Kategorie: Rezensionen

Ein bequemer Selbstbetrug – Über Marie Luise Knotts „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“

von Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi

Der Alltagsdiskurs und die mediale Öffentlichkeit der Bundesrepublik haben ein anhaltendes Problem: Sie übersehen die Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland und delegitimieren ihre Stimmen. Trotz der langen Geschichte des antikolonialen und antirassistischen Aktivismus von Schwarzen Menschen in Deutschland, wie May Ayim oder Katharina Oguntoye in den 1990ern und Natasha A. Kelly, Sharon Dodua Otoo oder Jasmina Kuhnke heutzutage, ändert sich dieser Missstand nur unter deren großer Anstrengung und schleppend. Statt ins eigene Land geht der weiße Blick nämlich meist in die USA. Jeanette Oholi will diesem Ungleichgewicht mit ihrer Forschung entgegenwirken, sie bringt das Problem auf den Punkt: „Allzu oft wandert der Blick in die Vereinigten Staaten, wenn es um Schwarze Identitäten, Rassismus, Polizeigewalt und Befreiungskämpfe geht.“ 

Die Gründe dafür, dass Schwarzsein in Deutschland weiterhin automatisch als vermeintlich fremd gelesen wird, sind vielfältig. Schon Oholis Formulierung suggeriert, dass es der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft willkommen ist, sich mit dem Rassismus der anderen zu beschäftigen, statt mit dem eigenen. Dieser bequeme Selbstbetrug ist kaum zu leugnen, hilft er doch auch, die koloniale Vergangenheit Deutschlands zu vertuschen. Der Zusammenhang steht darüber hinaus in einer verzwickten transatlantischen Tradition – die wenig beachtet wird. Es ist eine Geschichte, die um Schwarze US-amerikanische Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder James Baldwin nicht herumkommt. Sie hatten das prä- bzw. post-nationalsozialistische deutschsprachige Europa im Kontrast zu den USA der Post-Slavery-Era als positiv in ihrem Umgang mit Schwarzen dargestellt: Eine Darstellung, die statt in ihrer strategischen Natur erkannt zu werden, gern als deutscher Ausweis für Antirassismus missverstanden wird – dazu schrieben zuletzt essayistisch Ellwood Wiggins und Gianna Zocco. Zu dieser historischen Verwicklung gehört auch die kulturelle Aneignung Schwarzer US-amerikanischer Kultur von Jazz über Soul bis Hip Hop, deren subversive Ursprungskontexte für weiße Deutsche wahlweise ganz profane Neuerungen der Unterhaltungskultur mit sich brachten, die Fetischisierung Schwarzer Körper bedeuteten und/oder klein- bis großbürgerlichen Jugendlichen zu Abgrenzungsstrategien gegenüber ihrem Elternhaus oder dessen Geschichte verhalfen – längere Studien haben dazu Priscilla Layne mit „White Rebels in Black” und Moritz Ege mit „Schwarz werden” publiziert. 

Zu dieser transatlantischen Geschichte gehören auch die Geflüchteten vor dem nationalsozialistischen Regime, jüdische Emigrant*innen in die USA, die sich, durch ihre eigenen Erfahrungen sensibilisiert, selbst mit Interventionen in das neue Land einbrachten. Eine dieser Exilant*innen ist Hannah Arendt: die transatlantische Denkerin gegen den Totalitarismus, die intellektuelle Ikone der Linken, die leider nicht als Poster Child für Antirassismus taugt. Der Grund dafür ist unter anderem ihr Essay „Reflections on Little Rock“ (1958), in dem sie sich zwar in einem nachträglich hinzugefügten Vorwort als Jüdin mit Schwarzen Interessen solidarisiert, im eigentlichen Text aber gegen die Desegregierung von US-amerikanischen Schulen ausspricht – und das sehr öffentlichkeitswirksam. Angesichts des Einsatzes der Nationalgarde zum Schutz der Schwarzen Schüler*innen hatten die Ereignisse um Little Rock nationale Aufmerksamkeit erlangt und tragen für die USA bis heute historisches Gewicht. Der Text ist beileibe kein Ausrutscher: Auch ihr imperialismuskritisch intendiertes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) reproduziert passagenweise den kolonisatorischen Blick. Im zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Macht und Gewalt“ polemisiert sie im Rahmen der Forderung für eine grundlegende Reform der Universität gegen Affirmative Actions zugunsten Schwarzer Studienanwärter*innen („Aufnahme unqualifizierter Studenten“) und gegen die Einrichtung von Seminaren aus dem Rahmen der Black Studies („blödsinnige[] Kurse“).

Diese Rassismen in Hannah Arendts Werk sollten eigentlich nicht unbekannt sein: Seit Kathryn T. Gines 2014 ihre Monografie zu dem Thema publizierte, gab es wiederholt Veröffentlichungen dazu. Mitunter wird die Debatte aufbereitet für eine breitere Öffentlichkeit geführt, etwa in einem langen Gespräch von René Aguigah mit Iris Därmann im Deutschlandfunk Kultur. Zu Gines’ Buch liegt allerdings bis heute keine deutsche Übersetzung vor. Es scheint, als sei Hannah Arendts Status als Säulenheilige kaum angetastet. Wie sähe aber eine zugleich wirksame und faire Annäherung aus?

Marie Luise Knott, die selbst vielfach und prominent zu Hannah Arendt publiziert hat, gibt ihren Leser*innen ein knappes Buch mit „17 Hinweisen“ zu diesem Komplex an die Hand (370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison). Ausgangspunkt ist die kritische Reaktion des Schwarzen Schriftstellers Ralph Waldo Ellison auf Arendts Little-Rock-Essay. Er äußerte sich dazu einige Jahre nach dessen Veröffentlichung 1965 in einem Interview. Hannah Arendt zeigte sich nach der Lektüre dieses Interviews einsichtig und schrieb einen Brief – und es folgte nichts. Es gibt keine Antwort bei Arendt, keinen Entwurf dazu in Ellisons Nachlass, nicht mal Lesespuren lassen sich in Arendts Exemplaren seiner Bücher ausmachen. Was auf den ersten Blick nach einer archivarischen Sackgasse aussieht, ist für Knott der Ort, um weitere Wege zu ertasten, die eigene Position zu justieren und Hannah Arendt geschichtlich versiert sowie unter Einbezug der problematischen Äußerungen neu zu platzieren – in einem angemessenen Ton.

Trotz der Ausgangslage ist Knott nämlich nie verbissen: Das lose Strukturprinzip der in sich runden Hinweise ermöglicht eine sensible Betrachtung einzelner Ereignisse, Figuren, Texte und ihrer Beziehungen zueinander. So wird ein Vergleich der Assimilationsversuche in die Mehrheitsgesellschaft als Thema in Ralph Ellisons Roman Der Unsichtbare und in Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen diskontinuierlich, teils elliptisch über mehrere Abschnitte hinweg erzählt. Mit derselben Leichtigkeit flicht Knott thesenhafte Sentenzen über die verschiedenen Materialien, Vorgänge und Institutionen ein: „Jedes Lesen ist ein Gespräch“, „Essays sind Exkursionen“, „Briefe wie Träume sind aufgeschobene Begegnungen“. Sie helfen dabei, entsprechende Rezeptionsmodi anzudeuten und sind zugleich ein charakteristisches Element für Knotts genuin essayistischen und zugleich erkenntnisfördernden Stil.

Knott rollt Wesentliches auf, indem sie nebensächlichen Details eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das passiert schon im Titel: 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. So lauteten die Adressen von Hannah Arendt und Ralph Ellison. Sie lebten „einen Zahlendreher entfernt“ und doch wohnte sie „im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance“. Die Hervorhebung der Adressen deutet an, dass sich diese Gruppen scheinbar ähneln, nämlich durch den Fakt ihrer Marginalisierung, um zugleich klarzustellen, dass sie sehr unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetzt waren, nämlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Rassismus gegen Schwarze in den USA.

Knott skizziert somit das Grunddilemma, das Michael Rothberg mit dem Begriff multidirektionales Erinnern benannt hat und in das sie später auch Hannah Arendts zweifelhafte Intervention über Little Rock einbettet:

„Da Schwarze wie Juden jeweils verfolgte Minderheiten waren, trug die Parallele bis zu einem gewissen Grad; doch die Ausgangslage war eben doch grundverschieden. Hannah Arendt ließ außer Acht, dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen konnte. Es gab Parallelen, doch die Juden in Europa hatten keine Sklavengeschichte. Und bei aller Diskriminierung, ja Verfolgung hatte schon die Generation von Arendts Großvater die Möglichkeit gehabt, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Und Arendt selbst hat nie um ihr Abitur bangen müssen, weil sie eine Jüdin war.“

Explizit rekurriert Knott zwar lediglich auf die angeheizte Debatte um das multidirektionale Erinnern in Deutschland, eigentlich steht aber ihr ganzes Buch Exempel dafür, wie produktiv und angemessen das Konzept sein kann, wenn es gewissenhaft zum Tragen kommt. Immerhin erzählt sie im Sinne des multidirektionalen Erinnerns unterschiedliche Unterdrückungsgeschichten in ihren Berührungspunkten. Sie komponiert an ihnen entlang eine ambivalente Erzählung, die vor allem der impliziten Zielgruppe, einem weißen, deutschsprachigen Publikum, wahrscheinlich kaum bekannt ist: Die der jüdisch-Schwarzen Solidaritäten und Fallstricke in den USA – und im selben Zuge die eben nur halbvertraute Geschichte von US-amerikanischem anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Widerstand. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Chronologie, die Knott behauptet, wenn sie von Rassismus als einem „Produkt der Sklaverei” schreibt, das ein „gewalttätiges Konstrukt zur Aufrechterhaltung von white supremacy” sei, die Tatsachen stark verzerrt – auch zugunsten von Nationen, die nicht in die US-amerikanische Sklavereigeschichte verwickelt waren. Zudem wurde Martin Luther King Jr. natürlich nicht in Chicago, wie im vorliegenden Buch angegeben, sondern in Memphis erschossen. Diese Irrtümer tangieren kaum den Eindruck der ansonsten sorgsamen Auswahl von Schauplätzen, der sensiblen Darstellungen der Zusammenhänge und der kenntnisreichen Einbettung von Hannah Arendts eigener Gedanken sowie deren Entwicklung.

