von Elisabeth Giesemann (@El_Giesemann)
Hiphop, Dungeons and Dragons und Comics sind die literarischen Einflüsse von Ta-Nehisi Coates. Er ist außerdem einer der produktivsten zeitgenössischen Intellektuellen der USA. Mit seinen essayistischen Büchern The Beautiful Struggle, Between the World and Me und We Were Eight Years in Power lieferte er nicht weniger als eine Basis für aktuelle Diskussionen über die soziale, politische und ökonomische Situation der schwarzen Bevölkerung der USA. Neben der langjährigen Tätigkeit als Autor und Journalist beim Atlantic schreibt er auch für die Comicreihe Black Panther. Nun hat er ein Buch veröffentlicht, das inmitten der Sklavenplantagen in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg spielt. In diesem Debütroman trifft historische Recherche über das Leben eines versklavten jungen Mannes in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf Elemente des Magischen Realismus.
Der Roman als Teil einer intellektuellen Agenda
Das Leben des Protagonisten Hiram Walker besteht aus subtilen Erniedrigungen und offenen Grausamkeiten. Hirams leiblicher Vater ist der Inhaber einer großen Plantage in Virginia. Nachdem Hirams versklavte Mutter verkauft wird, zeigt sich früh seine außergewöhnliche Intelligenz. Noch als Kind wird er vom Feldarbeiter zum häuslichen Diener befördert, um am Ende als der persönliche Handlanger seines weißen, grobschlächtigen Bruders zu arbeiten. Trotz seines fotografischen Gedächtnisses kann er sich nicht an persönliche oder intime Momente seiner Kindheit erinnern.
Der Roman beschreibt eindrücklich, wie der Reichtum der amerikanischen Gesellschaft auf der Ausbeutung versklavter Arbeiter basiert, diese aber systematisch unsichtbar gemacht werden. Hiram betritt das Haus, in dem der weiße Teil seiner Familie lebt, durch einen gesonderten Eingang. Der Rassismus, der das System aufrecht erhält, ist allumfassend und somit auch signifikant stärker als die wenigen Momente der Sympathie, die Hirams Vater ihm entgegenzubringen vermag.
Da die zahlreichen Äcker rings um die Plantage falsch bestellt wurden, sind der Reichtum und die Macht der Besitzer fragil. Um an Geld zu kommen, verkaufen sie regelmäßig ihre versklavten Arbeiter. So kommt es zu grausamen Trennungen von Familien. Kinder, Eltern und Geliebte werden der Plantage entrissen, ihr Verbleib ist auf immer ungewiss. Die Liebe zu einer anderen versklavten Person ist somit immer unglücklich, da sie unendlich verwundbarer macht.
Humanisierung der Opfer
Hier zeigt sich die Stärke des Formates Roman für Coates’ emanzipatorischen Gedanken. Er verzichtet größtenteils auf die übermäßige Darstellung von Gewalt, sondern fokussiert sich auf das alltägliche und das emotionale Leid der Protagonist*innen. Die Momente von Trauer und Verzweiflung werden in sanfteren Tönen erzählt, als man es von anderen Werken über die Sklaverei, wie zum Beispiel Colson Whiteheads Roman Underground Railroad oder der Film 12 Years a Slave” gewohnt ist. Es ist die Schönheit des Spiels eines Kindes oder der verliebte Blick des jungen Mannes, die den Horror und die Brutalität des Systems so klar erlebbar machen. Sehnsüchte und Hoffnungen treffen auf die krasse Willkür der weißen Sklavenhalter, die über ihr Schicksal entscheiden.
