte ich weitere Lektoren, aber nirgendwo plauderte der Literaturbetrieb auf den Liegewiesen oder am See in größeren Gruppen zusammen.

Thomas Strässle: Dieser Umschlag wurde mir psychologisch nicht bis ins Letzte nachvollziehbar.

Philipp Tingler: Das wird gleich von mir jetzt erklärt. (Streckt die Arme aus, die Handflächen deuten nach oben.) Es hat mit Ambivalenz zu tun, stellen Sie sich vor.

Klaus Kastberger klapperte mit flachen Händen auf seinem Jurypult, seine Kolleginnen und Kollegen sollten sich setzen.

Noch dreißig Sekunden, rief der ORF-Aufnahmeleiter durch das Studio, dann sind wir wieder live.

Ich schob die Knie zur Seite, damit ein älterer Herr noch zum letzten freien Platz der Reihe an mir vorbeikam. Ans Lesepult trat Tijan Sila, Moderator Peter Fässlacher hob seinen Daumen, die Lesung begann. Wie Tiere, die sich an eine Beute heranpirschten, regten sich die drei beweglichen Kameras, schwenkten seitlich oder wurden von den Kameramännern höhergezogen, auf den Rollengestellen zeitlupenhaft durch das Studio geschoben. Zentral zwischen den sieben Jurypulten befanden sich die acht fest installierten, vertikal schwenkbaren Kameras, deren Linsen auf die Jurorinnen und Juroren sowie das Lesepult gerichtet waren. Unter der Decke die grellen Scheinwerfer.

Wie bei Jurczok fiel in Tijan Silas Autofiktion die Vergangenheit einer Fluchtgeschichte erheblich einer Gegenwart ins Wort, in der Sohn und Eltern um eine gemeinsame Sprache rangen. Anschließend nahm Christine Koschmieder im Studio Platz. Eine Maskenbildnerin puderte den Jurorinnen und Juroren Stirn und Nasenrücken nach, jemand füllte ihre Wassergläser auf, während Koschmieders Porträtvideo lief.

Am Samstag vor den Tagen der deutschsprachigen Literatur hatte der Spiegel einen Artikel veröffentlicht, der den Bachmann-Preis im Titel als Germany´s Next Topliterat bezeichnete und den Nominierten die Bereitschaft, die vorgegebenen Formate der Selbstpräsentationen auszufüllen, attestierte. Christine Koschmieder schwieg, sekundenlang. Dann erzählte sie in ihrem dreiminütigen Video die Geschichte von Edelgard Stössel, einer Fernsehsprecherin, die 1965 wegen eines zu kurzen Rocks bei einer privat besuchten Karnevalsfeier entlassen wurde und anschließend vor der Kamera eines Magazins beispielhaft patriarchal sanktionierte Gesten wie das öffentliche Zerreißen schriftlicher Heiratsanträge nachstellte.

Auch dies eine Inszenierung der Schriftstellerin Christine Koschmieder, aber der Verweigerungshabitus wirkte nicht posiert. Zudem hatte Koschmieder die Tage der deutschsprachigen Literatur im Vorfeld abgeklopft. Unter dem Hashtag #abgeklopft hatten alle Nominierten für das Instagram-Profil des Bachmann-Preises eine Auswahl von Fragen in Text und Bild zu beantworten, etwa ihre mentale Verfassung VOR und NACH dem Wettbewerb. Christine Koschmieder stellte nun in einem Post Gegenfragen. Wem ist hier welche Aufgabe zugedacht: sollen wir den Content des Bachmann-Accounts verbreiten oder wollt Ihr uns Autor*innen Aufmerksamkeit verschaffen? Am Ende ihres Videos fiel der Name Tijan Sila, und der dramaturgische Bogen des ersten Lesetages spannte sich weiter, unbeabsichtigt, denn die Lesereihenfolge war gelost worden. Bachmann und der Zufall, dachte ich im Studio und schrieb ins Notizbuch.

Klaus Kastberger: Wenn Sie mich einmal ausreden lassen würden –

Philipp Tingler: (unterbricht) Das ist einfach grotesk.

Klaus Kastberger: Die akademische Literaturwissenschaft hat angesichts solcher Texte, die das Publikum und Teile des Publikums so unmittelbar erwischen, ein ganz anderes Problem, nämlich die Frage, brauchts (vehement) überhaupt noch die akademische Erklärung? Brauchts überhaupt noch die Interpretation?