Da war zum Beispiel Barney Josephson, ein Sohn lettischer jüdischer Emigranten, der 1938 den ersten desegregierten Jazzclub in New York gründete. „Erschrocken“ habe er zuvor miterlebt, „wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen.“ Knott erwähnt auch die Autorschaft von „Strange Fruit“, einem eindringlichen lyrischen Text über ein Lynching in den US-amerikanischen Südstaaten. Bekannt wurde er durch die Interpretation Billie Hollidays 1939, geschrieben hatte ihn Abel Meeropol, dessen Eltern aus Osteuropa in die USA emigriert waren. Diese Geschichten der Solidarisierung reichen weit bis in das Civil Rights Movement hinein. Sie scheinen im US-amerikanischen Kontext logisch, so erwähnt Knott: „Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft.“

Zugleich wird ersichtlich, dass die vielzähligen Allianzen doch eine langwierige und nachhaltige Institutionalisierung vermissen ließen – zumal der prekäre Status von Jüd*innen in den USA insbesondere bis in die 1950er Jahre vergleichsweise schnell abnahm und ihnen viele weiße Privilegien zugestanden wurden. Der gemeinsame Kampf gegen Marginalisierung vereinzelte sich damit. Jüd*innen wurden Teil der Mehrheitsgesellschaft, aus der „niemand von höchster Stelle aus die Schwarzen und die Indigenen um Verzeihung bat“. „Niemand initiierte so etwas wie eine Aufarbeitungskommission“, weder der antirassistische gesellschaftliche Wandel, noch die gleichen Rechte für Schwarze seien effektiv durchgesetzt worden. So blieb die Distanz zwischen (jüdischen) Weißen und Schwarzen bestehen. Man „ahnt die Ferne zwischen den Kulturen und auch die Bemühungen vieler Weißer, diese Ferne zu erhalten. Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte.“

Historische Texte und Texte aus anderen Kulturen stellen für Knott auch die Möglichkeit dar, „die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren“. Der Little-Rock-Essay ermöglichte und ermöglicht Knott die Rolle der Privatsphäre für Hannah Arendt zu erkunden: „Folgt man für einen Moment der Argumentation aus ‚Little Rock‘, so fällt auf, in welch uns ungewohntem Maße Hannah Arendt dort die Privatsphäre verteidigt.“ Was hier greift, ist Hannah Arendts Aufteilung in die politische, gesellschaftliche und private Sphäre, wie sie sie ausführlich in Vita Activa (1958, dt. 1960) vornimmt. Diese bemerkenswert konsequente Trennung habe Knott schon in den 80er Jahren, als sie sich das erste Mal mit dem Essay beschäftigte, fasziniert – so sehr, dass sie sich gegen ihre damaligen Verlagskolleg*innen durchsetzte und eine Aufnahme des Texts in einen Essayband bewirkte – gegen die Einwürfe, dass Arendt das N*-Wort benutze[1] und gegen eigene Bedenken der politischen Implikationen: „Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.“

Die neue Auseinandersetzung mit dem Essay steht in Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Diskurs, der, wie eingangs angedeutet, eine ausgeprägte Sensibilisierung für Rassismus zunehmend einfordert, und er ist im Kontext zu betrachten mit einem umfangreichen Zugang zu historischen Erkenntnissen und Quellen. Marie Luise Knott nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um eine einflussreiche Denkerin behutsam zu hinterfragen. Zum Teil stolpert sie dabei über den eigenen Unwillen: „Man spürt hier, was man vielleicht nicht hören will.“ Wenn Hannah Arendt über Affirmative Actions als „Rassismus mit anderen Vorzeichen“ schreibt, kommentiert Knott verblüfft: „Diese Stelle hat es in sich.“ Und sie fragt sich zögerlich, aber unnachgiebig bis an die unangenehmsten Aussagen Arendts vor: „Was ist hier gemeint? Steht da wirklich, verkürzt gesagt, dass die Weißen die riots provozieren, indem sie sich kollektivschuldig bekennen?“

Was Marie Luise Knott vorlegt, ist eine umsichtige wie strenge, mit anderen Worten, eine faire Auseinandersetzung mit einer ganz offenbar von ihr bewunderten Denkerin. Gerade die unverhohlene Wertschätzung für Arendt verspricht zudem, wirksam zu sein: Die Erzählinstanz mit ihrer Bereitschaft, zu einer Rassismuskritik anzusetzen und sich den mitunter unbequemen Folgen zu stellen, bietet auch eingefleischten Arendt-Fans Identifikationspotenzial. Dieser Blick in die USA tut der eingangs beschriebenen Dynamik der selbstgerechten Ablenkungsmanöver sicher keinen unmittelbaren Abbruch. Die Form der Aufarbeitung ist jedoch hilfreich, um die transatlantisch verstrickte Geschichte von Rassismen sichtbar zu machen, die Knott zudem im Wissen um die Fallstricke und Möglichkeiten des multidirektionalen Erinnerns erzählt. Die Veröffentlichung sensibilisiert dafür, dass Querbezüge zwischen marginalisierten Gruppen und in verschiedenen historischen Kontexten heikel sind, sodass selbst gut gemeinte Solidaritätsbekundungen oft – auch bei großen Denkerinnen – ziemlich ungelenk ausfallen. Zurecht wurden Autorin und Buch zuletzt mit dem Tractatus-Preis geehrt.


[1] Als interessanten Nebenschauplatz wollen wir darauf verweisen, dass das englische Original tatsächlich das Wort “Negro” benutzt. Die Verlagsdiskussion hat sich also offenbar auch aufgrund der deutschsprachigen Übersetzung von Eike Geisel verschärft. Zur Übersetzbarkeit der N-Wörter empfehlen wir dieses Gespräch zwischen der Juristin, Kabarettistin und Kolumnistin Michaela Dudley und der Übersetzerin Mirjam Nuenning.

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„The Bear“: Eine verschwitzte Ode an die Gastronomie

von Leonard Schulz

Wenn man die aktuellen Produktionen der Serienlandschaft als Spiegel dessen betrachtet, was die Gesellschaft beschäftigt, dann zeigt die Arthouse-Serie „The Bear: King of Kitchen“, dass sich die Kulinarik als popkulturelles Trope auf einem neuen Höhepunkt befindet. Und dass sich ihre Darstellung gewandelt hat: Es geht nun nicht mehr bloß um die maximale Ästhetik von minimalistisch designten Gasträumen und aufwendig dekorierten Gerichten, sondern auch um die Arbeit dahinter: Blood, Sweat and Tears im Eifer des Küchengefechts.

Doch erstmal von vorne: die FX-Produktion „The Bear“ sorgte bereits vor Erscheinen für Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt an dem perfekt sitzenden weißen T-Shirt des Hauptdarstellers Jeremy Allen White lag (sogar der Guardian berichtete über das Shirt der schwäbischen Textilmanufaktur Merz b. Schwanen). Als die Serie dann im Sommer in den USA herauskam, erhielt sie überdurchschnittlich gute Kritiken. Die Food-Szene Europas musste sich bis zum 5. Oktober gedulden, dann gab es auch hier durchweg positive Kritiken. Auf Rotten Tomatoes erreicht „The Bear“ sogar eine Bewertung von 100%.

Die Serie dreht sich um das Chicagoer Lokal „The Original Beef of Chicagoland“, das vor allem für seine italienisch angehauchten Sandwiches mit lange gegartem Rindfleisch bekannt ist. Es ist ein Nachbarschafts-Restaurant, das über die Jahre zwar einen gewissen Kultstatus erlangt hat, doch eigentlich nicht dem Niveau des jungen Sternekochs Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) entspricht. Der ist hier nur Chefkoch, weil sein Bruder ihm das „Beef“ vermacht hat, bevor er zwei Monate vor dem Einsetzen der Erzählung Selbstmord begangen hat. Im Verlauf der acht rund dreißigminütigen Folgen geht es auf sensible Weise um den Umgang mit der Trauer, der Leere und die emotionale Starre, die der Suizid Michael „Mikey“ Berzattos in Carmy und den Angestellten des „Beef“ ausgelöst hat.

Seinen eigenen kulinarischen Anspruch muss Carmy zunächst erstmal runterschrauben, denn er will keines der bestehenden Crew-Mitglieder feuern und den Charakter des „Beef“ so gut wie möglich erhalten. Bald stolpert Sidney (Ayo Edibiri) ins „Beef“ und sucht eine Anstellung. Sie kommt ebenfalls aus dem Fine-Dining und wittert die Chance, an der Seite von Carmy Verantwortung als Sous-Chefin zu übernehmen. Doch im „Beef“ läuft es anders ab als in den Sterneküchen. Hier geht es um das reine Überleben: Lieferant:innen-Rechnungen bezahlen, (wortwörtliche) Brände löschen, sich mit Kleinkriminellen aus dem Block auseinandersetzen.

Zu allem Übel kommt noch hinzu, dass Carmys verstorbener Bruder einen Berg an Schulden bei einem Investor, der ein Bekannter der Familie ist, angehäuft hat, den es nun abzuzahlen gilt. Dazu muss Carmy auch mal mit dem besten Freund seines Bruders Richard (Ebon Moss-Bachrach), genannt Cousin, auf der Geburtstagsfeier des Investor-Sohnes Hot Dogs servieren. Mit Richard führt er eine Art Hassliebe, er war der Defacto-Manager des „Beef“ und steht, wie auch der Rest des Teams, Carmys Fine-Dining-Chichi skeptisch gegenüber.

Gemeinsam mit Sidney versucht Carmy Struktur in das Lokal zu bringen. Eine der eindrücklichsten Maßnahmen ist das Gebot des permanenten verbalen Kommunizierens: jede Frage muss jede:r Arbeiter:in mit einem lauten „Yes, Chef“ beantworten, bevor man mit etwas Schwerem oder Heißem um die Ecke geht, muss man laut „Corner!“ rufen (was natürlich nicht immer reibungslos klappt). Die klare Hierarchie der Küche mag auf den ersten Blick rigide und überholt wirken, doch sobald der Service beginnt, versteht man, weshalb es klare Zuständigkeiten braucht. Im Ausnahmezustand des laufenden Restaurantbetriebs muss jeder Arbeitsschritt perfekt sitzen. Vielleicht kein Film oder keine Serie hat bisher diese angespannte Atmosphäre so detailgetreu abgebildet.

