von Slata Roschal
Der Frühling brachte mir dieses Jahr, neben all seinen Einschränkungen, Ängsten und praktischen Ärgernissen, langsam, teils widerwillig die Fähigkeit zurück, Bücher zu lesen. Ich begann mit Camus´ Die Pest, neugierig und unsicher, verlangte vom Text keine Argumente für Dissertationsthesen oder Schlagwörter für Moderationsfragen. Der Druck nahm ab, im Literaturbetrieb immer irgendwie anwesend bleiben zu müssen, alle waren irritiert und verschüchtert und ich hörte beinahe auf, Bewerbungen für Stipendien zu verschicken und mich an Facebook-Diskussionen zu beteiligen. Bislang glaubte ich, mit Migrationshintergrund, als Frau, mit einem Kind, mit Faktoren also, die für einen beruflichen Aufstieg nicht unbedingt nützlich sind, immer in Anspannung, in ständiger Einsatzbereitschaft bleiben zu müssen, wenn ich mich denn mit gutem Gewissen irgendwann als Schriftstellerin bezeichnen wollte.
Manchmal fand ich in diesen Wochen keinen Anschluss an reale Dinge mehr, saß tagein, tagaus vor dem Computer, spürte eine große Müdigkeit von den endlosen Aushandlungen um Status und Selbstbestimmung, von unzähligen Wörtern, Texten, Gesten, die im dichtesten Geflecht an symbolischen Strukturen erst einen Zweck erfuhren. Die Vorstellung, durch Fleiß und Mehraufwand symbolische Hürden zu überwinden, die Spielregeln einer deutschen Schulklasse etwa oder eines Literaturbetriebes verstehen und imitieren zu lernen, erwies sich plötzlich als überholt und es trat ein Stillstand, eine Leere ein.
Warum ist alles, was ich mache, selbst im kleinsten Maßstab mit einer Art Selbstvermarktung verbunden, fragte ich mich, sind es die Folgen eines Autorschaftskonzepts, das mir missfällt, oder bin ich zu schwach, um die Folgen meiner Wünsche zu tragen. Aus einer massiven Unzufriedenheit mit mir und allem um mich heraus spürte ich einen Wunsch, nach irgendwas Realem zu greifen, nach etwas, das nicht zwangsläufig weiterverwertet werden muss, an und für sich einen Sinn hat und dessen Zweck in sich selbst begründet liegt. Während ich mir diese Fragen stellte, kam der Sommer, dann der Herbst. Es gibt Jahre, die als ein Ganzes vor sich hin ziehen und vergehen, dieses Jahr aber erlebe ich bewusst und unterscheide Jahreszeiten voneinander. Corona steht für Tod, dachte ich, verspricht eine Beruhigung und Wertschätzung des Gewohnten, der Tod, der Herbst, also suchte ich zuhause nach einer schmalen Reclamausgabe, nach Trakl als Drittem im Bunde.
Hier, dachte ich, das Heftchen in der Hand, ist das etwa kein Beweis, dass ohne Präsenzlesungen und Interviews und open mike und Bachmannpreis und all dem, was mich alles so nervös macht, dass es hier doch selbstgenügsame Texte gibt, wie ich sie haben will. Trakl erlebte einen Krieg, wie wir ihn nie verstehen werden, starb mit siebenundzwanzig, in einem Alter, in dem sich heute viele noch als jung bezeichnen würden. Zum ersten Mal habe ich Trakl in der Schule im Deutschunterricht gelesen, Trakl und Büchner, die Einzigen, die ich gemocht habe. Damals mit vierzehn gefiel mir der Gedanke, früh zu sterben und etwas Kostbares zu hinterlassen, mit fünfundzwanzig habe ich sein Museum in Salzburg besucht; ein stilles, verstecktes Haus, für das sich nicht mal Touristen interessierten, mit achtundzwanzig habe ich wieder nach ihm gesucht.
Nun zuhause, mit dem Reclambändchen, kommen mir die Texte zum Vorsprechen und Vorsingen vor:
O die roten Abendstunden!
Flimmernd schwankt am offenen Fenster
Weinlaub wirr ins Blau gewunden,
Drinnen nisten Angstgespenster.
oder
Rötlich steigt im grünen Weiher der Fisch.
Unter dem runden Himmel
Fährt der Fischer leise im blauen Kahn.
oder
Indes wie blasser Kinder Todesreigen<
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.
Es sind schlichte Worte, klare Rhythmen, ein melancholisches Entzücken, ich lese den Verfall morgens beim Aufstehen und abends beim Einschlafen laut vor mich hin, frage mich, wie etwas so Einfaches so rührend sein kann. Auch die zärtlichste, lakonischste Liebesbekundung, die ich je gelesen habe:
Wo du gehst wird Herbst und Abend,
Blaues Wild, das unter Bäumen tönt,
Einsamer Weiher am Abend.Leise der Flug der Vögel tönt,
Die Schwermut über deinen Augenbogen.
Dein schmales Lächeln tönt.Gott hat deine Lider verbogen.
Sterne suchen nachts, Karfreitagskind,
Deinen Stirnenbogen.
Ein Trakl würde heute kaum mehr funktionieren, wollte man ihn parodieren, er wäre auch kaum mehr auszuhalten, würde in Kitsch übergehen, aber Trakl so, wie ich ihn lese, ist nicht kitschig, ganz und gar nicht. Vielleicht liegt es an einer Ästhetik, die nah genug an der Gegenwart ist, um ihr folgen zu können, und entfernt genug, um auf eine Wertung zu verzichten, sie als eine historische, abgeschlossene Tatsache zu begreifen. Trakl ist eine Tatsache, etwas Reales, wonach ich gesucht habe, das ich außerhalb von Konkurrenz und Selbstdarstellung genieße. Wie auf alten Gemälden reihen sich rote, braune, goldene Töne aneinander, romantisches Vokabular trägt einen bitteren Geschmack. Es fühlt sich gut an, dass die Gedichte da sind, ruhig, geduldig, wie Steine oder Bäume. So eine Besinnung auf den Tod hinaus, überlege ich, wäre Trakl nicht gut für uns, um eine selbstironische Freude zu bewahren, die moosigen Blicke des Wilds, die Schuld des Geborenen, Münder, die Wunden gleichen, die dunkle Angst / des Todes schließlich auszuhalten, den wieder einsamen Vorgang des Lesens ─
Photo by Kristian Seedorff