von Lennart Rettler
Als der Mord am rechten Internetaktivsten Charlie Kirk in der Presse aufgearbeitet wurde, zeigte sich ein erhebliches Unverständnis vieler Printmedien für digitale Zusammenhänge. Teile des deutschsprachigen Journalismus schienen nicht in der Lage, bedeutende Codes zu dechiffrieren, kannten relevante Akteur:innen maximal oberflächlich und zeigten sich unsensibel gegenüber den Feinheiten der Digitalkultur. Berit Glanz schrieb in einem Newsletter zum Thema treffend: „Es ist ein zunehmend brennendes Problem, dass die etablierten Institutionen seit Jahren verweigern sich mit der Rolle von Onlinekultur auseinanderzusetzen, obwohl seit vielen Jahren Offlinegewalt aus Internetkultur entsteht.“
Was dem deutschen Journalismus zumindest in großen Teilen aktuell noch zu misslingen scheint, schafft der deutsche Dokumentarfilm mit Bravour und das bei ziemlich beschränkten Mitteln. In den letzten Jahren sind zahlreiche deutsche Dokumentarfilme entstanden, die auf eingängige Weise ein Gefühl für die Mechanismen und Abgründe des Internet- und Social-Media-Zeitalters erzeugen und dabei Protagonist:innen abbilden, die nicht nur singuläre Charaktere darstellen, sondern als Figuren für weit verbreitete und problematische gesellschaftliche Entwicklungen stehen.
Besonders hervorzuheben sind dabei die Filme Lord of the Toys (2018) und Goldhammer (2023), beide realisiert von André Krummel und Pablo Ben Yakov, sowie der Film Soldaten des Lichts von Johannes Büttner und Julian Vogel, der im Spätsommer 2025 in den deutschen Programmkinos lief. Ebenfalls erwähnt werden könnte der Film Pornfluencer von Joscha Bongard (2022), den ich hier jedoch nur am Rand berücksichtigen möchte.
Im kollektiven Diskurs haben diese Filme nur bedingt Beachtung erlangt. Während Lord of the Toys nach Gewinn des Leipziger DOK-Festival-Preises eine kleine öffentliche Kontroverse auslöste und so zumindest in den deutschsprachigen Feuilletons diskutiert wurde, gibt es für Goldhammer bislang nicht einmal einen Wikipedia Artikel. Soldaten des Lichts hat nach Ende der Kino-Präsenz gerade einmal 83 Reviews bei Letterboxd. Dabei leisten diese drei Filme – stellvertretend für den deutschen Dokumentarfilm – einen wichtigen Beitrag zum kollektiven Begreifen und Reflektieren über das digitale Zeitalter.
Lord of the Toys handelt von Max Herzberg alias Adlersson, einen damals (2018) 20-jährigen YouTuber, der über Spielzeugreviews, Unboxing-Videos und Vlogs berühmt wurde. Die Dokumentation begleitet den YouTuber und enge Wegbegleiter in ihrer Freizeit, die vor allem vom exzessiven Alkoholkonsum und spätpubertärem ‚Scheiße-Bauen‘ geprägt ist. Dabei zeigt die Kamera gleichzeitig, wie Adlersson aus seinem Alltag Online-Content macht und dokumentiert ungefiltert, wie die jungen Erwachsenen immer wieder Sprache, Codes und Symbole des Nationalsozialismus verwenden. An einer Stelle ist ein Hakenkreuz an der Wand in der Wohnung eines Freundes zu sehen, und der Name Hitler fällt häufig. Auch Rufe wie ‚Sieg Heil‘ sind im Film zu hören. Der Film gipfelt in einer Szene, in der die Freundesgruppe um Adlersson andere Besucher des Oktoberfests rassistisch beleidigt.
Goldhammer (2023) porträtiert über mehrere Jahre hinweg das vierte Lebensjahrzehnt von Marcel Gold(h)ammer (er lässt seinen Namen offiziell ändern, während die Dokumentation ihn begleitet, und fügt ein „h“ hinzu), ein ehemaliger Schauspieler und schwuler Escort, der sein Escort-Dasein einige Jahre öffentlich auf einem Blog begleitet. Der Film zeigt Goldhammer auf der Suche nach seinem beruflichen Glück, nachdem er sein Escort-Dasein niederlegt – vor allem, da ein ehemaliger Beziehungspartner diesen Wunsch äußert. Goldhammer versucht sich als YouTube-Anchorman und wird später Videograph für die AfD, für die er 2021 auch als Direktkandidat für den Berliner Bezirk Neukölln antritt. Wirkliches Glück scheint er dabei jedoch nicht zu finden. Heute ist er laut seiner Instagram-Biographie Essayist und Comedian.