„The Bear“ funktioniert als eine Art Kammerspiel, das sich fast ausschließlich auf den knapp bemessenen Quadratmetern der Küche abspielt. Die Kamera ist extrem nah am Geschehen. Das wirkt manchmal fast übertrieben, doch es fängt die Enge und die hitzige Atmosphäre einer Profi-Küche ein, als ob man eine sehr fein beobachtete Doku schauen würde. Bisweilen lösen die extrem elegant durchchoreographierten Kamerasequenzen sogar ein regelrechtes Gefühl der Beklemmung aus: Wann wird sich wohl jemand schneiden oder verbrennen, wann platzt Sidney der Kragen? Eine solche Intensität ist selten zu sehen, sie erinnert an das Safdie-Brothers-Meisterwerk Uncut Gems. Der Rolling Stone titelte: ”‘The Bear’ Is the Most Stressful Thing on TV Right Now. It’s also great“.

Episode 7 namens “The Review” treibt dieses Spiel auf die Spitze: sie besteht aus einem 20-minütigen One-Shot. Circa vier oder fünf Mal soll das Ensemble die Sequenz gedreht haben. In einem Interview mit “Indiewire” sagte Hauptdarsteller White, dass One-Shots in vielen Fällen bloß ein Mittel sein, um Eindruck zu schinden. Nicht in ihrem Fall: „But I think in our case, it really lends itself to the story“. Das Argument lässt sich gut nachvollziehen. Im deutschen Indie-One-Shot-Wunder Victoria etwa fragte man sich trotz aller Bewunderung für den cineastischen Innovationsgeist an mancher Stelle, wie genau der One-Take-Modus dramaturgisch begründet ist. Anders bei “The Bear”: hier erzeugen die zwanzig Minuten Schnittlosigkeit eine sich immer weiter hochschaukelnde Anspannung (selbst wenn man gar nicht unbedingt wahrnimmt, dass nicht geschnitten wird).

“The Bear” hat den Anspruch, ein möglichst genaues und – Achtung, Unwort – authentisches Bild der Welten zu zeichnen, die es behandelt. Dazu werden einige geschickte Spielereien auf der Meta-Ebene genutzt: der kanadische Celebrity-Koch und Internetphänomen Matthy Mattheson hat eine Cameo-Rolle. Jedoch kocht er nicht, sondern repariert. Er ist der Handwerker des „Beef“, der gerufen wird, wenn etwas kaputt geht.  Das spielerische Verschwimmen-Lassen von Fakt und Fiktion erinnert an den literarischen Trend der Autofiktion, nur andersherum gedacht: nicht wird etwas Faktisches wie eine Biographie in einer Geschichte gegossen, sondern das Fiktionale um Elemente des Faktischen ergänzt. Dies kann man als Versuch der paratextuellen Verdichtung sehen, um ein noch höheres Maß an Authentizität zu erreichen.

Solche Anbindung an reale Begebenheiten finden sich auch in dem Versuch der Serie, die Stadt Chicago möglichst originalgetreu zu porträtieren. Italian Beef Sandwiches sind tatsächlich im Chicago der 1930er-Jahre entstanden und bis heute dort ein signature-dish. Das „The Beef“ ist ebenfalls einem echten Laden nachempfunden, dem Deli „Mr Beef“. Zu Beginn vieler Episoden werden Schnittbilder gezeigt, die so dringend das Lebensgefühl der Stadt einfangen wollen, dass man selbst ohne dort gewesen zu sein, ihren Kitsch spürt – einmal sogar zu den Klängen von Sufjan Stevens „Chicago“. Das wäre vermutlich so, als würde man heute eine Berlin-Serie mit „Alles neu“ von Peter Fox unterlegen. In der Tat finden sich im Netz einige Blog- & Newsletter-Texte von Chicagoer:innen , die sich über die Darstellung der Stadt in „The Bear“ echauffieren. Ihr größter Kritikpunkt ist, dass das Viertel River North, in dem sowohl das Serien-Bistro „The Beef“ als auch das echte „Mr Beef“ liegen, als hartes Arbeiter:innen-Viertel gezeichnet wird, das kurz vor der Gentrifizierung steht. Tatsächlich ist das Viertel schon seit Ewigkeiten gentrifiziert, nach Manhattan besitzt es die größte Galerie-Dichte der USA.

Doch auch wenn das Chicago-Porträt nicht so richtig gelingt, zeigt „The Bear“ mit seinem Gentrifizierungs-Plot trotzdem, dass es nicht nur an der rein ästhetischen Seite von Essen und Restaurants interessiert ist, sondern auch an seiner soziologischen Einbettung in die Gesellschaft. Denn auch das ist Kulinarik: ein Distinktionsmerkmal zur Darstellung von Klassenzugehörigkeit. Im Verlauf der Staffel entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob der Laden zukünftig ein Risotto anbieten solle – hier als Symbol für gehobene Küche gemeint. Beim Zuschauen ist man hin- und hergerissen: einerseits will man, dass das Lokal seinen urigen Charme und Legendenstatus im Viertel behält, andererseits weiß man genau: gehobene Küche bringt mehr Geld ergo bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innen. Dass es sich die Serie an dieser Stelle nicht zu einfach macht, ist einer ihrer größten Pluspunkte.

Überhaupt wirkt das Ganze sehr erfrischend, denn „The Bear“ zeigt Kulinarik von einer neuen Seite. Das ist gar nicht so einfach gewesen, denn Essen spielt schon lange eine wichtige Rolle in Film und Fernsehen. In Arthouse-Filmen wie “Eat Drink Man Woman”, “Babettes Fest” oder “Tampopo” wird zwar gezeigt, dass Kochen harte Arbeit ist, aber am Ende steht dann das Essen doch meist für etwas Mystisch-Magisches. Gerichte, die psychische Wunden heilen oder alte Konflikte durch Genuss befrieden. Dieser Heiland-Rolle muss das Essen auch visuell entsprechen, deswegen wird es oft ästhetisch überstilisiert. Ein hervorragendes Beispiel sind die märchenhaften Filme des Animationsmeisters Hayao Myazaki und seinem Studio Ghibli, über dessen sinnliche Darstellung von Essen es sogar Video-Essays gibt.

Diese Überstilisierung von Essen findet sich auch bei der Netflix-Doku-Serie “Chef’s Table”, deren Episoden schon fast als Werbung für das jeweilige Restaurant gelesen werden können. Auch die Reise-Sendung „Somebody Feed Phil“ oder Live-Koch-Shows schaffen es kaum, Essen aus einer anderen als der extrem appetitanregenden Perspektive zu zeigen, wie sie auch in Instagram-Reels oder TikTok-Videos propagiert wird (mit Ausnahme vielleicht von “Ugly Delicious”, das die soziokulturelle Geschichte von Gerichten beleuchtet). Bisher medial kaum gezeigte Seiten der Kulinarik wie Schweiß, Stress, Prekarität, aber auch Gemeinschaftsgefühl und Leidenschaft in der Küche werden in „The Bear“ in den Vordergrund gerückt. Damit schafft die Show es realistisch zu zeigen, was für ein Leben und welcher Alltag hinter dem ganzen Essen steckt, das unseren Appetit anregt.

Beitragsbild von Lasse Bergqvist

Ziemlich beste Freundinnen. Selene Marianis Debütroman „Ellis“

von Hanna Sellheim

Der Klappentext von Selene Marianis Debütroman Ellis, erschienen 2022 im Wallstein Verlag, mutet vage bekannt an. Er verspricht: „Deutschland und Italien. Zwei Freundinnen zwischen Nähe und Distanz.“ Auf seiner Instagram-Seite verlost der Verlag den Roman mit einer Packung Abbracci-Kekse, die darin eine Rolle spielen. Italien, Freundinnen, Dolce Vita und zuckersüße Vermarktungsstrategien – das klingt verdächtig nach #ferrantefever, dem Hype um die „Neapolitanische Saga“ von Elena Ferrante, die weniger mit literarischer Innovation und mehr mit der Geheimniskrämerei um die wahre Identität der Autorin hinter dem Pseudonym Aufsehen erregte. Aber diese Vermarktung verwundert, wirft man einen Blick ins Buch: Denn was hier erzählt wird, ist keineswegs eine Freundschaftsgeschichte, sondern die Erzählung einer unglücklichen lesbischen Liebe. Doch das wird nie explizit und man fragt sich: Warum eigentlich?

Die Handlung des Romans ist knapp bemessen: Ellis, in Deutschland und Italien aufgewachsen, wird in der Schule gemobbt und ist kreuzunglücklich – bis sie Grace kennenlernt. Die beiden streiten und vertragen sich, verlieren den Kontakt, treffen sich schließlich nach zehn Jahren wieder und reisen gemeinsam zu Ellis‘ Großeltern nach Italien. Der Roman ist durch Ellis‘ Ich-Perspektive fokalisiert und in sehr kurzen, szenenhaften Kapiteln erzählt, wobei wiederholt zwischen den Zeitebenen von Kindheit und Gegenwart hin- und hergesprungen wird.

Kitsch und Atmosphäre

Andere Themen, die sich aus den Eckpunkten der Handlung logisch ergeben, finden vor allem am Rande Erwähnung; etwa Kindheitstraumata oder die Frage nach kultureller Zugehörigkeit. Mariani verwendet durchaus einfallsreiche Vergleiche („Mein Verhalten der letzten Tage steigt in mir auf wie Sodbrennen“) und wohlüberlegte Formulierungen („würge Themen heraus, kläglich klein sehen sie aus, wir schieben sie hin und her, unschlüssig“). Manches davon ist geprägt von einer recht aufdringlichen Wortwörtlichkeit, manches von schamlosem Kitsch:

„Ich habe mich verliebt, oft und jedes Mal unsterblich…“ Ich muss lächeln. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Doch die eingebauten Referenzen schaffen ein überzeugendes Panorama der frühen Nullerjahre, die schlaglichtartigen Szenen bauen atmosphärische Bilder von italienischem Sommer und der gräulichen Langeweile deutscher Mittelstädte.

Und dann ist da eben die Beziehung von Ellis und Grace, die sich als nur halbherzig erwiderte Verliebtheit entfaltet. An Grace fällt Ellis zuerst und wiederholt der Vanilleduft und ihre blauen Augen auf, es entspinnt sich ein Spiel von Beobachten und Näherkommen. Insbesondere die Berührungen mit Grace sind es, die Ellis detailreich beschreibt. Da kleben schwitzige Arme aneinander, Hände liegen zu nah beieinander, Wangen berühren Hälse und Ellis ist der Anblick von Grace‘ nacktem Körper unangenehm.

