In diesem kollektiven Tagebuch wollen wir sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. Dazu werden wir kleine Gedankenmiszellen sammeln und versuchen Tweets, die uns signifikant vorkommen oder bestimmte Entwicklungen besonders gut oder interessant zusammenfassen, zu sammeln und zu kommentieren. Der flüchtige und schnelle Diskurs in den sozialen Medien bildet einerseits gesellschaftliche Dynamiken rasch und intensiv ab, andererseits stellt er ein gravierendes archivarisches Problem dar, weil sich die Verläufe kaum nachträglich abbilden lassen. Deswegen soll hier der Versuch unternommen werden, diese Eindrücke (mit Verlinkungen zu eigenen und fremden Tweets) zu sammeln – soziale Distanz und sozialmediale Nähe. Eine Zusammenfassung wird wöchentlich auf 54Books erscheinen.
Woche 1: 9. März bis 15. März
11.3.2020
Berit, Greifswald
Wie bringt man geliebten älteren Menschen bei, dass sie sich von Menschenmengen und Veranstaltungen fernhalten sollen? Das Thema Autonomie versus Sorge treibt nicht nur in den sozialen Medien viele Menschen um. Ich rufe mehrfach bei meinen Eltern an und bitte sie unnötige Termine abzusagen. Es ist eine interessante Umkehrung der Verhältnisse plötzlich das besorgte Kind zu sein, dass auf die Eltern einredet und um Vorsicht bittet. Mit diesem Gefühl scheine ich nicht allein zu sein und das hilft mir. Wir rufen auch unsere isländische Familie an. Mein Schwiegervater ist Taxifahrer, wir sorgen uns um ihn, der bei seiner Arbeit mit vielen weitgereisten Menschen in Kontakt kommt. Er hat beschlossen sich für eine Weile aus dem aktiven Geschäft zurückzuziehen, doch wie soll er dann den neuen Wagen bezahlen, den er gerade erst angeschafft hat?
#wasfehlt Selbsthilfegruppe für Angehörige älterer Menschen, die alle Coronavirus-Vorsichtsmaßnahmen verweigern, „mir fehlt doch nichts, hier ist niemand krank, was soll schon sein, an irgendwas stirbt man ja eh“.
— Kathrin Passig (@kathrinpassig) March 11, 2020
12.3.2010
Johannes, Bonn
Es ist folgerichtig, dass auch diese Krise nicht auskommt, ohne rätselhafte Erotisierungen. Fast scheint es eine anthropologische Grundkonstante zu sein, dass man mit Teilaspekten einer Bedrohlichen Situation seinen sexy Schabernack treibt. Und so musste und muss der gerade beruhigend allgegenwärtige Virologe Christian Drosten (oder wie das Netz ihn geiernd nennt Prof. Dr. Christian Drosten) für allerlei Projektionen und halb ironische Schelmereien herhalten. Eros und Thanatos liegen eben doch eng beisammen.
fass mir ins gesicht christian drosten
— Ilona Hartmann (@zirkuspony) March 12, 2020
Wenn man in Himmel kommt sieht man einen Mann mit Wuschelhaaren vor einer Leinwand stehen, er malt einen idyllischen kleinen See mit Jägerhäuschen vor Alpenpanorama.
Der Mann dreht sich zu Dir um: Es ist Prof. Dr. Drosten.
— Flatten The Curve ? (@DaxWerner) March 13, 2020
Habe Gänsehaut und es liegt nicht am Fieber pic.twitter.com/oCmqR82UDp
— Sophie Paßmann (@SophiePassmann) March 14, 2020
Frauen stehen auf Männer, die
– zuhören
– kochen können
– Augenkontakt kein Problem
– Christian heißen
– sportlich sind
– promoviert
– gut gekleidet
– saubere Fingernägel
– Nachname Drosten
– Virologe
– Christian Drosten
– du kleine Süßmaus— Jan Skudlarek (@janskudlarek) March 15, 2020
(Nachtrag 14.3.2020) Aber ach, auch dieser harmlose Spaß bleibt nicht harmlos. Sachte Kritik an diesem leicht ins Personenkultige abgleitenden Spiel wurde sofort mit einer Flut von empörten schnappatmenden Kommentaren überschüttet.
