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Erst jetzt haben wir erfahren, dass Chuck Tingle, der Doyen der Porno Parodie, schon im Juni ein neues Werk vorgelegt hat, das den vielversprechenden Titel Trans Wizard Harriet Porber And The Bad Boy Parasaurolophus trägt. Und das scheint uns eine Nachricht zu sein, von der wir in diesen Zeiten eigentlich viel mehr gebrauchen könnten. Wie überhaupt das Genre der Erotica mal wieder viel früher als alle anderen der wichtigen Pflicht von Literatur, uns Trost zu spenden, nachkommt – und sei es auch nur durch das Kichern über Geschichten, in denen Menschen Sex mit dem Virus haben. Und apropos Sex und Harry Potter: Hier ein vorbildliches Stück Kulturjournalismus über das Phänomen der “Snape Wives”, die eine eigene Untergruppe des Harry-Potter-Fandoms bilden und Energie vor allem in die Vorstellung steckt, wie es wäre mit dem offenbar falsch verstandenen Severus Snape verheiratet zu sein.
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Über einen neuen Fall des Geschichtenklaus berichtet die Süddeutsche Zeitung. Die Journalistin Hélène Devynck wirft ihrem Ex-Mann, dem französische Schriftsteller Emmanuel Carrères, vor, er habe in seinem neuen Buch “Yoga” gegen ihren Willen über sie geschrieben. Das ist nun nicht sonderlich schockiernd, denn solche Konflikte (Gern im Paket “Mann packt gegen Frau aus, aber es ist ja Literatur”) gehören zur Folklore des Literaturbetriebs. In diesem Fall scheint es aber eine regelrechte juristische Vorabsprache gegeben zu haben. “Devynck wirft ihrem Ex-Mann in der Vanity Fair vor, eine vertragliche Vereinbarung mit ihr gebrochen zu haben.” Man habe bei der Trennung vereinbart, dass er nie wieder über sie schreiben dürfe. Wir fragen uns: Kündigt sich hier eine neue Begleiterscheinung moderner Liebesgeschichten und ihres Scheiterns an? Muss im Zeitalter der Autofiktion in jeden Ehevertrag vielleicht eine Nicht-Narrativierungsklausel eingefügt werden, um zu verhindern, dass der ehemalige Ehepartner zum literarischen Paparazzo des eigenen Lebens wird?
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Wir haben den Trailer des Films “Enfant Terrible” über das Leben von Rainer Werner Fassbinder gesehen, und wie sollen wir das vornehm ausdrücken: It looks like shit. Es reicht wohl nicht zu zeigen, dass Fassbinder offenbar vor allem ein tyrannischer Regisseur mit Geniekomplex war, nein, man muss auch alles aus der Klischeekiste ziehen, was der Mythos deutscher Autorenfilm hergibt. Da darf Oliver Masucci als Fassbinder Sätze sagen wie “Alles ist Film, alles” und auf Vorbild Godard verweisen. Der scheiße nämlich auf Regeln und mache, was er will. Rebell, yeah. So geht es weiter mit dem Heraufbeschwören der Authentizität, was immer das heißen mag, außer, dass gesoffen, geraucht und Frauen vor der Kamera geschlagen werden, weil das halt Film sei. Wir sagen das nicht gerne, aber vermutlich würde es sich mehr lohnen, noch mal einen Fassbinder-Film zu schauen.
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Eine kleine Gruppe von Menschen und ein König vergeben, wie jedes Jahr, einen Literaturpreis, und nachdem sich dieser Preis in den letzten Jahren endgültig als ziemlich üble Scherzveranstaltung entlarvt hat, bleibt uns eigentlich nur der Hinweis darauf, dass die Lyrikerin Louise Glück wohl nicht unverdient das schöne Geld einstreichen kann. Nicht verdient allerdings hat sie die Glosse, die in der Süddeutschen Zeitung zu diesem Anlass erschien, und in der die beiden Autoren eine Menge Spaß auf Kosten der Tatsache hatten, dass sie die Autorin vorher nicht kannten. Nicht Stockholm hatte in diesem Fall “den Feuilletons eine Nase” gedreht, sondern das Feuilleton sich selbst. Denn wenn man sich nicht grundsätzlich von Jubiläen, Preisen, Todestagen etc. vor sich hertreiben lassen würde, dann hätte man auch kein Problem damit, einmal etwas kurz zu recherchieren. Die Menschen können auch mal ein paar Tage auf ihre kulturellen Einordnungen warten.