Suggestive Bildsprache

Dies entwickelt sich zu einer durchaus überzeugenden Schilderung von gay panic:

Es ist unmöglich, sich nicht zu berühren, wenn ich nicht herunterfallen will. Der Film geht los, nach fünf Minuten die erste Liebesszene. Ich merke, wie mein Nacken sich versteift. Ich spüre Grace‘ warmen Körper an mir, habe das Gefühl, das [sic] sie mich ansieht. Ich versuche, normal zu atmen. Als endlich die Szene wechselt, lege ich mich erleichtert etwas entspannter hin. Vergeblich versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren, schaffe es nicht.

So liest sich der Roman, als sei er in Codes geschrieben, die ganz bewusst einen Subtext des queeren Begehrens erzeugen. Es geht nie um Sex und doch gleichzeitig irgendwie immer, suggestive Anspielungen sind omnipräsent. Ellis sitzt „auf einer nackten Matratze“ , die Ballettlehrerin „schiebt ihre Beine scherenförmig auseinander“, ein Kater sieht aus, „als hätte jemand auf seinem Gesicht gesessen“, und bei Grace sind „die Innenseiten der Lippen noch weinrot“. Auch gar nicht subtile Beschreibungen körperlicher Vereinigung passen sich in das Bild:

Chiara und ich schaukeln, wie andere Freundinnen laufen – aus zwei Körpern wird einer. Mit der gleichen Biegung im Rücken drücken wir uns nach oben. Dort, der Pause zwischen Ein- und Ausatmen gleich, bleiben wir ganz kurz stehen, mit geschlossenen Augen.

Ellis zeigt derweil in der gesamten Erzählung kein Interesse an Männern, auf Grace‘ männliche Schwärme und Partner ist sie zugleich unverhohlen eifersüchtig.

Die queeren Andeutungen reichen bis zu Referenzen: Ellis‘ „Mund voll ungesagter Worte“ ist verdächtig nah an Anne Freytags „Mund voll ungesagter Dinge“ – einem erfolgreichen Jugendbuch, das eine Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt. Und von „Blau ist seine Lieblingsfarbe“ ist es nur ein Katzensprung zu „Blau ist eine warme Farbe“, dem wohl bekanntesten und umstrittensten lesbischen Liebesfilm.

Dabei nähert sich die Erzählung immer wieder asymptotisch der Ausbuchstabierung, insbesondere als Ellis‘ Vater auftaucht und ihr nahelegt: „Du schaust sie an wie sonst niemanden“ und „Du musst es ihr sagen.“ Dieses Es, das unausgesprochen zwischen den Zeilen schwebt, findet aber nie seinen Weg in die Ausformulierung, sondern bleibt stets Implikation. Coming-Out-Andeutungen häufen sich, bleiben aber unausgesprochen.

Als es schließlich doch zum Kuss zwischen Ellis und Grace kommt, folgt daraus jedoch weder für die Handlung noch für die Reflektion etwas; wenige Seiten später ist das Buch beendet. Das Ende verbreitet noch ein bisschen vage Self-Love-Share-Pic-Aufbruchsstimmung und fasert dann aus.

Best Friends Forever?

Wieso wird der Roman also trotz des offensichtlichen Inhalts so verschämt vermarktet als Freundschaftsgeschichte? Der Umschlagtext spricht von der „problematische[n] Dynamik ihrer Freundschaft“ und fragt recht naiv: „Was hält Ellis und Grace zusammen?“ Spielte sich dieselbe Geschichte schließlich zwischen einem Mann und einer Frau ab, sie würde wohl kaum so angeteasert. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen, die aber alle keine wirklich zufriedenstellende Antwort liefern: 

1. Der Roman (und mit ihm die Akteure drumherum) ist sich selbst seines queeren Subtextes nicht bewusst. Angesichts des oben gezeigten Umfangs der Anspielungen scheint das allerdings eher abwegig. 

2. Der Roman ist sich dessen bewusst, versucht aber, einem queeren Themen eher abgeneigten Publikum diese unterzujubeln, auch indem ganz bewusst der Ferrante-Hype angezapft wird. Hierbei stellt sich aber die Frage nach der Motivation: Dass solche Codierungsstrategien früher notwendig waren, um Bücher überhaupt auf dem Markt zu platzieren, liegt auf der Hand[1], aber warum sollte es heute noch im Interesse eines Verlags sein, die eigenen Produkte auf diese Weise zu maskieren? Gerade im Kontext des Pride Month erstaunt es, dass Wallstein den queeren Gehalt nicht mehr ausschlachtet. 

3. Man könnte den Roman lesen als fokalisierte Erzählung einer Figur, die keine Sprache für ihr eigenes Begehren hat, die ihr Gefühl des Andersseins verschiebt von der sexuellen auf die kulturelle Andersartigkeit, die in einer heteronormativen Welt gezwungen wird, sich selbst zu zensieren, um nicht weiter aufzufallen: „Ich lerne vorauszusehen, wann die Lauteste lacht, lache vor ihr, spüre ihren wohlwollenden Blick wie warmes Wasser, das mir den Nacken hinunterläuft. Früher war jeder Blick entlarvend, jetzt nicht mehr, jetzt bleiben sie auf der Oberfläche kleben. Ich weiß jetzt, was meine Stärke ist: mich anpassen.“ Doch das beantwortet nicht, warum das in den Paratexten dann nicht besser aufgefangen wird.

So scheint es am plausibelsten zu vermuten, der Text kapituliere vor der historischen Übermacht überkommener, heteronormativer und latent homophober Klischees und Stereotype von ‚natürlicher Nähe‘ zwischen ‚befreundeten‘ Frauen. Denn diese Muster haben eine Geschichte: Ellis ist keineswegs das einzige Beispiel für die Vermarktung lesbischer Geschichten unter dem Etikett der ‚engen Frauenfreundschaft‘. Der Film Grüne Tomaten (Fried Green Tomatoes) von 1991 erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen in Alabama Anfang des 20. Jahrhunderts – gibt das aber nie offen zu. Der Trailer betont „friendship“ und „best friends“. Die Zusammenfassung auf Filmstarts.de verspricht etwas von „tiefe[r]“ und „innige[r] Freundschaft“. Dabei legt die 1987 veröffentlichte Buchvorlage Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café von Fannie Flagg, einer offen lesbischen Autorin, das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe recht eindeutig nahe. Kino-Zeit.de immerhin bemerkt: „Bedauerlich ist, dass die romantischen Gefühle zwischen den beiden jungen Frauen, die in Flaggs Roman angelegt sind, im Film auf ein rein platonisches Verhältnis reduziert werden.“

“Grüne Tomaten”: Queercoding par excellence

Doch auch das ist nicht wahr: Denn der Film ist voller Codes, die eine romantische Beziehung zwischen den Protagonistinnen Idgie und Ruth suggerieren, auch wenn dies eher im Subtext geschieht. Idgie wird als Tomboy eingeführt, weigert sich, für eine Hochzeit ein Kleid anzuziehen und läuft lieber in Hosen rum. Das allein ist selbstverständlich kein Indikator für lesbische Orientierung, die zärtliche Darstellung von Ruths und Idgies Beziehung, die im Grunde als Ehepaar zusammenleben und gemeinsam ein Kind großziehen, jedoch ist es definitiv. Berührungen und Küsse auf die Wange werden in Close-Ups gezeigt. Eine besonders eindrückliche Szene zeigt die beiden bei einem Food Fight, der mit Beeren-Geschmiere und erschöpfendem Rangeln auf dem Fußboden unschwer als Sex-Chiffre zu erkennen ist, und vom Sheriff unterbrochen wird, der die beiden darauf hinweist, gerade etwas Unerhörtes getan zu haben. Auch eine der Schlüsselszenen, in der Idgie für Ruth Honig erntet und auf die das Paar bei späteren Liebeserklärungen immer wieder Bezug nimmt („I‘ll always love you, the bee charmer“) arbeitet mit einer Bedeutungsverschiebung, die den queeren Gehalt hervorhebt: „I heard there are people who could charm bees. I have just never seen it done before today. You’re a bee charmer, Idgie Threadgoode. That’s what you are. A bee charmer.“ Im Anschluss an diese Aussage greift Ruth mit zwei Fingern in das Honigglas, das Idgie ihr hinhält, und leckt den Honig ab. Sexuell suggestive Bildlichkeit funktioniert also auch in anderen Fällen als Code für queeres Begehren – auch wenn dieser nicht von allen Rezipient*innen entziffert wird. So ist der Film durch die Vermarktung im Einklang mit Mainstream-Diskursen im kollektiven Bewusstsein eingegangen als Freundschaftserzählung – und der queere Hintergrund somit vergessen.

Lesbische Unsichtbarkeit

Es ist inzwischen zum Meme geworden, dass Historiker:innen (oder, vielleicht treffender, Historiker) zusammen lebende, einander Liebesbriefe schreibende Frauen als gute Freundinnen oder Mitbewohnerinnen vermuten. Zuweilen führt diese Verleugnung von Offensichtlichkeiten zu Absurditäten wie dem folgenden Satz auf der Wikipedia-Seite zu Vita Sackville-West, der Geliebten von Virginia Woolf: „Die Freundschaft war von großer Zuneigung und gegenseitiger Bewunderung geprägt, und zumindest zeitweise auch sexueller Natur.“ Auch in eindeutigeren Fällen kommt das Freundschaftslabel zum Einsatz: Netflix fasst Call Me by Your Name als Film über eine „lebensverändernde Freundschaft“ zusammen. In gravierenden Fällen führt ein solcher Bias zur Verfälschung von Forschungsergebnissen, nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch etwa in der Archäologie.

Die Grenzen und Grenzüberschreitungen von Liebe und Freundschaft zu diskutieren und Zwischenbereiche aufzuzeigen, ist ja keineswegs falsch – doch scheint es in diesen Fällen um etwas anderes zu gehen, nämlich die Leugnung romantischer queerer, und vor allem lesbischer, Liebe und Sexualität, die Diskriminierungen perpetuiert. Denn die Gleichsetzung von lesbischen Liebesbeziehungen mit engen Frauenfreundschaften macht queere Lebensrealitäten unsichtbar.[2] Während männliche Homosexualität jahrzehntelang kriminalisiert wurde, ist weibliche vor allem ignoriert worden.