Der Garten applaudierte Denis Pfabe, als ich Johanna Sebauer, die auf einer der Bierbänke wie bei fast allen Lesungen neben ihrer Partnerin saß, auf die Schulter tippte, ob wir gleich sprechen wollten. Sie nickte, und rechtzeitig vor dem Ansturm in der Mittagspause bestellte ich in der Caféteria im Erdgeschoss des ORF-Theaters Cappuccino, mit dem wir zum Lendhafen gingen. Das gleißende Dreizehnuhrlicht. Wir kannten uns aus Hamburg, hatten einmal gemeinsam auf einer Bühne gesessen, auf der Johanna eine Erzählung und ich Gedichte gelesen hatte. Am Lendkanal setzten wir uns auf eine Bank, und Johanna erzählte von den Stimmungsschwankungen, wenn man die anderen lesen hörte und selbst erst morgen an der Reihe war.

Weißt du, es ist wie vor einer Abschlussprüfung, wenn du denkst, was hast du jetzt gelernt?

Ob man das Richtige gelernt hat.

Ja, und du willst es jetzt rauslassen, zeigen, was du gelernt hast.

Was hast du gelernt? Wie bereitest du dich auf deine Lesung vor?

Ich hab meinen Text Montag zuletzt gelesen und hatte ein gutes Gefühl, jetzt fass ich ihn, glaub ich, nicht mehr an. Morgen früh werd ich eine halbe Stunde am Lendkanal joggen gehen, dann ist man schonmal ein bisserl Adrenalin los. Und ich werde, glaub ich, einfach ein weißes T-Shirt anziehen. Ein schwarzes hab ich nicht, da würde man die Schweißflecken noch weniger sehen. Die Haare werd ich einfach offen lassen, ich will mich auch gar nicht so sehr damit beschäftigen, wie ich aussehe.

Am Lendkanalufer skizzierte die Mittagssonne neben unseren Füßen scharfe Schattenkanten in den Sand, wir saßen unter Bäumen. Eine Radfahrerin rollte hinter uns vorbei. Es sei verrückt, worüber man sich Gedanken mache. An welchen Textstellen man aus dem Wasserglas trinken könne, auf welcher Art von Stuhl man sitzen wolle, ob man stehen wolle, während man las. Das Miteinander der Autorinnen und Autoren sei freundschaftlich, morgens beim Frühstück klagten sich immer alle gegenseitig ihr Leid, Johanna musste lachen.

Ihr seid alle im gleichen Hotel untergebracht?

Und die Jury auch.

Was? Im gleichen Hotel wie ihr?

Das ist wie auf Klassenfahrt, es gibt im Frühstücksraum die Lehrertische, da sitzt die Jury, und andere Tische, an denen wir Autorinnen und Autoren sitzen.

Redet man miteinander? Ihr mit der Jury?

Nicht ein Wort. Heute morgen im Hotel läuft eine Jurorin in der Lobby an mir vorbei und sagt kein Wort.

Auch in diesem Jahr hatte die Homepage der Tage der deutschsprachigen Literatur alle Autor*innen angesprochen, sich mit der Empfehlung eines Verlags oder einer Literaturzeitschrift und einem fünfundzwanzigminütigen Text bis Ende Februar zu bewerben, und die Einsendungsadressen aller sieben Juror*innen veröffentlicht.

Deshalb muss man schon sagen, meinte Johanna, du schreibst dir dann die Teilnahme am Bachmann-Preis in die Vita, aber eigentlich gibt es nur einen einzigen, der dich gut fand und nominiert hat.

Hinten am Ende des Lendkanals hatte mittlerweile die Live-Übertragung der Nachmittagslesungen begonnen. Aus den Lautsprechern in einiger Entfernung wispernd Olivia Wenzels Stimme. In kurzen Hosen versanken vor einer Leinwand junge Männer und Frauen tief in ihren Liegestühlen.

Bei aller Kritik, das ist schon besonders an Bachmann, glaub ich, dass das da hinten Leute erreicht, die mit dem Betrieb ansonsten vermutlich nichts zu tun haben.

Dann liefen wir zurück zum ORF-Theater in die Sponheimer Straße.

Philipp Tingler: Ja, ich hab brav gewartet, ich will auch gar nicht viel sagen, nur darauf hinweisen, was Brigitte vorhin gesagt hat, es gibt keine Individuen in diesem Text, und das ist wahrscheinlich das Problem, das ich mit diesem Text habe. Für mich ist das Individuum der Anfang von Literatur.

Laura de Weck: Für mich geht es gerade darum, dass es eben nicht um Identitäten, sondern um Individuen geht.

Philipp Tingler: Ja, das kannst du hier so postulieren, du musst es halt irgendwie auch ein bisschen plausibel machen an dem, was wir vor uns haben.