Ein großer Teil der Dokumentation spielt in Israel und begleitet Goldhammers Leben dort. Bereits mit 18 Jahren konvertierte er zum Judentum, erhielt neben der deutschen auch die israelische Staatsbürgerschaft und leistete Wehrdienst in der Pressestelle der israelischen Armee. Eine Pointe, die der Film nicht mehr einfangen konnte: Im August 2025 trat Goldhammer offiziell aus der AfD aus. Als Begründung nennt er die Unterstützung der AfD für ein Aussetzen der Waffenlieferung an Israel, was er als Ausdruck mangelnder Unterstützung jüdischen Lebens in Deutschland versteht. Zuvor war er Vorstandsmitglied der „Juden in der AfD“ und Pressesprecher der „Alternativen Homosexuellen“.
In Soldaten des Lichts (2025) begleiten die Filmemacher Büttner und Vogel den Content-Creator David Ekwe Ebobisse alias Mister Raw, der in seinen Online-Videos vorrangig über roh-vegane Ernährung informiert. Dabei bewirbt er vor allem Ernährungsprodukte, die er selbst vertreibt, per Online-Shop und vor Ort in der Rohkosteria, einem mittlerweile geschlossenen Café in Frankfurt. Neben seiner Tätigkeit als Ernährungsinfluencer begreift sich Mister Raw als Reichsbürger. Die Dokumentation zeigt ihn auf Treffen mit Gleichgesinnten, wie unter anderem dem selbsternannten Oberhaupt des Königreichs Deutschland, dem im Mai 2025 festgenommenen Peter Fitzek.
Außerdem zeigt die Dokumentation Mister Raw als Anführer einer sektenähnlichen Kommune, in der er andere für (Roh)Kost und Logis für sich arbeiten lässt, unter anderem auch Timo, einen psychisch labilen jungen Mann, der unter Mister Raws Anleitung versucht, seinen Gesundheitszustand zu verbessern. Die Zuschauenden des Films sehen, wie Mister Raw versucht, andere für das Königreich Deutschland zu begeistern und wie er auf die Mitglieder seiner zusammengewürfelten Gemeinde – allen voran Timo – psychischen Druck ausübt.
Alle drei Filme sind stellenweise schwer anzusehen. Das liegt vor allem an ihren problematischen Protagonisten. Als Zuschauer:in muss man rassistische, verschwörungstheoretische und gewalttätige Äußerungen wie Handlungen aushalten. Es gibt gute Gründe, sich solchen Inhalten nicht auszusetzen. Doch was diese Filme deutlich machen, ist, dass all das öffentlich einsehbar passiert. Unser digitales Zeitalter bietet im Internet einen Nährboden für extreme und grenzüberschreitende Verhaltensweisen und diese sind für ein breites Publikum legitim bis erstrebenswert.
Der größte Verdienst dieser Dokumentationen liegt darin, ihre widersprüchlichen Protagonisten in notwendiger Detailtreue abzubilden. Dabei verzichten alle Filme auf einordnende Expert:innenstimmen und kommen mit einem Minimum an Infotafeln und Off-Kommentaren aus. Es sind beobachtende Dokumentationen, die gleichzeitig auf Authentizitätsstilmittel wie Sprachnachrichten und Zugaufnahmen der Berichtenden verzichten. Der Fokus bleibt konsequent bei den Protagonisten. Sie sind in dieser Hinsicht auch ein notwendiger Gegenentwurf zur auf Youtube in Kanälen wie Y-Kollektiv mittlerweile etablierten Formen des non-fiktionalen videogestützten Erzählens.
Besonders Lord of the Toys wurde dafür kritisiert, einem problematischen Protagonisten eine Bühne zu bieten. Doch man kommt nicht umhin festzustellen, dass Adlersson längst über eine Bühne verfügt, die deutlich größer ist als das Publikum von Lord of the Toys. Ähnliches gilt für Mister Raw, bei Goldhammer liegen die Dinge etwas komplizierter. Die Filmemacher nehmen den Performance-Spezialisten nicht die Bühne weg, wohl aber die Content-Hoheit und das ist als Effekt nicht zu unterschätzen. Natürlich wissen alle Protagonisten, dass sie während der Dreharbeiten gefilmt werden, auch wenn man beim Betrachten mancher Aussagen und Handlungen daran zweifeln könnte. Doch sie sind machtlos gegenüber dem Schnitt, gegenüber der Auswahl der Bilder und ihrer Komposition. In Soldaten des Lichts sehen wir, wie Mister Raw mehrere Anläufe und Vorab-Instruktionen benötigt, um ein Video mit Timo für seinen Instagram-Kanal aufzunehmen. Diese Gestaltungsfähigkeit verliert er, sobald die unabhängige Kamera von Julian Vogel ihn begleitet.