Verstehe den Hype um Drosten nicht so ganz, um ehrlich zu sein. Wird nicht wieder mal ein Weißer cis Mann angehimmelt, nur weil er seinen Job ordentlich macht?
— Şeyda Kurt (@kurtsundgut) March 14, 2020
13.3.2020
Elisa, Berlin
hab ausser 1 pkg klopapier noch nichts eingekauft, gehöre zu diesen maximalüberforderten.
aber verstehe ich richtig: geschäfte (jdf supermärkte) bleiben geöffnet, die müllabfuhr kommt weiterhin + die briefe der inkasso-unternehmen erreichten mich auch noch im entlegensten lazarett?
ok den hafer flat triple shot muss ich mir bis auf weiteres wohl selbst zubereiten. aber jetzt ist eben der punkt erreicht für maßnahmen die weh tun
Johannes, Bonn
Selten so viel über Klopapier gelesen und damit zwangsläufig auch nachgedacht. Es funktioniert wahrscheinlich so. Die meisten Menschen haben gar nicht geplant, eine Menge Klopapier zu hamstern (auch ein Wort, das später, wenn alles vorbei ist, als parodistischer/nostalgischer Nachklang an unserer Sprache kleben bleiben wird), aber wenn man hört, das Klopapier wird knapp, gerät man in Panik, und beginnt selber zu hamstern. Gleichzeitig auch Kaufscham, Panik vor der Panik. Inzwischen werden leere Regale zur ikonischen Trophäe auf Social Media. So entstehen Bilder der Zeit, durch visuelle Verdichtung des immer gleichen Bildwitzes. Schaut mal, bei mir im Rewe gibt es auch kein Barilla mehr. Gleichzeitig regen sich aber auch kritische Stimmen, die auf die Multiplikatorfunktion dieser Bilder verweisen.
Ähm. Sind denn alle komplett deppert oder wie?
Interspar Sandleitengasse hat leere Regale. So gespenstisch. pic.twitter.com/AMZNOg5mRu— S’Erbserl (@e_rbse) March 13, 2020
Leere Regale. Panikeinkäufe. pic.twitter.com/YsdqjiSWER
— Le Beefchecker (@beefchecker) March 13, 2020
Leere Regale im Kaufland in Berlin. Die Leute bereiten sich auf eine Versorgungsnotlage vor. #Hamsterkaeufe #coronavirus pic.twitter.com/rX81IjbeTI
— Morris C. Gerard (@MorrisCGerard) March 14, 2020
„Wenn Sie kein Brot haben sollen sie halt Kuchen essen!“ ich fange jetzt an für jedes Bild von leeren Regalen volle zu posten… Es hat keinen Sinn leere regale zu posten, es verstärkt lediglich Panikreaktionen und die brauchen wir sicherlich nicht pic.twitter.com/c8niN4oN5v
— Nephentes (@Neph_entes) March 16, 2020
14.3.2020
Berit, Greifswald
In den sozialen Medien sprechen alle über Toilettenpapier. Nudeln und Klopapier scheinen zu wichtigen Objekten zu werden, anhand derer sich einerseits die Sorge hamsternder Menschen ausdrückt und andererseits der Spott darüber. Die Tweets sind so zahlreich, dass es zu Ermüdungserscheinungen kommt. Mit den angekündigten Schulschließungen bereiten sich Eltern darauf vor wochenlang ihre Kinder zu Hause zu betreuen und dabei schwirren die absurdesten Ideen und Lösungsvorschläge umher. Wir überlegen, wie wir die nächsten Wochen mit drei Kindern ohne Betreuung durch Schule und Kita zu gestalten. Alle Kinder haben einen Atemwegsinfekt mit leichtem Fieber, sie erkranken nacheinander. Bei jedem Husten der Gedanke an den Virus, vielleicht haben wir ihn schon? Ich bin froh, dass ich vor zwei Wochen bereits unsere Fiebersaftvorräte aufgestockt habe.