Doch auch diese spezifisch lesbische kulturelle Unsichtbarkeit[3] ist problematisch und hat gesellschaftliche Auswirkungen – durcheinander geratene Definitionen von Liebe und Freundschaft, von Begehren und Bewundern sind deshalb keineswegs trivial. Warum? Die Antwort ist so einfach wie pathetisch: Weil Repräsentation Bedeutung hat und schafft. Weil Entstigmatisierung wichtig ist. Formate wie The L Word oder kürzlich erst Princess Charming haben gezeigt, wie wichtig es auch heute noch ist, immer wieder zu betonen, dass lesbische Liebe real und etwas anderes als enge Freundschaft ist, dass nicht alle Lesben aussehen, wie Onkel Ralf sich Lesben vorstellt, dass Frauen romantische Gefühle und sexuelles Begehren empfinden, auch zueinander, und dass es okay ist, das auch ganz explizit so zu benennen. Jetzt muss das wohl nur noch im deutschen Literaturbetrieb ankommen.


[1] Byrne Fone argumentiert weiterführend, dass die „friendship tradition“ den Ausdruck leidenschaftlicher, gleichgeschlechtlicher Gefühle überhaupt erst ermöglicht. (Vgl. Homophobia. A History. Metropolitan Books, 2000. 333.)

[2] Vgl. Kirsten Plötz: „Weitgehend ignoriert. Lesbisches Leben in der frühen Bundesrepublik“. In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Hg. von Gabriele Dennert et al. Querverlag, 2007. 29.

[3] Vgl. Ulrike Hänsch: Individuelle Freiheiten – heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. Leske + Budrich, 2003. 59.

Beitragsbild von kyo azuma

Von blauer Luft zu Bauluft – Lyrik zwischen Literaturgeschichte und Anthropozän

von May Mergenthaler

Şafak Sarıçiçeks fünfter, mit dem Preis der Heidelberger Autorinnen und Autoren ausgezeichnete Gedichtband Im Sandmoor ein Android ist ein ungewöhnliches Beispiel für Ecopoetry, die Strömung der Lyrik, die sich zentral mit den ökologischen Bedingungen unserer Gegenwart auseinandersetzt. Obwohl der Band wie das Titelgedicht über eine versandende Stadt den Klimawandel und die stetig fortschreitende Naturzerstörung thematisieren, verstößt Sarıçiçek gegen mehrere Lehrsätze der boomenden Lyrik, die auf das gegenwärtige, von menschlichen, erdfeindlichen Einflüssen dominierte geologische Zeitalter des Anthropozän reagiert. 

So gibt es kaum Darstellungen unmittelbarer Naturwahrnehmungen wie in Marion Poschmanns Nimbus (2020) oder Ester Kinskys Schiefern (2020), die eigens bereiste, beeinträchtigte oder bedrohte Landschaften poetisieren. Ebenso wenig praktiziert Sarıçiçek die „anästhetische Dichtung“ von Daniel Falbs „Terrapoetik“ (2015), die es sich versagt, das Naturschöne zu feiern und vorrangig ökologische Wissens- und Datenbestände verarbeitet. Noch beugt sich seine Lyrik der Behauptung Ulrike Draesners, „Natur-Schreiben sei ein zonales Gebiet, das nach formaler Innovation verlangt“, wie sie in den Arbeiten von Anja Utler (kommen sehen. Lobgesang, 2020) oder Draesner selbst (Doggerland, 2021) zu finden ist.

Die Widerstände von Im Sandmoor ein Android gegen eine unmittelbare Zuordnung zur Öko- und Klimawandellyrik verdanken sich vor allem seiner Hinwendung zu lyrischen Traditionen, in denen es noch nicht oder kaum um Umweltproblematiken ging. Zu den im Band ex- oder implizit genannten Inspirationen der Gedichte gehören der französische Surrealismus von Robert Desnos und seine türkisch- und deutschsprachigen Anverwandlungen durch Edip Cansever, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Auch Echos des Mehr-als-Wirklichen aus den späten Gedichten Hölderlins sind zu hören. Doch gerade das Surreale und Künstliche bzw. Künstlerische von Sarıçiçeks Sandmoor, Wolken, Nebel, Licht, Rochen, Rosen oder Kamillenblüten kann uns die natürliche Umwelt und die Dichtung zugleich ans Herz legen und zeigen, wie eng sie in unserer Vorstellungskraft und in der literarischen Tradition ineinander verzahnt sind. Auch die lyrischen Antworten auf Kunstwerke von Patient*innen psychiatrischer Anstalten aus der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, die den zweiten der drei Teile von Im Sandmoor ein Android ausmachen, fügen sich in das Programm einer Poesie, die unsere Ideen von Natur aus- und überdehnt. Zugleich aber verbleiben sämtliche Gedichte des Bandes weitgehend innerhalb der Grenzen der im Alltag dominierenden, schriftlichen und mündlichen Sprache und des körperlich Erlebbaren und geistig Vorstellbaren. Das poetische Ziel ist nicht das Androide, sondern eine ökologisch-poetische Ausweitung und Veränderung des Menschlichen.

Der Weg zur Natur durch die kulturelle Erinnerung, den Sarıçiçek einschlägt, ist besonders im Eröffnungsgedicht des ersten Zyklus gut zu erkennen, der mit „Gnosis“, dem antiken Namen für Wissen, überschrieben ist und auf diese Weise aus der Vergangenheit schöpfende Erkenntnisse verspricht. Mit dem Titel „Mnemosyne“, dem Namen der Göttin der Erinnerung, bezieht sich auch das erste Gedicht des Zyklus auf die Antike und zitiert zugleich Hölderlins berühmte gleichnamige Hymnenfragmente. Sarıçiçeks „Mnemosyne“ nimmt einige formale und inhaltliche Elemente dieser Fragmente auf und verbindet sie mit der Struktur von Hölderlins ebenso bekannter, zweistrophiger Ode „Hälfte des Lebens“, die zu seinen kulturkritischen „Nachtgesängen“ gehört. Die Aufteilung der Ode in sommerliche Idylle voll wilder Rosen und winterliche Trauer vor kalten Mauern transformiert Sarıçiçek in den Kontrast zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit angesichts der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Handlungen der Menschen, die der Autor in ein „wir“ zusammenfasst – zwischen einem Traum vom Vogelflug durch blauen Himmel und der Vergiftung durch Angst.

Mnemosyne

Ein Schwarm sind wir, der Termiten

Zangen durch Holz wir treiben

Zu Flugscharen in hungernde Hallen.

So die Heuschrecken über Wüsten schwärmen

Und ein Gift umherweht, Selbstverdanktes

Werden mutig sein Wenige und denen im Fall

Darbieten dann Aufrichtiges, zu blauen Gefilden

Der Vögel Wellen.

Und ein Pfahl sind wir, durchtrieben und gar

Herrschaftssüchtig und voll Verlangen

Nämlich nach Regelwerk, ein neues Gebet.

Regelwerk sind wir, ein Pfahl:

Den einen wird der Kelch gereicht

Frierendes in den Adern und durchtrieben sind

Sie, die Andern, so nämlich Angst ist, reichen sie

Zum Trank.

(Im Sandmoor ein Android, S. 7)

Statt „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“ aus der zweiten Fassung von Hölderlins „Mnemosyne“ (Hölderlin 1953, S. 203) lesen wir bei Sarıçiçek: „Ein Schwarm sind wir, der Termiten Zangen durch Holz wir treiben / Zu Flugscharen in hungernde Hallen.“ Hölderlins Klage über den Sprachverlust, der mit Götterferne und Götterstreit einhergeht, verwandelt sich bei Sarıçiçek in die Trauer über den erdgewandten Materialismus der Menschen und ihre Herrschafts- und Regelsucht. 

In einem späteren Gedicht („Beeren“, S. 57-58) spricht er, ähnlich wie schon in früheren Bänden, unverblümt von „Gier“. Dass dem Lyriker Termiten als Metapher für diese Gier dienen, zeigt, dass er sich nicht dem Biozentrismus verschreibt, der den ökologischen Eigenwert der Insekten betonen würde. Anders als Brigitta Falkners (laut Verlagsankündigung) „fröhliche[] Parasitenkunde“ (Strategien der Wirtsfindung, Matthes & Seitz 2017) beharrt Sarıçiçek auf der Unhintergehbarkeit der menschlichen Auffassung von Termiten, die sie als Holzbauten zerfressende Schädlinge begreift. Dazu passt, dass der Autor kürzlich in einem Interview erklärte, die Menschen hingen „nach wie vor einem geozentrischen Weltbild an“, und der „Transhumanismus der Moderne habe lediglich die Mythologien der Antike ersetzt“ (ND, 21.06.2022). Die anthropozentrische Geschichte wird in seinem Lyrikband nicht durch eine biozentrische er-, sondern in die Gegenwart übersetzt. 

In die Gegenwart transportiert Sarıçiçek auch die  Sprache Hölderlins, was als ahistorisch kritisiert werden könnte. Auf diese Weise aber gelingt es ihm, Hölderlins Sprachdiagnose beizubehalten, die in der Sinnzusammenhänge strapazierenden Syntax seiner späten Gedichte Ausdruck findet, und sie mit zugänglichen grammatischen Strukturen und poetischen Assoziationen zu verbinden und lebendig zu halten.