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Wem gehört eine Geschichte – das ist eine Frage, bei der es meistens auch um Geld geht. In dieser sehr interessanten Geschichte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wird erzählt, wie die Drehbuchautorin Anika Decker die Produktionsfirma von Til Schweiger verklagt, weil sie angemessen am Gewinn des Films Keinohrhasen beteiligt werden möchte. Mittlerweile hat Anika Decker übrigens einen ersten wichtigen Sieg errungen: Sie darf “die Unterlagen und Abrechnungen einsehen, aus denen hervorgeht, wie viel die beiden Filme in ihren verschiedenen Auswertungen eingenommen haben.”
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Die Frankfurter Buchmesse musste dieses Jahr weitgehend ohne die Präsenz von wahlweise alkoholisiert marodierender oder verkatert schleichernder Literaturbetriebler:innen auskommen. Die allgemeine Trauer und Sehnsucht nach diesem Zustand bestimmte für ein paar Tage die Feuilletons. Hier wurde sie allerdings durch einen Lästerabend auf Zoom kompensiert. 54books kann an dieser Stelle nur sagen: Auch wir haben es vermisst.
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Es gab schon lustigere Jahre als 2020. Till Raether erzählt uns daher schon jetzt, was ihm in diesem Jahr so Freude gemacht hat.
Weil 2020 so ein unlöschbares Plastikmüllfeuer ist, fange ich meinen „Was mir dieses Jahr Freude gemacht hat“-Thread schon früher an (bemühe mich, wo möglich, plastisch zu beschreiben um Alt-Text im Tweet zu ersetzen)
— Till Raether (@TillRaether) October 2, 2020
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In der SZ reden (unabhängig voneinander) die Illustratorin und Zeichnerin Rotraut Susanne Berner und der Comiczeichner Felix Görman alias Flix über Geld. Beide berichten über die schlechten Konditionen im Betrieb. Zwar hat Berner inzwischen keine Probleme mehr mit den Konditionen. “Aber ich höre oft von jungen Illustratoren, die praktisch umsonst arbeiten, um gedruckt zu werden. Ich verstehe das, aber es ist eine Katastrophe.” Von dem Geld das als Rinnsal beim Illustrator ankommt, berichtet auch Flix: “Wenn man nur den Vorschuss sieht, dürfte man ein Comicprojekt gar nicht anfassen. Der liegt in der Regel zwischen 4000 und 6000 Euro. Davon kann ich zwei bis drei Monate leben, ich brauche für ein Buch aber ein Jahr, wenn es gut läuft. Wie sich das dann verkauft, weiß aber niemand. Damit kann ich also auch nicht wirklich rechnen.”
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Landauf landab war man sich einig, dass der Vorgang um Monika Maron und den S. Fischer Verlag nicht nur das Prädikat berichtenswert, sondern sogar besonders berichtenswert verdient. Keine Spur von der, noch während der Messe von Felix Stephan in der SZ beschriebenen, “ohrenbetäubenden Stille” im Betrieb: Von taz bis Welt, über MDR und ARD wird ausgerechnet, ob “Sarrazin + Tellkamp = Maron?” ergibt (Augsburger Allgemeine). Dabei hat sich doch nur ein Verlag von einer “Corona-Rebellin” (Nordkurier) losgesagt. Oder getrennt? Oder wurde sie gefeuert?
