Über Rechte reden – Lukas Rietzschels Theaterstück über den Aufstieg der AfD

von Peter Hintz

In Sachsen, Thüringen und Brandenburg stehen im Herbst Landtagswahlen an. Proteste gegen die AfD haben schon jetzt begonnen und das mediale Interesse am Osten aus ostdeutscher Perspektive ist groß. Das kann allerdings auch zu Verstimmungen führen. Der Görlitzer Schriftsteller Lukas Rietzschel etwa klang vor wenigen Wochen im Gespräch mit der WELT irritiert, als er meinte, dass er “quasi zum Ostbeauftragten der deutschen Gegenwartsliteratur” erklärt worden sei. Das kann ein bisschen verwundern, denn seit seinem sehr erfolgreichen Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen (2018) schreibt Rietzschel über eigentlich nichts anderes als den Osten. Und passend zum politischen Kalender gibt es auch dieses Jahr einen neuen, viel beachteten literarischen Text von Rietzschel zur ostdeutschen Nachwendegeschichte. Es trägt den Titel Das beispielhafte Leben des Samuel W. und erzählt vom Aufstieg eines fiktiven AfD-Politikers in der ostdeutschen Provinz. Es handelt sich um ein Theaterstück, das unter der Regie von Ingo Putz derzeit in Zittau uraufgeführt wird, also in Rietzschels ostsächsischer Heimat.

Für das Stück hat Rietzschel nach der Görlitzer Oberbürgermeisterwahl 2019, bei der ein Sieg der AfD nur durch ein von der CDU angeführtes Parteienbündnis verhindert werden konnte, 100 Menschen aus der Region interviewt. Diese Aussagen aus der Bevölkerung wurden zu einem Dramentext verdichtet. Das beispielhafte Leben des Samuel W. wird durch ein kleines Ensemble von Darsteller:innen gespielt. Zwei Frauen und drei Männer übernehmen die ständig wechselnden Sprechrollen. Die erzählte Zeit fließt schnell zwischen minimalistisch angelegten Szenen dahin, eine namenlose Stadt im Osten. Alle Figuren sind weiß gekleidet, so wie auch fast das gesamte Bühnenbild, ein kleinbürgerliches Haus mit Vorgarten, weiß angestrichen ist. Das Grundstück befindet sich im kontinuierlichen Umbau, immer wieder kommen neue Annehmlichkeiten hinzu. Dazwischen werden Filmsequenzen aus dem verzweifelten Wahlkampf gegen Samuel W. eingespielt. Über allem steht hinten auf der Bühne eine weitere Figur auf einem Podium und gestikuliert langsam und intensiv mit dem ganzen Körper, sagt während des gesamten Stücks aber nichts. Grau gekleidet, könnte sie Samuel W. selbst sein, aber ganz klar ist das nicht. Samuel W. ist ein Enigma, über das man nur aus den oft widersprüchlichen Beschreibungen und Meinungen anderer erfährt. Rietzschels gesammelte Zitate, Stimmen und Erinnerungen sind auf diese Figur ausgerichtet.

Man erfährt, dass Samuel W. in den frühen 1980er Jahren in einer Braunkohlegegend geboren wurde, die man nach der Wende stillgelegt hatte. Seine Schulzeit verbrachte er im Osten, studierte dann im Westen und wurde Polizist, der für eine Verschärfung des Straf- und Asylrechts eintrat. Zurück im Osten ging er schließlich in die Kommunal- und Landespolitik. Das entspricht in etwa der faktualen Biografie des Görlitzer AfD-Bürgermeisterkandidaten und Landtagsabgeordneten Sebastian Wippel. Rechtsradikaler Aktivismus, der für das literarische Vorbild umfassend belegt ist, wird im fiktionalen Text aber zur Perspektivenfrage, weil dort alle Aussagen über Samuel W. letztlich dem Interpretationsprinzip unterliegen: Figur A meint dies über ihn, Figur B jenes. In vertauschten Rollen verhört auf der Bühne ein vermummter Mann einen Polizisten über Samuel W. Nach Aussage des Intendanten des Görlitzer Theaters in der WELT brauche es “eine neue Lust am Streit.” Was er an den “16 Jahre[n] Merkel” anprangern wollen würde, wäre: “das Verschwinden des politischen Meinungsstreits.” 