Sarıçiçeks Gedichte in Im Sandmoor ein Android überfliegen nicht nur kultur- und literaturgeschichtliche, sondern auch geografische Distanzen, was eine Begeisterung für die poetische Fantasie verrät, die auch seine früheren Bände charakterisiert. Hier geht diese Begeisterung mit der Sorge über die Wirklichkeitsflucht von Dichtung einher. Der ‚prophetische Traum‘ von den mit Alliterationen klingenden „Hügeln des Himmels“ in der zweiten Fassung von Hölderlins „Mnemosyne“ und der Wunsch, dass wir „Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See“, verwandeln sich in Sarıçiçeks „Mnemosyne“ in die Hoffnung, dass ‚wenige Mutige‘ „denen im Fall darbieten dann Aufrichtiges, zu blauen Gefilden, / Der Vögel Wellen“. Hier lassen sich Bezüge zu Edip Cansever erahnen, dem Dichter der türkischen Lyrikströmung İkinci Yeni (“Zweite Neue”), die sich mit ihren surrealistischen Anklängen dem sozialen Realismus entgegen stellte. Cansever bezeichnet in seinen Gedichten deren eigene Wirklichkeitsflucht in das scheinbar Schöne der Natur als einen Mangel, ein „Ungenügen“. In seinem Gedicht „Von den Tagen“ heißt es: „Es gibt die Schwärme der Vögel, die sind schief“ und „Blau ist keine Farbe, Blau ist eine Laune meines Wesens / Und meines Ungenügens, / Und das Ungenügen aller vielleicht.“ (übers. Gülenaz/Overath 2020, S. 37)

Dieser Poesiekritik entsprechend, dämpft die zweite, winterliche Strophe von Sarıçiçeks „Mnemosyne“ die Hoffnung der ersten auf wenige Mutige „zu blauen Gefilden“, indem sie das Geschenk eines angstgefüllten Kelchs imaginiert, der an den Schierlingsbecher erinnert, mit dem Sokrates hingerichtet wurde. Das Bildzieht die Fähigkeit vonPoesie in Zweifel, der menschlichen Unwissenheit etwas entgegenzusetzen; ähnlich wie Poschmann in Nimbus (2020) fragt: „Rettung des Weltklimas aus / dem Geist der deutschen Ode – / haben wir uns da nicht etwas / viel vorgenommen?“ Dieser Zweifel ist Sarıçiçek ebenfalls Antrieb zum Dichten, und das in einer Vielfalt, die eine anachronistisch anmutende Lust an Poesie und an lyrisch verschönter Natur bezeugt. Er besteht darauf, dass wir nicht von Termiten, sondern von Vögeln im blauen Himmel träumen und ihre Versprachlichung in poetische Bilder und Klänge genießen.

Das Ungenügen einer Poesie, die sich den ‚blauen Gefilden‘ zuwendet, erinnert auch an die verträumte Romantik und Novalis’ paradigmatisch gewordene blaue Blume. Die Möglichkeit, dass inder Kunstproduktion der Wirklichkeitssinn gänzlich verloren geht, bespricht der Autor im Zyklus „Sammlung Prinzhorn“. Die Kunstwerke der Patient*innen psychiatrischer Anstalten, die an oder jenseits der Grenze der zwischenmenschlichen Verständigung entstanden sind, holt der Autor in die Sphäre der lyrischen Kommunikation. Eine Künstler*in adressiert er als „du“ und versetzt sich in das „Ich“ einer anderen. Was dabei auf den ersten Blick fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Patient*innen, die von zwangsweiser Hospitalisierung und Sterilisierung bis zu ihrer Ermordung durch die Nazis reicht. Sarıçiçek behandelt die Werke offenbar bewusst als autonome Kunstwerke, was ihnen zwar zu künstlerischem Recht verhilft, aber das ihnen unterliegende Unrecht verschweigt. Ein Blick auf das eingangs zitierte Gedicht aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann mag diesem Eindruck vorbeugen. Darin heißt es, das Aus-sich-Hervortreten, „aus meinen Augen / Händen, Mund“, bringe eine „Schar / von Güte und Göttlichem“ zum Vorschein, „die diese Teufeleien / gut machen muß, / die geschehen sind“.

Die Psychiatrie-Gedichte werfen durch ihre Integration in die Umweltthematik ein weiteres Licht auf die Frage nach einer Lyrik, die dem Zeitalter des Anthropozän angemessen ist. Gedicht Nr. „9“ ruft ein „Ihr“ dazu auf, ab ins „Naturtheater“ zu gehen – vielleicht in Anspielung auf Kafkas „Naturtheater von Oklahoma“ in Romanfragment Der Verschollene, das jede und jeden aufnimmt – und beschreibt den Gang ins Theater bzw. den Ansturm darauf:

            Ab geht es in das Naturtheater, wo Schatten sitzen

            Ab ihr Kentauren, wissentlich in scharfe Äpfel beißend

            Wir haben dem grünen Herren geboten

            Farben zu kehren auf den Podest des Waldrats

            […]

            Ab geht es ins Naturtheater, wo Milch die Herrschaft besteigt

            und vergibt ausradierte Gesichter. Es ist manchmal so

            wenn die Stromleitung erfriert.

            (Im Sandmoor ein Android, S. 31)

Das Wissen um Inspirationdes Gedichts durch die bildende Kunst, regt dazu an, sich Zeichnungen oder Gemälde von farbigen, Äpfel essenden Fabelwesen und Menschen mit ausradierten Gesichtern vorzustellen. Dabei wird noch deutlicher als in den anderen beiden Zyklen des Bandes spürbar, dass die Gedichte trotz ihres Surrealismus Raum- und Zeitbilder evozieren, die wenigstens in der Fantasie körperlich und geistig erfahrbar sind . Dadurch wirken ihre Verse eindringlich und sogar memorierbar. Ähnlich wie in seiner Übersetzung von Hölderlins „Mnemosyne“ transferiert Sarıçiçek auch in seinem möglichen Kafka-Zitat das Metaphysische ins Materielle, wenn er auf die Podeste des Naturtheaters den „Waldrat“ setzt. Im Roman Der Verschollen blasen dort Frauen in Engelskostümen Trompete. Wenn „die Stromleitung erfriert“ – vielleicht auch die Ströme im Gehirn – siegt die alle Menschen bei der Geburt nährende Milch (oder Ersatzmilch).

Ein Irrweg wäre es wohl, bei der Milch von Sarıçiçeks Naturtheater an Paul Celans schwarze Milch der Frühe aus der „Todesfuge“ zu denken und nicht an ein Land, in dem Milch und Honig fließt. Und doch schreibt sich der Lyriker auch in Celans Dichtung ein, wenn er seinen dritten und letzten Zyklus „Peristyl“ nennt. Denn so heißt nicht nur der von Säulen umgebene Innenhof eines Hauses in der antiken Architektur, sondern auch die Buchstabensäule der „archaischen Schreibmaschine“ der Sorte, die Yves Bonnefoys (1988) in der Pariser Wohnung des Dichters bemerkte. Geht der zweite Zyklus „Sammlung Prinzhorn“ über die durchschnittlichen Weisen des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens hinaus, so tritt der dritte in den Innenhof des Schreibens ein und thematisiert noch einmal das Ungenügen der poetischen Imagination, der Vorliebe für den poetischen blauen Himmel. Gleichzeitig bietet ereinen möglichen Weg, Dichtung fester in der Wirklichkeit zu verankern, ohne ihre gewohnten ästhetischen Mittel aufzugeben.

In dem letzten Gedicht des Bandes mit dem Titel „Phototaxis“ – der Begriff bezeichnet den Einfluss von Beleuchtungsstärke auf die Bewegungsrichtung von Organismen – schichtet Sarıçiçek eine Säule aus mit Spiegelstrichen getrennten Strophen auf, die den Turm zu Babel mit dem noch viel älteren und für Menschen unsichtbaren Luftturm vergleichen, in dem Insekten sich auf und ab bewegen. Hier folgt der Lyriker schließlich doch einem wichtigen Lehrsatz über ökologisches Schreiben, den die Lyrikerin Nancy Campbell (2020), im Wissen über das Klimaarchiv des Wostok-Eisbohrkerns, folgendermaßen formuliert: „Sei vollständig. Erzähl die ganze Geschichte; sämtliche Tage aller Jahreszeiten, Sommer wie Winter, von der Gegenwart bis zum Anbeginn der Zeit.“ 

Insekten, die das natürliche Licht von Mond und Sonne brauchen, um sich zu orientieren und um Pflanzen und Partner zu finden, werden durch die Anziehungskraft unserer ‚eigenen Gestirne mit dem blauen Licht‘ in ihrem Überleben bedroht – eine Umkehrung der Kosmologie, die bereits Blumenberg beklagt. Ähnlich wie bei den bereits angeführten lyrischen Traditionen verlegt Sarıçiçek auch in seiner Verarbeitung der philosophischen Zivilisationskritik Blumenbergs den Schwerpunkt von den intellektuellen auf die materiellen Konsequenzen menschlicher ‚Herrschaftssucht‘. Während Blumenberg beklagt, dass die Menschen durch die zielgerichtete künstliche Beleuchtung die Freiheit des Schauens unter den alles illuminierenden Lichtern des Himmels verlieren, bedichtet Sarıçiçek die Konsequenzen der menschlichen Lichtbeherrschung für Insekten, Larven von Schwämmen und Quallen. 

Als Alternative zum poetischen ‚Babeln‘ von „blauen Gefilden“ und „Vögel Wellen“ zu Beginn des Gedichtbands bietet er uns abschließend die „Bauluft“ der Taufliegen. Eine bloße Verschiebung, Umstellung, Transformation und Variation unserer Türme aus Lauten und Wörtern genügt, so legt Sarıçiçek nahe, um wenigstens lyrisch aus der Sackgasse des Anthropozän auszubrechen. Ein bedenkens- und lesenswerter Vorschlag.

Şafak Sarıçiçek: Im Sandmoor ein Android. Gedichte. Berlin: Quintus-Verlag, 2021. 64 Seiten. 14,00 Euro.

Foto von Mehdi MeSSrro auf Unsplash

Das Leben in Zeiten der Willkür. Ahmet Altans Roman „Hayat heißt Leben“

von Gerrit Wustmann

„Ich schreibe diese Zeilen in einer Gefängniszelle. Aber ich bin nicht gefangen. Ich bin Schriftsteller. Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin. Ihr könnt mich ins Gefängnis stecken, doch ihr könnt mich dort nicht festhalten. Weil ich die Zaubermacht besitze, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen.“

Diese Passage schrieb Ahmet Altan in einem der zahlreichen Briefe und Essays während seiner Haft in Silivri. Fast fünf Jahre wurde er dort als politischer Häftling festgehalten. Ein Teil der Texte erschien 2018 unter dem Titel „Ich werde die Welt nie wiedersehen“ in mehreren Ländern – nicht aber in der Türkei.

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Arbeit im Panoptikum – Die Serie ‚Severance‘

von Titus Blome

Wer sind wir, wenn die Arbeit unser Leben ist? Diese Frage ist das Kernstück der Dystopie »Severance« auf Apple TV+, das stille Serienhighlight des Jahres. Im Mittelpunkt der neun Folgen steht die zweifache Geschichte von Mark Scout (Adam Scott), der in der Abteilung für Macrodata Refinement (MDR) der ominösen Lumon Industries arbeitet. Zweifach deshalb, weil Mark doppelt existiert – einmal im Büro und einmal außerhalb.