Wir leben in einer Zeit, in der wir die öffentliche Wahrnehmung unserer Person zunehmend zu kontrollieren versuchen, schlicht, weil wir das in Zeiten sozialer Medien können. Das gilt besonders für jene, die aus ihrer öffentlichen Persona Kapital schlagen. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass die Filmemacher diese Protagonisten für ihre Projekte gewinnen konnten. Im Gegensatz zu den Trendprodukten der Sportler:innen- und Vereinsdokumentationen (etwa Neymar: The Perfect Chaos oder Inside Borussia Dortmund) gelingt dabei jedoch nicht nur ein Pseudoblick ‚Hinter-die-Kulissen‘, sondern eine tatsächlich erkenntnisfördernde Begleitung der Abgebildeten. Dies ist sicherlich auch deswegen möglich, weil die Protagonisten von Lord of Toys, Goldhammer und Soldaten des Lichts abseits des Hochformats keine ausgebildeten Medienprofis sind und nicht von PR-Berater:innen unterstützt werden.
Dass die Protagonisten überhaupt bereit sind, sich von den Filmemacher:innen begleiten zu lassen und damit ein Stück Kontrolle über ihre eigene Darstellung aufzugeben, lässt sich auf zwei Eigenschaften zurückführen, die auch für ihre Präsenz in sozialen Medien zentral sind: ihr Streben nach Gewinn und damit verbunden ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit.
Adlersson, Max Goldhammer und Mister Raw agieren wie neoliberale Unternehmer im modernsten Sinne. Gewinn qua Sichtbarkeit trumpft alles, egal wie er erreicht wird. Es gibt eine Szene in Lord of the Toys, die das perfekt auf den Punkt bringt. Adlersson sitzt neben seinem Vater im Auto und sagt den Satz: „der Hausherr ist übrigens rechts“. ‚Der Hausherr‘ ist ein Spitzname für Sascha, einen Kollegen aus dem Dunstkreis Adlerssons, der unter diesem Pseudonym in Adlerssons Videos auftaucht. Adlerssons Vater reagiert auf diesen Satz mit der Frage „Was ist das eigentlich schon wieder für ein Quatsch?“ Adlersson entgegnet einfach nur mit Wiederholung: „Der Hausherr ist rechts“. Es gibt keinen Unterbau, kein Argument dafür oder dagegen, ob eben jener Hausherr nun wirklich rechts ist oder nicht. Es ist egal. Was zählt, ist, dass der Satz trägt. Oder wie Adlersson es seinem Vater schildert: „Es schmeckt dem Publikum jedenfalls und es wird nachgeahmt und das ist alles was zählt. Alles andere ist egal.“ Und so sehen wir gegen Ende des Films wie ein großer Pulk von Adlersson-Fans genau diesen Satz skandiert: „Der Hausherr ist rechts“.
Was nicht egal ist, ist, dass das was Aufmerksamkeit bindet und den Content-Creator:innen Gewinn verspricht, gewaltvolle Konsequenzen nach sich zieht. Auch bei Sascha, dem Hausherrn, zeigt sich dies deutlich. Der Film zeigt, dass Sascha ein junger Mensch mit akuten Problemen ist, unter anderem einer hohen Verschuldung. Am Ende erfahren die Zuschauenden, dass Sascha den Kontakt zur Freundesgruppe um Adlersson abgebrochen hat. In Goldhammer sehen wir wiederum, wie der Protagonist in seinem Streben nach Gewinn- und Aufmerksamkeit nicht nur seine Familie, sondern auch sich selbst verliert. In Soldaten des Lichts ist es der psychisch labile Timo, der unter der Kontrolle und den Forderungen von Mister Raw massiv leidet.
Wir können die problematischen Protagonist:innen und ihre Verhaltensweisen durch die Dokumentationen in einem notwendigen Maß verstehen und erleben sie dabei in all ihrer Radikalität, ohne dabei ihre Kanäle selbst aufrufen zu müssen. Wir verstehen ihre Motive, ihre Ziele, ihren Content, ihre Codes. Wir erlangen außerdem ein Gefühl für die Mechanismen digitaler Medien, die ihre problematischen Verhaltensweisen belohnen und fördern.
Die Dokumentationen sind aufgrund ihrer beobachtenden Machart nicht alarmistisch, aber sie zeigen doch deutlich, wie giftig die Verhaltensweisen der von ihnen abgebildeten Protagonisten sind. Vor allem helfen sie dem Publikum dabei die Protagonisten nicht nur als singuläre Fälle zu sehen, sondern schulen den allgemeinen Umgang mit der Beurteilung von Vorgängen in den sozialen Medien. Sie unterstützen die Zuschauer:innen dabei, sich selbstständig und kompetent durch digitale Sphären zu bewegen.
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Foto von Steve Johnson