In der Zeit zumindest geht Iris Radisch von einem “herzenskalten Akt” gegenüber Maron aus. Auch sie bemüht eingangs Rechenspiele (Stand jetzt: 39 Jahre, 19 Bücher, nächstes Jahr: 80. Geburtstag der Autorin, aber kein 40. Verlagsjahr und kein 20. Buch), um sich dann – wie viele andere – erstaunlich zu verzetteln. Zwar berichtet sie, dass Fischer lediglich keine weiteren Bücher von M.M. verlegen, die alten aber gerne halten möchte, verweist aber im folgenden Satz direkt auf den staatlichen Zensor der DDR, der (höchst mittelbar) Maron erst zu Fischer brachte. Der Vergleich, der zumindest räumlich im Text sehr auffällig ist, von staatlicher Zensur mit Vertragsfreiheit ist recht weit hergeholt.
Dabei ist es für Radisch kein Argument, dass der neue Rechtsdrall von Maron durchaus für einige Unternehmen Anlass genug sein kann, keine weiteren Bücher mit dieser zu verlegen. Dass Fischer wiederum nicht heiß darauf ist, mit Kubitschek und Konsorten in einen Topf geworfen zu werden, lässt sie gelten und nimmt auch der Maron die Beteuerungen, sie hätte nicht gewusst, mit wem sie sich da eingelassen habe, nicht ab. Trotzdem sei “es nie eine gute Idee, Bücher nicht zu verlegen.” Was mindestens zweifelhaft ist. Bei dem Großteil der laut Statista im letzten Jahr über 70.000 veröffentlichten Bücher wäre es sicher eine gute Idee gewesen, diese nicht zu verlegen. Hier raunt es aber wieder im Subtext: Zensur, Zensur, DDR in Frankfurt (Main). Die “unverhältnismäßige Hartherzigkeit” bestand nun also einzig darin, das nächste Buch nicht zu verlegen. Der bereits angekündigte Essay Band wird laut Fischer auf Wunsch der Autorin nicht erscheinen. Unverhältnismäßiger Hartherzigkeit zieh mich heute morgen auch der Bäcker, da ich nur eines statt zweier Brote erwarb, gefolgt vom Kioskbesitzer, der mir übelnahm als Nichtraucher nicht doch eine Stange Zigaretten bei ihm gekauft zu haben. Auf dem Nachhause weg traf ich Thea Dorn. Die murmelte etwas von einem “fatalen Einschüchterungssignal” gegenüber Bäcker und Kioskbesitzer und zischte mir “moralisches Reinheitsgebot” hinterher.
Radischs Konklusio jedenfalls lautet, dass die Verjüngung des leitenden Personals in Verlagen dazu führe, dass eine “Geschäftsmäßigkeit ohne Traditionsgefühl” in die Häuser einzöge. Maron hätte man nicht vor die Tür setzen, sondern mit ihr streiten sollen.
Möglicherweise war Fischer aber einfach des Streitens müde, denn mit rechten Phrasen (“Der Islam gehört nicht zu Deutschland”, “Politiker müssen Muslimen ihre Grenzen aufzeigen”) macht Maron schon länger auf sich aufmerksam. Das ist zuletzt aber eine Zeitspanne, die in Radischs Rechnung gar nicht auftauchte: Seit Marons erstem “Der Islam gehört nicht zu Deutschland” im Tagesspiegel, sind ziemlich genau 10 Jahre vergangen. Diese Äußerungen gehören somit bei Maron schon zur Tradition, aber die will man ja bei Fischer nicht mehr.