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Die wilden Siebziger – Helmut Böttiger erzählt von der „Blütezeit der deutschen Literatur“

Von Fabienne Steeger

Die siebziger Jahre. Es heißt, sie seien bunt, schrill, verrückt, sogar sexy gewesen. Vor allem seien sie aber eins gewesen: wild. Bei den Siebziger als ‚wildem‘ Jahrzehnt handelt es sich um eine gängige Zuschreibung. Auch Helmut Böttigers kürzlich im Wallstein Verlag erschienene Literaturgeschichte Die Jahre der wahren Empfindung greift das Attribut auf und kennzeichnet die Dekade im Untertitel als „eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur“. Ob es sich hierbei um einen Anschluss an das vor allem in der Populärkultur verankerte Narrativ dieses Jahrzehnts handelt oder nicht: Das auch rhetorisch attraktive Adjektiv vermag die literarische Landschaft dieser Zeit, wie sich nach der Lektüre des über 400 Seiten umfassenden Buches zeigt, überzeugend zu beschreiben. Aus literaturgeschichtlicher Perspektive macht die Dekade Böttiger zufolge ihrem Ruf alle Ehre. Was genau ist in diesem Zusammenhang nun aber unter ‚wild‘ zu verstehen?

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Gesundheit! – Über Juli Zeh und über Juli Zeh über Juli Zeh

von Matthias Warkus

Die Pandemie ist irgendwie von Amts wegen beendet, und allmählich weicht auch das große Kopfschütteln und Händeringen über die Reaktionen der Intellektuellen einer Art Rückschau. Vielleicht nicht der schlechteste Zeitpunkt, um auf etwas zurückzuschauen, was selbst eine Rückschau ist. Im Juli 2020 veröffentlichte die Brandenburger Landesverfassungsrichterin Juli Zeh ein enorm ungewöhnliches Buch namens »Fragen zu Corpus Delicti« (btb, München; im Folgenden zitiert unter F). Cover des Buchs »Fragen zu Corpus Delicti«Ungewöhnlich ist nicht nur die Form – es handelt sich um ein Selbstinterview mit buchfüllender Länge. Ungewöhnlich ist zudem der Gegenstand, das Buch bietet nämlich erschöpfende Erläuterungen zu Zehs Roman Corpus Delicti von 2009, gerichtet »an Schüler und Studenten« (F10). Die Autorin liefert Lehrenden und Lernenden direkt die Sekundärliteratur für ihr eigenes fantastisch erfolgreiches, bis 2019 allein 380.000-mal verkauftes und vielerorts zur Schullektüre gewordenes (F188) Werk. Der Rückentext spricht unbescheiden von einem »unverzichtbare[n] Begleitbuch«. Weiterlesen

Blinde Justitia? Blinde Flecken in einem Buch über das Justizsystem

von Martha Routen

Justitia ist blind, die Staatsanwaltschaft ist die objektivste Behörde der Welt und bestraft werden nur die, die Unrecht getan haben. So zumindest das Ideal. 

Letztes Jahr wurde ich im Zuge meines Rechtsreferendariats eingeteilt die Staatsanwaltschaft in einem Drogenfall zu vertreten. Laut Akte war kurz hinter der Schweizer Grenze ein Mann im Zug mit einer geringen Menge Morphin erwischt worden, die er auf dem Schwarzmarkt erworben hatte. In der Verhandlung sollte ich aufgrund seiner Vorstrafen statt einer Geld- eine Freiheitsstrafe beantragen, ob diese auch zur Bewährung ausgesetzt werden konnte, sollte ich “nach Eindruck in der Verhandlung” entscheiden.

Drogentransport über die Grenze, Opiate, unerfahren wie ich war, hatte ich einen zwielichtigen Dealer erwartet. Ich betrat den Gerichtssaal und fand stattdessen einen 50-jährigen Mann vor, der einen schlecht sitzenden Cordanzug trug und dessen Gesicht verunsichert und verlebt aussah. Er gestand die Tat sofort und erzählte, wie er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland gekommen war und nach vielen Jahren Arbeitslosigkeit schließlich der Drogensucht verfallen sei, der er – trotz mehrfacher Entzugstherapien – nicht entkomme. Der Arzt verschreibe ihm zwar Methadon, die Menge reiche aber nicht aus, weswegen er geringe Dosen illegal kaufe. Nur so könne er für seine Frau und Tochter zuhause erträglich sein. Wenn ich den Blick des vorsitzenden Richters richtig gedeutet habe, war für ihn ebenso wie für mich in diesem Moment eindeutig, dass dieser Mann nicht bestraft werden sollte. Und trotzdem war eine Straftat begangen worden und die Umstände so, dass eine Freiheitsstrafe kaum zu vermeiden war. Dem Angeklagten wurde das letzte Wort gewährt, er stand auf, es blieb ihm im Hals stecken, er setzte sich wieder. Er wurde zu einer kurzen Bewährungsstrafe verurteilt, der Richter wünschte ihm alles Gute, und so war die erste von fünf solcher Verhandlungen für den Tag zu Ende.

Hinter den Kulissen eines (teilweise) dysfunktionalen Systems

Ein ähnlich deprimierendes und dysfunktionales Bild des deutschen Justizsystems zeigt Ronen Steinke in seinem Buch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – die neue Klassenjustiz, das im Berlin Verlag erschienen ist. Steinke, selbst ein Jurist, der unter anderem eine Biografie von Fritz Bauer geschrieben hat, lässt diejenigen, die nicht im Bereich der Strafverfolgung tätig sind, hinter die Kulissen blicken. Er gibt dabei zum einen Beispiele aus der Praxis, aber nicht auf eine Art und Weise, an der man eine durch True Crime geprägte Schaulust befriedigen könnte. Zum anderen behandelt er Eigenheiten des Systems, die nicht zum Allgemeinwissen gehören, etwa Strafbefehle oder die Strafvollstreckung, und erklärt für Laien verständlich, wie diese geregelt sind und sich auf verschiedene Gruppen der Gesellschaft systematisch diskriminierend auswirken und, im krassen Gegensatz dazu, wie viel weniger furchterregend die Justiz erscheint, wenn man nur genug Geld hat. 

So konnte beispielsweise der ehemalige FC-Bayern-Präsident Uli Hoeneß gegen eine Sicherheitsleistung von fünf Millionen Euro die Untersuchungshaft abwenden, als er wegen Steuerhinterziehung im Umfang mehrerer Millionen Euro beschuldigt wurde, während Menschen ohne festen Wohnsitz gerade wegen ihrer Obdachlosigkeit bei wesentlich geringfügigeren Taten schnell in Untersuchungshaft geraten. Ein signifikanter Teil der Gesellschaft lebt zwischen diesen beiden Extremen des Reichtums und der Obdachlosigkeit und hält die Gefahr, wegen einer Straftat vor Gericht oder in Untersuchungshaft zu landen, vor allem für eine abstrakte Möglichkeit. Das kann aber schneller Realität werden, als es einem lieb ist: Zu müde Auto gefahren, durch Alkohol gesteigerte Aggressivität, das falsche Foto auf Whatsapp weitergeleitet – die Wahrscheinlichkeit selbst einmal in das Strafsystem zu geraten, ist größer als viele bereit sind sich einzugestehen. 

Steinke thematisiert elementare Bestandteile des deutschen Justizsystems, von denen man annehmen würde, sie wären schon längst verändert worden, zu offensichtlich erscheint ihre Dysfunktionalität. Denn was könnte schon wichtiger sein, als das Ineinandergreifen der Rädchen im Getriebe, das dazu führt, dass der Staat einer Person die Freiheit entziehen kann? Nehmen wir als Beispiel die bereits erwähnte Untersuchungshaft, der Steinke ein eigenes Kapitel widmet. Die Untersuchungshaft, die rein juristisch betrachtet keine Strafe darstellt, dient dazu sicherzustellen, dass Beschuldigte zur Hauptverhandlung erscheinen, sobald – oder falls – gegen sie Anklage erhoben wird und dass in der Zwischenzeit keine Beweise vernichtet oder Zeug*innen eingeschüchtert werden. 

Wer kommt in Untersuchungshaft, wer nicht?

Auch wenn am Ende ein Freispruch steht, kann die Untersuchungshaft weitreichende und einschneidende Folgen haben. Abgesehen von der grundsätzlichen Belastung einer solchen Situation, können Probleme mit dem Arbeitgeber oder mit dem sozialen Umfeld entstehen. Der Hauptgrund, weshalb Beschuldigte trotz Unschuldsvermutung vorläufig eingesperrt werden, ist die Fluchtgefahr. Steinke stellt dar, mit welchen “fluchthemmenden” und “fluchtbegünstigenden” Faktoren das Gericht anhand von Erfahrungswerten in der Rechtsprechung Prognosen stellt. Ein Schulabschluss wird beispielsweise regelmäßig als fluchthemmend gewertet, eine intakte Familie ebenso – dass Familien häufig nur scheinbar intakt sind und dann eben kein stabiles Lebensumfeld bieten, bleibt außen vor.

Als fluchtbegünstigend dagegen wirken zum Beispiel Drogen- oder Spielsucht, oder wie bereits erwähnt das Fehlen einer festen Wohnung oder eines festen Aufenthaltsortes. Dass diese Kriterien seltener auf empirischem Wissen als auf Annahmen und Vorurteilen beruhen, liegt nahe – zur Veranschaulichung verweist Steinke an dieser Stelle darauf, dass die Rechtsprechung in den 1980er Jahren noch eine homosexuelle Beziehung nur ausnahmsweise als fluchthemmende “soziale Bindung” sah, da diese generell weniger verbindlich sei als eine heterosexuelle. Die Rechtsprechung gibt damit oft indirekt die gegenwärtige gesellschaftliche Haltung in Bezug auf politisch-relevante Themen wieder. Haltungen, deren diskriminatorische Auswirkungen häufig erst Jahrzehnte später kritisch reflektiert werden. Es ist demnach zu erwarten, dass zukünftige Jurist*innen auf unsere Rechtsprechung der Gegenwart zurückblicken und mit Entsetzen feststellen, mit welcher Sorglosigkeit mit dem Schicksal von Menschen ohne festen Wohnsitz, Drogenproblemen oder ungesichertem Aufenthaltsstatus umgegangen wurde – als seien solche Probleme allesamt auf das Versagen der Betroffenen zurückzuführen, statt auf das der Gesellschaft und des Staates, sich hinreichend um vulnerable Gruppen zu sorgen. 