Laura de Weck: Ja, zum Beispiel daran, dass es eben diese Wir-Gemeinschaft gibt.

Philipp Tingler: Das Wir ist kein Individuum, das ist ein Kollektiv.

Laura de Weck: Ja, und daraus löst sich die eine Person (schweigt, Texthänger).

Philipp Tingler: (schweigt, Texthänger).

Mara Delius: (schweigt, Texthänger).

Olivia Wenzel unterbrach die Diskussion der Jury nach ihrer Lesung wie eine Souffleuse eine Stille, in der ein ganzes Ensemble auf der Bühne seinen Text vergessen hatte. Die Erzählung Hochleistung, Baby hatte die Jury polarisiert. Mara Delius warf dem Text vor, er sei ein Thesenstück, bei dem auf der Ebene der Sprache nicht viel passiere, obwohl der Text mit Tempus- und Moduswechseln zum Konjunktiv bei bestimmten wörtlichen Redewiedergaben arbeitet, mit gegenrealistischen Behauptungen und unzuverlässigem Erzählen, mit Mehrsprachigkeit und komplexen Figuren. Philipp Tingler kritisierte den Text für ein modernes Verständnis von Identität, das sich ableite aus Zugehörigkeiten, dabei werden die Figuren gerade mit den Zuschreibungen und Fiktionen essenzialistischer Identität konfrontiert. Ein Schwarzer ehemaliger Fußballprofi lehnt es in Hochleistung, Baby ab, größeren Druck als seine Weißen Mitspieler bescheinigt zu bekommen, und die Schwarze Ich-Erzählerin registriert, wie vermutlich auch der von ihr interviewte Fußballer davon ausgeht, das hellhäutige Kind auf meinem Arm vorgestern sei nicht meins gewesen. Mithu Sanyal und Laura de Weck hingegen lobten den Text einschränkungslos, ohne nennenswert seine ästhetischen Strategien zu analysieren.

Nur mal kurz, setzte Olivia Wenzel an, weil es geht so viel gegeneinander, und dann geht es weg vom Text.

Sie betonte den Traum, in den die projizierenden Wahrnehmungen der Ich-Erzählerin glitten, den allerdings Thomas Strässle und Mithu Sanyal benannt hatten, und wollte von Mara Delius wissen, was am Bild des baumelnden Glieds eines nackt seinen Newsfeed checkenden Mannes konservativ sein sollte. Eine Intervention der Lesenden hatte ich in den Übertragungen der letzten Jahre noch nie gesehen. Unter uns Studierenden und bei anderen, mit denen ich Samstag-Nachmittag sprach, galt Olivia Wenzel fortan als Kandidatin für den Publikumspreis.

Mara Delius: Ja, erstmal vielen Dank, dass Sie sich direkt in die Diskussion einmischen, das finde ich total gut und bereichernd.

Ein zweites Mal durchbrach die vierte Wand am Samstag während der letzten Lesung Tamara Stajner, die zu weinen begann. In einer kurz eingeblendeten Einstellung war im Garten zu sehen, wie Peter Fässlacher sich im Studio der schluchzenden Autorin näherte, bevor sie ihren Text doch noch zu Ende las. Am Nachmittag fuhren wir mit unseren Leihrädern zum Grab Ingeborg Bachmanns, danach zum Baden an den See, diskutierten bei Pommes die Favorit*innen.

Justiziar Andreas Sourij: Naja, es ist ja so, dass aufgrund der Punkteanzahl es hier zu einer Stichwahl zwischen Miedya Mahmod, Johanna Sebauer und –

Peter Fässlacher: (unterbricht) Wir wollen ja die Autorinnen und Autoren einzeln kurz aufrufen.

Justiziar Andreas Sourij: Richtig, richtig.

Die meisten Auswärtigen waren bereits nach der letzten Lesung am Samstag abgereist, kaum eine Agentin, kaum ein Lektor harrte am Sonntagvormittag noch auf den Bierbänken vor dem ORF-Theater aus. Auch wir rollten noch während der Preisverleihung unsere Koffer aus dem Garten und zogen zum Bahnhof, mussten den Zug nach Salzburg erwischen, und du musst schreiben, endlich, Montagabend ist Abgabe. Am Münchner Hauptbahnhof meldete ein Nachrichtenscreen auf über zwei Quadratmetern Tijan Silas Gewinn des Ingeborg-Bachmann-Preises. Als wir einstiegen in den ICE nach Köln, führte die Slowakei 1:0 gegen England.


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Foto von Sebastian Kuss

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