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Ein weiterer großer Krach entzündete sich an einem Artikel des Musikkritikers Helmut Mauró in der Süddeutsche Zeitung. Dort fiel er mit der Hitze eines offenbar langglimmenden Ressentiments über den Pianisten Igor Levit her, dem er unter dem Vorwand, sein Legato tadeln zu wollen, unterstellte, sein politisches Engagement gegen rechte Gewalt sei selbst gewaltvoll. Das richtete sich vor allem gegen Levits Aktivitäten auf Twitter, eine Plattform, vor der Mauró mächtig Angst zu haben scheint, denn da etabliere sich ein “diffuses Weltgericht”. Wie gut, dass es mutig kleine Organe wie die SZ gibt, die als medialer David gegen diesen Goliath antreten kann… Der Artikel löste einen Sturm der Empörung aus, was wohl auch die Intention gewesen sein dürfte. Allerdings kann man sich aufmerksamkeitsökonomisch verzocken, und dann wird aus der Erhofften “Debatte” ein handfester Skandal, und man muss sich am Ende entschuldigen. Dem Text wurde plausibel vorgeworfen, er bediene antisemitische Tendenzen und betreibe, in Begriffen wie “Opferanspruchsideologie” eine ziemlich üble Täter/Opfer-Umkehr. Allerdings fanden sich natürlich auch Stimmen, denen es gar nicht gefiel, dass die SZ sich entschuldigt hatte. In einem Zeit-Artikel hieß es unter anderem: “Wer sich nicht dauernd im Netz tummelt, könnte es mit der Angst zu tun kriegen. Vor der Gnadenlosigkeit der Reflexe und vor Argumenten, die partout kein Gras mehr wachsen sehen wollen.” Es gehört zu den seltsamen Zeichen der Zeit, dass für einen Text, der maximal polemisch und hämisch auftritt, plötzlich Gnade eingefordert wird, wenn er in der Netzöffentlichkeit zur Verantwortung gezogen wird. Gnadenlosigkeit scheint offenbar immer noch ein Privileg zu sein.
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Twitter ist der Ort, wo die Gegenwart in ihrer ganzen Gegenwärtigkeit erzählt wird. Seit Mitte Oktober tobt auf Twitter auf dem Account von @gschnubbel die fiktionale, aber erschütternd lebensechte Saga um die Freundschaft von Carmen und Eva, zwei Mütter aus dem Prenzlauer Berg. Der Konflikt entzündete sich daran, dass Carmen den Kindern Weizenmehl gegeben hat. Wer wissen möchte, wie es weiterging, kann das hier nachhören.
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Ein ziemlich herrlicher Aufreger entfachte sich kurz und mit der Energie eines digitalen Vulkans an einem Artikel in der Zeit, wo die Erbin eines großen Vermögens, die sich nun in vagen Aktionismus für allerlei gute Zwecke einsetzen möchte, im Stil journalistischer Fanfiction porträtiert wurde. Als dann auf Twitter ein paar Menschen ihrem Missmut über diese Konstellation Ausdruck verliehen, erschien die Erbin prompt selbst, um ihren Kritiker*innen in einem, sagen wir mal, nicht gerade altruistischen Tonfall zu widersprechen. Wir können nur empfehlen, dieses Drama in einem Akt selbst nachzurecherchieren. Überhaupt hatten reiche Menschen keinen allzu würdevollen Monat. Kim Kardashian etwa erregte durch Bilder von einer kleinen aber feinen Feier auf einer privaten Insel (alle waren getestet) den Spott der Netzöffentlichkeit und inspirierte ein ganzes Meme. Dann wurde auch noch bekannt, dass eines der Geburtstagsgeschenke ein absolut gruseliges Hologram ihres 2003 verstorbenen Vaters war. Vielleicht bewegt sich die Postmoderne doch langsam auf den Strudel des absoluten Nichts zu. Wir sind gespannt.
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Sean Connery ist gestorben und wir haben noch mehr schlechte Nachrichten, nämlich, dass er diese monströsen Dinge in einem Interview von 1965 gesagt hat. Das ist betrüblich, aber nur halb überraschend. Immerhin ist die Figur, mit der Connery berühmt geworden ist, ein misogyner Predator. Aber vielleicht könnte das mal ein Anlass dafür sein, darüber nachzudenken, ob es bei der berühmten Trennung von Künstler und Werk, die ja dieser Tage überall eingefordert wird, nicht helfen würde, wenn man wenigstens den Menschen, die unsere Figuren verkörpern, nicht ständig ein Mikro unter die Nase halten würde. Wenn uns die Person hinter dem Werk nicht zu interessieren hat, dann sollte sie vielleicht einfach den Mund halten und sich wie ein Mensch benehmen. (Oder halt so).