Grundlegend richtig, im Detail einseitig

Die grundlegende Prämisse des Buches ist also ohne Zweifel richtig und ich teile Steinkes Frust. Insbesondere aufgrund der Positionierung des Buches für ein fachfremdes Publikum, ist es aber eminent wichtig, dass bei den Leser*innen das Gefühl entsteht, sich eine eigene, gut informierte Meinung gebildet zu haben, sodass Einwände der Gegenposition weniger Eindruck machen können, da diesen schließlich schon argumentativ begegnet wurde. Gerade in einem hochkomplexen Konstrukt wie dem Justizsystem ist diese Kontextualisierung entsprechend relevant. Sie kommt aber in Steinkes Buch zum Teil zu kurz. 

Das betrifft vor allem die einseitige Darstellung mancher Aspekte, wie zum Beispiel des Strafbefehlsverfahren. Strafbefehle stellen eine Art vereinfachte und zügigere Art der Verurteilung dar, die ohne Hauptverhandlung erledigt werden kann. Bei hinreichendem Tatverdacht erläutert die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung des Tathergangs in einem Strafbefehl, in dem auch eine Geldstrafe oder geringe Freiheitsstrafe zur Bewährung verhängt wird. Hält das Gericht die Ausführungen in der Form für stimmig und bestätigt den hinreichenden Tatverdacht, wird der Strafbefehl per Post an den Angeklagten oder die Angeklagte geschickt. Wenn diese*r nicht innerhalb einer kurzen Frist Einspruch erhebt, was zu einer regulären Hauptverhandlung führen würde, wird der Strafbefehl rechtskräftig und steht einem Strafurteil gleich. 

Steinke bemängelt an dieser Verfahrensart, sie sei “unpersönlich, automatisiert, effizient” und kritisiert zurecht, dass es gravierende Folgen haben kann, wenn Angeklagte die Strafbefehle aus verschiedenen Gründen nicht erhalten oder nicht verstehen – etwa aufgrund sprachlicher Hürden oder mentaler Einschränkungen. So staffeln sich Geldstrafen, die nicht bezahlt werden, und schließlich ergeht ein Haftbefehl für Menschen, die nicht einmal mitbekommen haben, dass sie einer Straftat beschuldigt waren. Soweit prinzipiell richtig. 

Die simple Kritik am Strafbefehlsverfahren greift allerdings zu kurz, da Hauptverhandlungen häufig eine große Belastung darstellen und ein persönliches Erscheinen nicht für alle die vorteilhaftere Variante darstellt. Die meisten Strafverfahren sind öffentlich. So müssen sich Angeklagte nicht nur gegenüber den Richter*innen und der Staatsanwält*innen behaupten, es könnten auch Zuschauer*innen im Sitzungssaal sein – manchmal ganze Schulklassen, manchmal auch die Presse. In den meisten Fällen werden Angeklagte über ihre persönlichen Verhältnisse aussagen – eine sehr private Angelegenheit. Auch die Inszenierung eines Strafverfahrens mit den Roben und der Positionierung der Richter*innen kann und soll imponierend wirken. Gerade unter Berücksichtigung dieser Umstände ist es durchaus denkbar, dass manche einen Brief dieser sehr vulnerablen Situation vorziehen würden, in der unter anderem das Gefühl von Überforderung, Scham, Angst und Wut keine Seltenheit darstellt. 

Debattenbuch mit blinden Flecken

Steinkes Buch hat ein eindeutiges Ziel, eine klare Agenda. Wer wenig Geld hat, wird in der Justiz stark benachteiligt, wer Geld hat, kann das System manipulieren. Es ist dementsprechend ein mit Recht wütendes Buch und will die Leser*innen dabei mitreißen, um Aufmerksamkeit für strukturell diskriminierende Verurteilungspraxis und Strafvollzug zu generieren: Ein Thema, das in Gesellschaft und Politik regelmäßig zu kurz kommt. Zu sehr ist das kollektive Verständnis von Justiz und Gefängnis von Moralvorstellungen und Vorurteilen geprägt, die den Blick für soziale Fragen in dieser Hinsicht trüben. 

Dass das Gefängnissystem in seiner jetzigen Form nicht funktioniert, ist schon länger bekannt, aber ohne gesellschaftlichen und politischen Willen wird sich an diesem System nichts verändern. Insofern ist Steinkes aktivistische, teils polemische Schreibweise nachvollziehbar – es handelt sich um ein Debattenbuch, mit allen Stärken und Schwächen dieses Genres. Dabei entsteht neben der teilweise überspitzten Einseitigkeit des Textes der Eindruck, dass manche Aspekte links liegen geblieben sind, die das Buch differenzierter, aber auch weniger kompromisslos in seiner nicht unberechtigten Wut gemacht hätten. 

Zu Beginn heißt es beispielsweise: “Worüber man heute aber [in Bezug auf die Justiz] sprechen muss, das sind Mentalitäten, Vorverständnisse. Die Art, wie Menschen, die die Justiz prägen, auf die Welt blicken.” An dieser Stelle wäre erwartbar gewesen, dass der Autor neben Klassenunterschieden auf strukturellen Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung eingeht, auch wenn die soziale Frage im Mittelpunkt des Buches stehen soll. Im aktuellen Diskurs und nach dem Stand der Wissenschaft können diese Phänomene kaum als getrennte Probleme behandelt werden. Ihre beinahe vollständige Vernachlässigung im Verlaufe des Buches fällt negativ ins Gewicht, auch wenn am Ende der Einleitung die Problematik des Ausdrucks “Klasse” erwähnt wird, da dieser ein komplexes Thema unkompliziert erscheinen lasse und Steinke en passant anmerkt, dass viele der im Buch thematisierten Mechanismen überproportional auf “Menschen mit Migrationshintergrund” zutreffen. Eine stärker intersektionale Perspektive wäre hier durchaus sinnvoll gewesen. 

Besonders unglücklich mit Blick auf die Thematik ist, dass die Autor*innen des von Steinke in der Einleitung zitierten Essays “Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis” gerade die Bezeichnung “mit Migrationshintergrund” in diesem Bereich als problematisch betrachten, da damit suggeriert würde, dass nur Menschen mit Migrationshintergrund strukturellem Rassismus ausgesetzt seien. In derselben Fußnote gewinnt man zudem den Eindruck, der Autor spiele die Bedeutung des Merkmals People of Colour für den Gegenstand des Buches herunter, mit Verweis auf zum Teil zwanzig Jahre alte Sozialforschung. Dieser Eindruck erhärtet sich im Verlauf des Buches, wenn – erneut in einer Fußnote – die Ergebnisse einer entsprechenden Studie zu Untersuchungshaft und Aufenthaltsstatus angezweifelt werden, oder Praxisfälle unter expliziter Erwähnung der Herkunftsländer der Angeklagten erläutert werden, ohne jedoch strukturelle Diskriminierung zu erwähnen. 

Intersektionale Perspektiven

Wie eng verschiedene Arten struktureller Diskriminierung mit der Frage der Gleichheit vor Gericht zusammenhängen, wird beispielsweise im britischen Diskurs immer häufiger thematisiert. Unabhängig von der Frage der konkreten Vergleichbarkeit der Justizsysteme, kann angenommen werden, dass grundlegende Probleme in ähnlicher Form auftreten. So erzählt Alexandra Wilson in ihrem Buch In Black and White von ihren Erfahrungen als nicht-weiße Anwältin in einem Justizsystem, das auf einer Klassengesellschaft beruht und setzt sich dezidiert mit den Verstrickungen von Race and Class in a Broken Justice System auseinander. Die Juristin und Autorin Shon Faye wiederum zeigt in ihrem Buch The Transgender Issue den engen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, dysfunktionaler Justiz und der Diskriminierung von trans Personen auf. Auch in The Secret Barrister – Stories of the Law and How it’s Broken werden gerade in Bezug auf die Besetzung des Schöffenamtes intersektionale Aspekte aufgegriffen. 

Nicht zuletzt wird in Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich ganz überwiegend der Eindruck vermittelt, Richter*innen und Staatsanwält*innen seien stets desinteressiert an den sozialen Implikationen ihrer beruflichen Entscheidungen und dass sich daraus zwei diametral gegenüberstehende Lager ergeben würden: diejenigen, die innerhalb des Justizsystems arbeiten und es uneingeschränkt befürworten, und diejenigen, die außerhalb des Justizsystems stehen und es grundsätzlich verneinen. Ohne Frage leidet das Justizsystem an beträchtlichen Problemen und sicherlich gibt es auch Justizbeamt*innen, deren Empathie zu wünschen übrig lässt. Eine Simplifikation sowohl des Systems, als auch der darin arbeitenden Personen, ist jedoch in dieser Form verfehlt und wenig konstruktiv. 

Trotz diskutabler Unzulänglichkeiten in der Umsetzung handelt Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich von überaus wichtigen Themen, die zu selten im Rampenlicht stehen oder überhaupt bekannt sind. Steinke leistet damit einen Beitrag zur gegenwärtigen Tendenz lange etablierte Strukturen auf ihre diskriminierende Auswirkungen zu untersuchen, statt sich mit dem status quo zufrieden zu geben und bietet in diesem Sinne am Ende des Buches auch konkrete Verbesserungsvorschläge. Denn, so wie Steinke und viele andere in diesem Kontext bereits zitiert haben: den Stand der Zivilisation einer Gesellschaft erkennt man bei einem Blick in ihre Gefängnisse.  

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Copaganda? – „Brooklyn Nine-Nine“ und die Darstellung von Polizeigewalt

von Isabella Caldart

Dieser Text enthält Spoiler für die finale Staffel von „Brooklyn Nine-Nine“

„Brooklyn Nine-Nine“ ist nicht nur eine witzige und populäre Sitcom, das fiktive 99. Revier gilt für viele Fans auch als Idealvorstellung, wie die echte Polizei sein sollte. Die Serie ist in vielerlei Hinsicht fortschrittlich: Der Cast ist sehr divers (Stephanie Beatriz und Melissa Fumero erwähnten in Interviews öfter ihre anfänglich große Überraschung darüber, dass zwei Latinas in Hauptrollen gecastet wurden), aber niemals stereotyp erzählt, die Witze werden nicht auf Kosten marginalisierter Gruppen gemacht, und obwohl es sich um eine Sitcom handelt, schreckt sie nicht davor zurück, auch ernste Themen zu behandeln.

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