So langsam setzt die Phase ein, in der die Leute nicht mehr wissen, was sie zu Corona noch tweeten sollen.
— leonceundlena (@leonceundlena) March 14, 2020
Musste sehr lachen über die Idee, Bundeswehrdoldaten sollten jetzt doch bitte die Kinderbetreuung übernehmen.
— Alena Schröder (@schnalena) March 14, 2020
Vielleicht sollte ich mal Menschen ein Kurzpraktikum in meiner Familie anbieten, damit einige Vorstellungen in Bezug auf Kinderbetreuung und Home-Office mit anwesenden Kindern mit der Realität abgeglichen werden.
— Berit Glanz (@beritmiriam) March 14, 2020
Sonja, Köln
Eine Sprachnachricht auf Whatsapp geht rum. Eine Nachricht von der “Mama vom Poldi”:
„Hallo, liebe Isabella, hier ist die Elisabeth, die Mama vom Poldi. Ich wollte dir nur kurz eine Information zukommen lassen, bei der ich dich auch bitten würden, dass du sie weiterverteilst, weitergibst und auch bittest sie weiterzugeben. Ne Freundin von mir ist an der Uniklinik in Wien, die hat mich heute angerufen und die hab’n halt mal so’n bisschen Forschung betrieben, warum in Italien so viele so heftige Coronafälle aufgetreten sind…“
Jemand schreibt in die Whatsappgruppe:
“In Wien wurde herausgefunden aber nicht offiziell das Ibuprofen corona begünstigt. Also lieber Paracetamol nehmen wenn jemand Schmerzen derzeit hat.”
In der gleichen Whatsappgruppe wird uns von jemand anderem ein wenig später kommentarlos der “Coronacodex”, eine Aufforderung zur “Selbstverpflichtung während der Covid-19-Epidemie”, weitergeleitet:
Eine Frau aus der Gruppe schreibt darunter: “Sorry aber das ist nicht meine Welt… :)”
Tilman, Hamburg
Man soll ja unbedingt vor die Tür. Als wir auf Daniel warten, laufen an uns zwei Männer vorbei, die heftig streiten. Ich vermute, sie sind aus einer Kneipe geflogen, dabei ist es bereits 11 Uhr. Der eine redet auf den anderen ein, das würde nie wieder passieren. Ständig würde er das versprechen, entgegnet er, und dann würde es doch wieder passieren.
Mit Daniel gehen wir in diesen neuen Kaffeeladen am Grünen Jäger, der gar nicht mehr so neu ist und dort, wo früher der Blumenladen war von der unfreundlichen Frau, die angeblich früher mal Prostituierte war. Dort läuft Metal. Niemand ist im Laden. Wir nehmen zwei Cappucino mit Hafermilch, Daniel möchte einen Kakao. Dann laufen wir Richtung Planten un Blomen. Metal in einem Coffee Shop ist auch wirklich die unwirtlichste Musik. Irgendwie wäre ich deswegen gerne geblieben.
Matthias, Jena
Es ist vermutlich Zufall, aber ich werde gerade mit Korrekturaufträgen überschüttet und alles andere, was ich so beruflich mache, läuft auch weiter. Ich arbeite ohnehin seit 2017 fast nur zuhause, es sind Semesterferien (und als Lehrbeauftragter betrifft das ja auch nur zwei Stunden die Woche), von Februar bis zur vorletzten Aprilwoche habe ich nur einen einzigen bezahlten Termin verloren, wir haben keine Kinder. Mir kommt es fast unwirklich vor, da um mich herum das Leben mehr oder minder aller auf den Kopf gestellt wird, sich aber für mich nichts ändert, außer, dass meine Frau jetzt auch zuhause arbeitet. Ich habe richtig viel zu tun und am Mittwoch eine Deadline. Wie merkwürdig, dass das bleibt, mitten im Ausnahmezustand.
