Es ist nicht leicht, sich Olivia Wenzels Prosa-Debüt 1000 serpentinen angst zu nähern, obwohl es sich um einen Roman handelt, den man trotz seiner knapp 350 Seiten schnell gelesen hat. So weit gespannt ist das Netz aus Themen, das die Autorin knüpft, dass man beim Sprechen darüber nie genau weiß, wo man mit seinen Betrachtungen anfangen soll, weil man fürchtet einem wichtigen Punkt nicht gerecht zu werden. Gleichzeitig spürt man, dass dieser Roman Leser*innen herausfordern will, weil Wenzel Bereiche miteinander in Verbindung bringt, die zwar alle in der deutschen Gegenwartsliteratur präsent sind, jedoch nicht vereint in einer Figur. Das führt dazu, dass die Themenfülle beinahe kognitive Dissonanz auslöst.
Wie komplex die Perspektive ist, aus der hier vor dem Hintergrund von Diskriminierung und derzeitigen Identitätsdiskursen erzählt wird, zeigt sich etwa in dem Moment, als die namenlose Protagonistin angesichts ihres sexuellen Begehrens für eine andere Frau, realisiert, dass sie dadurch in „die nächste marginalisierte Randgruppe“ fallen würde. Sie wurde als eines von zwei Zwillingskindern einer weißen Frau aus der DDR und eines schwarzen Mannes aus Angola in den zerfallenden Sozialismus der 80er Jahre hineingeboren und wuchs mit ihrer alleinerziehenden Mutter und ihrem Bruder in die turbulenten Wendejahre hinein, erlebte Rassismus und Hass, aber auch die Kämpfe der eigenen Mutter mit dem Staat, der Erziehung und sich selbst. Jetzt, nach dem Suizid ihres Bruders auf einem Bahnsteig, leidet die Protagonistin unter einer Angststörung und muss sich in ihrem Leben neu zurechtfinden. Da erscheint die Aussicht, sexuelle Lust für eine Frau zu entwickeln, der Protagonistin wie eine zusätzliche Möglichkeit wegen ihrer Identität Ausgrenzung und Diskriminierung zu erfahren. Durch biografische Zufälle gerät die Protagonistin in ein Cluster aus Identitätsfragen, die jeweils mit verschiedenen Formen von Diskriminierung in Verbindung stehen.
Das Problem mit der Banane
Wenzel, die wie ihre Protagonistin als Tochter einer weißen Frau und eines schwarzen Mannes in der DDR geboren wurde, betont, ihre namenlose Figur sei nicht sie selbst, sondern eine düstere Variante von ihr, die ähnliche Dinge erlebt habe. Autofiktional sei das Buch aber dennoch. Letztlich ist nicht von Belang, ob man den Roman autobiografisch, autofiktional oder rein fiktional liest. Die Autorin erzählt differenziert und reflektiert von einem Leben, das sich in seiner ganzen Komplexität in Diskurse der Gegenwart einschreibt, über subjektive Erfahrungen hinausweist und dabei doch individuell bleibt. Dabei zeigt sich exemplarisch, wie komplex die mehrfache Diskrimierungserfahrung der Protagonistin in der deutschen Gegenwartsgesellschaft ist, als sie erklärt, was für sie das dreifache Problem mit dem Essen einer Banane ist: Sie als schwarze Frau aus der ehemaligen DDR kann nicht einfach eine Banane essen, ohne, dass sie in ein assoziatives Gefüge aus Rassismus, Sexismus und sogenannten Ossi-Witzen gerät. Diskriminierung ist intersektionell und dies wird an dem Bild mit der Banane auf drastische Art deutlich.
Im Zentrum dieses Netzes aus zugewiesenen und tatsächlichen Identitäten steht das Schwarzsein. Hier zeigt sich die ganze Stärke der Erzählstimme, die großen Teilen des deutschen Literaturbetriebs wiederholt die eigene normierte Perspektive aufzeigt. Das geschieht schon durch die selbstverständliche Markierung von Personen als weiß – so simpel und für die deutschsprachige Literatur so ungewöhnlich ist das, dass es jedes Mal auffällt. Immer wieder kehrt Wenzels Protagonistin gewohnte Blickrichtungen um, verdreht Verhältnisse, indem sie Bilder entwirft, die vorurteilsbehafteten Vorstellungen widersprechen:
Zwei blonde Frauen schneiden Dönerfleisch vom Spieß und backen Fladenbrot auf; hinter der transparenten Plastiktheke warten vier Kundinnen mit Kopftuch auf ihr Essen. Drei blasse, rotblonde Deutsche kommen nach Dienstschluss in eine Anwaltskanzlei, um zu putzen; alle deutsch-senegalesischen Angestellten sind bereits weg.
Beim Lesen von 1000 serpentinen angst wird in diesen Momenten schmerzhaft bewusst, wie einseitig die Perspektive großer Teile deutscher Gegenwartsliteratur ist. Wie stark ausgeprägt diese Einseitigkeit ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Olivia Wenzel selbst erst erkennen musste, wie tief eingefressen diese Normierungen ins literarische Bewusstsein der deutschen Schreibenden und Lesenden sind. Auch Wenzel hat jahrelang nach eigener Aussage in ihre Theaterstücke nur weiße Figuren geschrieben, bevor ihr dieser blinde Fleck in ihrem eigenen Schreiben bewusst wurde. Dadurch, dass die Hauptfigur des Romans wiederholt eigene Verstrickungen in Dynamiken von Privilegien, normierten Perspektiven und Identitätsdiskursen erkennt und reflektiert, wird der Text auch zu mehr als einer Anklage gegen eine weiße Mehrheitsgesellschaft.