Eigentlich geht es im Theaterstück aber gar nicht um Samuel W. als Streitobjekt. Im Gegenteil: Der dramatische Kniff ist die Kollektivierbarkeit der Biografie des fiktiven Politikers. Es sollen gesellschaftliche Ursachen für den Rechtspopulismus sichtbar und nachvollziehbar gemacht werden. Rietzschels Intendant erklärt: “Ich kann Protestwähler verstehen, weil ich den Protest und die Unzufriedenheit verstehen kann.” Im Zentrum des Dramas stehen die Beobachter:innen von Samuel W., in deren Erinnerungen an ihn bestimmte gemeinsame Erfahrungen und Haltungen durchscheinen, die für strukturschwache Regionen im Osten so typisch seien, dass sich das örtliche Publikum selbst irgendwo mit ihnen identifizieren können soll. Diese Perspektiven gehören überwiegend zu Generationen, die älter sind als der 1994 geborene Rietzschel. Es tauchen direkte und klare Erinnerungen an die DDR auf, berufliche Lebensläufe, die in der Wendezeit unterbrochen wurden, und es geht um Karrieren, die spätestens in den 2000er Jahren einen Neustart erlebten. Einer sagt: “Die 90er Jahre waren die schönste Zeit meines Lebens.” Eine andere meint: “Die 90er? Das waren schreckliche Jahre!”

Rietzschels ‘kollektive Autobiografie’ einer deutschen Krisenzeit erinnert ein wenig an Walter Kempowskis Echolot-Projekt. Im Echolot (1993-2005) verschränkte Kempowski Zitate aus Tagebüchern und Briefen, aber auch autobiografischer Erinnerungsliteratur, zu einer gigantischen mehrbändigen Collage von Stimmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese Collage war ein Panorama der Endphase des Nationalsozialismus, das verschiedene Beobachter, Teilnehmer- und Opferperspektiven nebeneinander stellte. Daraus ergab sich nicht nur eine kollektive Erzählung dieser Zeit. Der Text zeigte auch, dass Erinnerung und Vergessen, Vorstellungen von Identität und Dissens mit der Form des Erzählens zusammenhängen.

Rietzschels Theaterstück über die deutsche Nachwendezeit ist allerdings im Gegensatz zum Echolot-Projekt betont humorvoll. Der opportunistische sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer wird als Unterstützer der regionalen Konfitüreproduktion verspottet. Im Kapitalismus werde man für Geld ausgebeutet, im Sozialismus für Überzeugungen, heißt es in einer anderen Szene. Da muss man sich nicht immer so ernst nehmen. 

Dieser gut gemeinte melancholische Humor von und über Menschen aus dem Osten kann das Stück auch wie eine Art sächsische Hillbilly Elegy wirken lassen. Unter diesem Titel veröffentlichte der amerikanische Autor und heutige republikanische Senator J. D. Vance im Jahr 2016 eine autobiografisch informierte Reportage der deindustrialisierten Rust Belt-Provinz. Das Buch wurde im öffentlichen Diskurs schnell zum wichtigen Erklärbuch für den Erfolg von Donald Trump gemacht, wobei Vance seitdem selbst zum aussichtsreichen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft unter Trump avanciert ist. Hillbilly Elegy zeichnete einen Wandel von kulturellen Werten und ökonomischen Strukturen nach, die eine sozial desillusionierte und traumatisierte weiße Arbeiterschaft zurückgelassen haben – wobei für Vance ein angeblicher moralischer Verfall verantwortlich war.

Ganz ähnlich wie der Roman Mit der Faust in die Welt schlagen soll Das beispielhafte Leben des Samuel W. aber betont undidaktisch sein, um mehrdeutigen Diskussionsstoff zu liefern. In Rietzschels eigener Beschreibung, die dem Programmheft als Interview beigefügt ist, “enthält [der Text] nichts Diffamierendes, sondern viel Wahres. Und es gibt immer auch Ambivalenz. […] Das Stück ist der Versuch einer sehr ambivalenten Betrachtung deutscher Geschichte.” Passenderweise besteht das Publikum zur Vormittagsaufführung mindestens zur Hälfte aus Schüler:innen, die per Reisebus direkt nach Zittau eingefahren worden sind.

An Samuel W.s Kindheit gibt es widersprüchliche Erinnerungen, bewusst keine vorhersehbare Biografie der späten DDR und der sogenannten Baseballschlägerjahre. So wird er von manchen als jemand erinnert, der zu Schulzeiten als “Führer” seiner Freundesgruppe galt und wie Hitler immer einen Ledermantel mit doppelter Knopfreihe getragen hat. Auch als jemand, der ideal für den Eintritt in die NVA gewesen wäre oder besonders intelligent gewesen sei. Von anderen wird er wiederum als farblose Gestalt oder als Einzelgänger, der nicht dazugehörte, beschrieben. Erinnerungen an die DDR tauchen auf und werden in Frage gestellt. Das ist als Komödie mit absurden Zügen sehr unterhaltsam und künstlerisch gelungen. Keine Minute des Stücks wirkt verschwendet. Eine Grundlage für den viel beschworenen neuen gesellschaftlichen Dialog ist es aber nicht. Einige Zuschauer:innen werden ähnliche Erinnerungen an die Wendezeit haben wie die Figuren auf der Bühne. Andere werden zumindest drüber lachen. Aber wer soll sich trotz mancher biografischer Überschneidungen ernsthaft in den Lebensbeschreibungen eines fiktionalisierten rechtsradikalen Politikers wiedererkennen können, der nicht sowieso schon mit seiner Partei sympathisiert?