Soziale Medien machen mir mehr zu schaffen als sonst schon. Ich komme nicht gut damit klar, wie einfach und radikal die Situation für einige zu bewerten ist und wie egal Tatsachen sind. Es ist, als wäre sich das halbe Internet einig, dass Deutschland ein völlig rappeliges, »kaputtgespartes« Gesundheitssystem hat, was keine Kennzahl im geringsten hergibt, dass irgendwie »der Neoliberalismus« schuld an allem ist und jetzt die natürliche Chance ist, den herbeigesehnten Sozialismus einzuführen, und wie schon mein ganzes erwachsenes Leben denke ich auch jetzt, dass diese Leute doch sicher irgendetwas besser verstanden haben müssen als ich, dass sie irgendwie Recht haben müssen und ich nur zu dumm bin, während sich gleichzeitig irgendetwas in mir auflehnt und ich mit ihnen diskutieren will. Ich hatte einmal einen linksradikalen Mitbewohner, der zu einer der letzten Grippewellen meinte, die Bundesregierung hätte lieber ein paar zehntausend Tote riskieren als sich von der Pharmaindustrie erpressen lassen sollen, Tamiflu und Impfstoffe zu bunkern. Immerhin höre ich diesmal nichts in die Richtung.
15.3.2020
Berit, Greifswald
Der Corona-Virus verbreitet sich in Europa und mittlerweile befinden sich immer mehr Menschen in selbst verordneter Distanz, Schulen und öffentliche Einrichtungen sind ab Montag geschlossen, Krankenhäuser bereiten sich auf den Ansturm vor. Im Internet und auch in Interviews werden plötzlich Dinge denk- und sagbar: Macron hinterfragt den Neoliberalismus, es wird von Verstaatlichung gesprochen, gräßlicherweise wird Eugenik wieder ein Thema. In Italien singen die Menschen im Lockdown von den Balkonen, was zu Rührung und Witzeleien einlädt.
(Wollte ja immer dabei sein, wenn „Geschichte passiert“, Kubakrise und sowas. Findet man auch nur, wenn man den Ausgang schon kennt, wird mir gerade so bewusst.)
— ellebil (@ellebil) March 15, 2020
Ob Corona der Anfang von etwas ist? Mehr Umsicht, mehr Bewusstsein für prekäre Beschäftigungsverhältnisse? Für Care-Berufe? Für Freiheit? Etwas Gutem im Schlimmen?
— Nicole Diekmann (@nicolediekmann) March 15, 2020
gänsehaut meine ganze straße singt 4’33“ von john cage ?
— _ (@chaosilog) March 15, 2020
Andrea, Tübingen
Die Formulierung die Lage sei “dynamisch” höre ich schon eine Weile, nun wird sie greifbar: Durch die neuen Maßnahmen, die die Bundesländer ergreifen, vor allem die Schulschließungen, aber auch die vielen Absagen von Veranstaltungen, neue Regelungen für Kneipen etc. Es sind bestimmte Massenveranstaltungen, die man im Nachhinein als besonders kritisch erkennen kann, dazu gehört auch der Fasching, den man wegen Hanau sowieso hätte absagen müssen! Auf Twitter werden Bilder von Menschenmassen geteilt, die so tun, als wäre erst ab Montag Krise, und es gibt Menschen, die offenbar einfach jede Regelung als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit ansehen. Dabei geht es um unsere Verantwortung.
Wer sich jetzt über Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus aufregt, bitte an die Adresse Karneval, Ballermann-Skigebiete & die ‚solange es nicht verboten ist, mache ich es‘-Spirit-People.
— Andrea Geier (@geierandrea2017) March 15, 2020