Das ist Zensur! Eine Anleitung

von Andrea Geier 

 

Verärgert. Gelangweilt. Fassungslos. So fühle ich mich in den letzten Jahren oft, wenn ich Artikel lese oder Interviews höre, in denen ich ohne begründeten Anlass vor angeblicher Zensur, dem Ende der Meinungsfreiheit, durch Political Correctness entfesselten „Moralismus“ bis hin zur dräuenden Diktatur (hier beliebte Vergleiche wie etwa die Reichsschrifttumskammer einsetzen) gewarnt werde.

Es ist immer gleich das ganz große Geschütz. Lieblingsbeispiele für das Geraune vom Untergang der Freiheit und angeblicher Zensur sind Vorschläge und Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache, Kritik an rassistischem Sprachgebrauch („Verbotskultur“) –, #metoo und die Kritik an sexualisierter Gewalt („darf man überhaupt noch flirten?“). Und nun, man staunt, steht der jüngste Offene Brief von Autor*innen an den Rowohlt Verlag in dieser Reihe. Das ist immer aufs Neue ärgerlich und gleichzeitig langweilig. Schaut man sich die Mechanismen an, lässt sich eine kurze Anleitung zur „kritischen Meinung“ erstellen, die hier zur Verfügung gestellt werden soll, damit mahnende Texte dieser Art in Zukunft noch weniger Mühe machen:

 

1. Verdrehe den Sachverhalt durch alarmierende Begriffe

Nenne jeden Verzicht ein Verbot. Nenne jede Aufforderung, über einen Verzicht nachzudenken, Zensur. Wenn es um berühmte Personen geht, tue so, als ob diese Personen Opfer von Verboten und/oder skandalöser Verfolgungen seien, obwohl sie tatsächlich weiterhin Handlungsmacht besitzen und große Aufmerksamkeit genießen.

 

2. Subsumiere den Sachverhalt unter falschen Kategorien und letzten Fragen

Behaupte, dass Verantwortung keine relevante Kategorie sei, wenn es um moralische Fragen gehe. Es zählen Gerichtsurteile! Tue so, als ob in diesem einzelnen Fall, den du skandalisierst, das große Ganze in Gefahr wäre. Es muss um „die Freiheit“ gehen, drunter machst du es nicht! Wenn du Alarm schlägst, muss es schließlich wichtig sein, also erkläre, dass genau in diesem einzelnen Fall eine grundlegende Bedrohung zu erkennen sei. Suche dafür knackige Begriffe wie „Weltpolizei“, die die Dimension der vermeintlichen Zensur-Gefahr veranschaulichen.

 

3. Erfinde eine machtvolle Gruppe, die du zu Gegner*innen erklärst

Behaupte, dass Menschen, die auf eigenes berufliches Risiko handeln, weil sie Verantwortung für mehr als für sich selbst übernehmen wollen, tatsächlich machtvolle Positionen, mindestens aber Einfluss hätten und raune, dass ihr Handeln unheilvoll für alle sei. Tue so, als ob es sich um eine einheitliche, geschlossene Gruppe handele und lasse keinesfalls erkennen, dass Menschen sich situationsbedingt in Gruppen zusammenfinden, weil das Interesse für dieses eine Thema sie zu einer gemeinsamen Aktion veranlasst hat. Behaupte, es gebe ein „Milieu“, das von einer bestimmten „Gesinnung“ getragen sei und greife einzelne Personen als prototypische Vertreter*innen heraus.

 

4. Erlaube dir alles und erkläre anderen, was Anstand ist

Grobe Klötze sind wichtig, spare nicht mit Ausdrücken! Sei dabei großzügig gegenüber deinen eigenen Widersprüchen: Erlaube dir unflätige Begriffe zu benutzen und einzelne Personen zu beschimpfen und fordere dabei gleichzeitig mehr Anstand, mehr Moral und mehr Respekt ein. Die anderen sind ein Problem für die Debattenkultur, du bist deren Hüter*in! Die „gute Sache“, die du vertrittst, verdient die verzerrende Dramatisierung!

 

5. Überrasche durch nicht naheliegende Vergleiche

Verteidige Menschen und Haltungen, die nach Maßstäben des gesunden Menschenverstandes dafür eher nicht in Frage kommen. Kümmere dich nicht darum, ob der Vergleichsmaßstab gerechtfertigt erscheint. Auch vollständig unpassende Fälle können mit etwas gutem Willen passend gemacht werden! Du erscheinst dann als jemand, der souverän über den Dingen steht. Behaupte, dass es um die Verteidigung von „Pluralismus“ ginge, wenn jemand konsequentes moralisches Handeln einfordert und auf Widersprüche hinweist. Verkünde: Nur wer alles zulassen könne, sei wahrhaft tolerant und für Meinungsfreiheit. Verteidige ruhig gerade das vollständig Abseitige und behaupte, dies sei sowohl Ausweis größtmöglicher Toleranz wie auch – wenn es um Kunst geht – ästhetischer Kennerschaft.

 

6. Bezeichne Stärke als Schwäche

Tue so, als ob Positionen unveränderlich seien. Bezeichnen jemanden, der einmal getroffene Entscheidungen mit guten Gründen revidiert, als schwach und als eine Person oder Institution „ohne Rückgrat“. Könnten – voraussichtlich oder auch nur möglicherweise – öffentliche Appelle zu Veränderungen von Positionen führen, sprich von Stimmungsmache, der man nicht nachgeben dürfe. Wo kämen wir hin, wenn Argumente im Einzelfall zählten! 

 

7. Sei konsequent und wiedererkennbar in deinem Alarmismus, aber auch kreativ

Achte stets auf dein Vokabular, damit sich keine Differenzierungen einschleichen (s. Verzicht = Zensur). Sei wiedererkennbar und konsequent in der Denunziation: Appellieren = verbieten, zensieren. Ein Bonus sind kreative Neologismen, die deine geneigten Leser*innen etwas schmunzeln lassen. Für „Fragen stellen“ kannst du nicht nur „reinreden“ oder „etwas vorschreiben“ verwenden, sondern zum Beispiel „moraltrompeten“ sagen! Zur Zeit kommen natürlich auch Ansteckungsmetaphern ganz gut. 

 

8. Geh aufs Ganze und bleibe dort

Wenn du sagst, dass die Freiheit stets die Freiheit der „Andersdenkenden“ meint, mach klar, dass du entscheidest, für wen dies gilt. Diejenigen, die du zu Gegner*innen erklärst, sind hier keinesfalls mitgemeint!

 

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