Anders privilegiert
Denn die nicht-weiße Erzählerin erkennt, dass auch sie im Verhältnis zu anderen privilegiert ist und etwa reisen kann, im Gegensatz zu den Frauen ihrer Familie nur dreißig Jahre zuvor. Genauso wird ihr bewusst, dass sie in den USA das Gefühl einer starken und stolzen Black Community nur deshalb genießen kann, weil die Entwicklung einer solchen Gemeinschaft nötig und möglich war, weil sie einen gewissen Schutz vor Diskriminierung und rassistischer Gewalt bot:
Und plötzlich begreifst du: Diese warme Community schwarzer Menschen, hier in den USA, ist nur möglich, weil sie jahrhundertelang zum Überleben nötig war. […] Du kannst dankbar sein, dass du willkommener Gast in dieser Gemeinschaft bist, eine Touristin dieser auf Schmerz gewachsenen Blackness.
Dadurch dass an dieser Stelle implizit unterschiedliche Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen gegenübergestellt werden, wird hervorgehoben, dass es sich bei schwarzen Menschen natürlich nicht um die homogene Gruppe handelt, als die sie von weißen Menschen oft dargestellt wird.
Dass Olivia Wenzel diese Fülle an Themen und Perspektiven inhaltlich zusammen halten kann, liegt auch daran, dass im Zentrum all dessen ein erzählendes Individuum steht, das durch eine ganz persönliche Geschichte dem Diskursfeuerwerk des Romans ein festes Zentrum verschafft. Im Kern ist der Roman der Kampf einer jungen Frau, die mit dem Selbstmord ihres Bruders und dem gestörten Verhältnis zu ihrer ebenfalls mehrfach traumatisierten Mutter zurechtkommen muss. Im Ringen mit den eigenen und familiären Traumata gewinnt die Figur Konturen, die über ihre Zugehörigkeit zu gesellschaftlich diskriminierten Gruppen hinausreichen. Die Leitfrage, der sich dieses Individuum immer wieder stellen muss, ist „WO BIST DU JETZT?“ Das ist sowohl räumlich als auch psychologisch gemeint: Wo stehst du als Person, wo befindest Du Dich in Deiner Suche nach Halt im Sturm aus Traumata, Identitätsfragen und Beziehungen zu anderen Menschen.
Fragmente und offene Enden
Während der Versuch einer individuellen Verortung der Protagonistin dem Roman einen inhaltlichen Halt gibt, ist es dieses Frage-Antwort-Spiel, das den formalen Rahmen dafür schafft, dass der Autorin diese Themenfülle nicht strukturell entgleitet. Olivia Wenzel, die bisher vor allem für das Theater geschrieben hat, hat nun einen Roman vorgelegt, der sich beinahe ideal für eine Bühnenadaption eignet, da sie große Teile ihres Debüts als Dialog der Protagonistin mit einer übergeordneten Instanz strukturiert hat, die beobachtet, Fragen stellt und Hinweise gibt. Wer diese Stimme ist, die mit der Protagonistin im Gespräch steht und teilweise auch selbst auf deren Fragen reagiert, wird nicht klar. Vielleicht stecken in ihr Bestandteile der Protagonistin, ihres verstorbenen Bruders, ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihrer Freundin Kim; oder es ist ein undefiniertes gesellschaftliches Außen, das sich im Kopf der Figur im Gespräch manifestiert. Neben diesem (Zwie)Gespräch mit einer übergeordneten Instanz, ist der Roman durchzogen von kürzeren und längeren Text- und Dialogfragmenten, die sich erst langsam und im Verlauf des Lesens in das chronologische und personelle Gefüge des Gesamttextes einordnen. In dieser dialogischen und chronologischen Zersplitterung ist der Roman auch formal ein Abbild seiner Protagonistin, deren Identität und Persönlichkeit aus ebenso vielen Fragmenten und offenen Enden besteht und gleichzeitig ein individuelles Zentrum besitzt.
Vor einigen Tagen lobte Julia Encke in der FAZ die literarischen Debüts von Christian Baron, Paula Irmschler und Cihan Acar als drei Romane, die „so etwas wie Bestandsaufnahmen jenes Landes, in dem wir leben, aus völlig unterschiedlichen Außenseiterperspektiven“ seien. Sie handelten „von jungen Menschen, die zu etwas dazugehören wollen, aber nicht so genau wissen, zu was oder wie sie es anstellen sollen. Drei Deutschland-Romane, die für unsere Selbstverständigung ein Glücksfall sind.“ Olivia Wenzels Roman muss in genau dieser Reihe wichtiger Debüts des literarischen Frühjahrs auch genannt werden, denn ihr Perspektivenreichtum und ihr Mut, erzählerische Formen ebenso aufzubrechen wie normierte Lesegewohnheiten, erzählen mindestens genauso viel über unser Land und die Fragen, mit denen sich die deutsche Gesellschaft auseinandersetzen muss, wie die genannten Romane. Wenn nicht mehr.