Diese Versuche, neue Bewusstseinszustände zu provozieren, machen das Stück dann doch ziemlich lehrhaft. Denn darin passiert auch sonst nicht viel anderes, als dass man Erinnerungen und Zitatfetzen aus dem politischen Diskurs der letzten 35 Jahre hört, die sich wie Punkte auf einem Raster zur Erklärung eines Lebenswegs an den rechten Rand zusammensetzen sollen. Der Protagonist als selbstständige Figur taucht dagegen bekanntlich überhaupt nicht auf. Auf gewisse Weise kommt Rietzschel damit Kritiken an Mit der Faust in die Welt schlagen entgegen. Diese Jugendgeschichte war manchen zu impressionistisch, anderen zu universal. Im Drama wird nun nach Herzenslust sozialanalysiert. Kausalverhältnisse sind trotzdem nicht immer klar, doch dafür sind wir im Theater. Es hilft also, das Erklärmuster schon vorher zu kennen.

So werden ununterbrochen Erfahrungen von Deklassierung und zunehmender Abgrenzung geschildert, die als Symptome des Strukturwandels zu deuten sind. Eine Frau erwähnt ihre Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (“ABM”) in den 1990er Jahren, Familien ziehen weg und Schulklassen leeren sich aus. Ein neues “Betriebssystem” BRD müsse eingelernt werden. Eine Figur erinnert sich, dass sie als Kind “Frührentner” werden wollte. Im Programmheftinterview geht es Rietzschel um Themen wie neoliberale Privatisierung, “Filterblasen” auf Social Media und um einen Mangel an Gemeinschaftsgefühl und politischem Engagement im Osten. So stellt etwa eine Szene im Stück den Wechsel von Samuel W. von der FDP zur AfD dar, was die Rolle von kapitalistisch-egozentristischen Fantasien im Weltbild von ostdeutschen AfD-Anhängern illustrieren soll. Deutscher Tanktourismus in Polen und Stereotype über faule Griechen werden vorgeführt.

Ebenso taucht Thilo Sarrazins migrationskritisches Sachbuch Deutschland schafft sich ab (2010) auf, genauso wie der Stasi-Film Das Leben der Anderen (2006), der auf der Bühne als “westdeutsch” abgelehnt wird. Beides soll die Internalisierung bestimmter spaltender Narrative zeigen, die heute wirkmächtig sind. Sächsisch habe sich Samuel W. im Westen abtrainiert, jetzt spreche er es wieder. Erstaunlich knapp werden die Flüchtlingswellen der 2010er Jahre diskutiert, das Aufkommen eines neuen Nationalismus, Corona- und Bauernproteste und Unzufriedenheit mit allem. Damit ist die Radikalisierung erstmal abgeschlossen, die Demokratie nur noch Theater. Zur Abwechslung gibt es ein paar Stimmen, die eher soziologisch klingen und neue Klassentheorien referenzieren oder über Männlichkeit im Osten fachsimpeln, als ob da der Autor Rietzschel selbst parodiert werden sollte.

Im Programmheft meint Rietzschel über sein Drama, “[v]ielleicht ist es gar nicht das beispielhafte Leben des Samuel W., sondern unser aller Leben, eher eine Kollektiv-Erfahrung.” Auch wenn Rietzschel recht hat, dass es überall an Solidarität mangelt, sind viele im Stück erzählte Erfahrungen aber doch sozial recht spezifisch. Natürlich ist diese Regionalität auch so beabsichtigt, denn zumindest der Selbstdarstellung des Autors nach richtet sich das Stück nicht an den impliziten Feuilletonisten aus Frankfurt am Main. Ein lokales Publikum ist als Adressat der Gesellschaftssatire zu denken, auch wenn Zittau eigentlich nicht für den Görlitzer Oberbürgermeister verantwortlich ist. Das Stück repräsentiert Erfahrungen und Wahrnehmungen von Menschen aus einem Bundestagswahlkreis in Sachsen, der 2021 mit fast 36% den AfD-Bundesvorsitzenden Tino Chrupalla als Direktkandidaten wiedergewählt hat.

Aus einer solchen ostdeutschen Gegend werden aber überwiegend Erfahrungen von Menschen geschildert, die spätestens in den 1990er Jahren erwachsen wurden. Und aus dieser Untergruppe überwiegen suggestiv die Wahrnehmungen von Leuten, die heute mit rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Positionen sympathisieren. Das soll weder Verbreitung und Gefahr noch mögliche Kausalitäten solcher Diskurse kleinreden. Sicherlich unterscheidet sich der Text aber nicht unerheblich von vielen anderen ostdeutschen Perspektiven im Publikum – als ob das Stück eigentlich die Schwierigkeit einer kollektiven Autobiografie einer pluralen Gesellschaft über 30 Jahre nach der Wende vorführen wollte.

Foto von Robert Zunikoff auf Unsplash

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