Dieses Trauma hat sich in der afroamerikanischen Gemeinschaft über Generationen weitergetragen, genauso wie die Armut und das Leid nicht nach dem Ende der Sklaverei verschwunden sind. Ta-Nehisi Coates fordert für dieses Leid Entschädigung. In einer Anhörung vor dem Justizausschuss des Repräsentantenhauses hat Coates seine Argumentation für Reparationen im Gesetzesvorhaben HR40 vorgetragen. Darin erklärt er, wie die US-Wirtschaft von der Sklaverei profitiert und dass die Opfer und ihre Nachkommen jedoch nie entschädigt wurden. Vielmehr hat sich die strukturelle Diskriminierung über die vergangenen 150 Jahre durch die Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nach dem Bürgerkrieg und den Rassismus in den Institutionen weiter durch das Leben der Afroamerikaner gezogen. Nach wie vor liegt das Durchschnittseinkommen einer schwarzen Familie zehn Prozent unter dem einer weißen Familie. Einer von drei schwarzen Männern in den USA verbringt im Laufe seines Lebens Zeit im Gefängnis und verliert damit das Wahlrecht. Der Rassismus durchdringt nach wie vor ausnahmslos alle Sphären des sozialen und politischen Lebens.
Magischer Realismus für eine politische Vision
Das Wasser und das Erinnern bringen den Roman von der historischen auf eine fantastische Ebene. In der Mythologie von der Befreiung der versklavten Afroamerikaner spielt Wasser eine zentrale und ambivalente Rolle. In den Werken der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist Wasser in Form des Mississippi Rivers eine bedrohliche und gleichzeitig befreiende Naturgewalt. William Turner hat in seinem berühmten Gemälde Das Sklavenschiff den Horror des transatlantischen Sklavenhandels dargestellt. Die Leichen der Sklaven werden darauf von der Gewalt des Meeres verschlungen. Das Bild wurde 1840 in einer Konferenz gegen die Sklaverei in der Royal Academy of Arts zum ersten Mal ausgestellt. Die Detroiter Technoproduzenten Drexciya haben ihren Namen von einer mythischen Unterwasserbevölkerung entliehen. Die Erzählung besagt, dass einst schwangere Frauen während ihrer Verschleppung vom afrikanischen Kontinent von Sklavenbooten geworfen wurden und ihre Babys auf dem Grund des Meeres gebaren. Diese Kinder, die Drexciya, haben sich dort eine eigene Gesellschaft aufgebaut.
Auch bei Coates bringt das Wasser als Naturgewalt Bedrohung und Befreiung zugleich. Eines Tages fahren Hiram und sein weißer Bruder über eine Brücke, die unter ihnen nachgibt. Der Bruder ertrinkt, doch Hiram wird auf wundersame Weise aus dem Wasser geholt. Er erfährt, dass sein Überleben das Ergebnis einer übermenschlichen Fähigkeit war, die er von seiner Mutter geerbt hat und die ihn und andere über unmöglich große Entfernungen transportieren kann. Diese Fähigkeit der “Konduktion” wird durch starke Erinnerungen an seine Mutter ausgelöst. Hiram ist außerdem verliebt in Sophia, die ebenfalls als Sklavin auf der Plantage arbeitet. Sie wollen fliehen, doch nach dem ersten gescheiterten Versuch werden die beiden getrennt. Schließlich wird er Teil der historischen Underground Railroad in den Norden Amerikas. Dort trifft er auf Moses, eine weitere Person mit der Fähigkeit der Konduktion
Moses war auch der Codename der berühmten Sklavenbefreierin Harriet Tubman. Im Roman verschwimmen so magische Elemente mit historischen Fakten. Dieser magische Realismus hat in der afroamerikanischen sowie in der lateinamerikanischen Literatur eine lange Tradition. Insbesondere von Autoren wie Gabriel García Márquez wird das Genre oft zur politischen Subversion genutzt. Fantastische und magische Elemente fließen in die realistische Handlung ein, sodass die Grundfeste eben dieser Realität wanken. Magischer Realismus wird so zur Chance, eine neue Erzählung zu gegen eine akzeptierte, scheinbar alternativlose Realität zu stellen, und damit zum Werkzeug gegen politische Regime.
Auch in der Wassertänzer kehrt sich durch Imagination die Unterdrückung zur Ermächtigung um. Die Sklaverei erscheint vor allem den Weißen wie ein Naturgesetz. Doch Hiram und die Mitglieder der Underground Railroad können diese Naturgesetze überwinden und der übermächtige Apparat der Sklaverei wird fragil. Mit der Metapher der “Konduktion” durch das Erinnern reiht sich Coates also in eine Tradition der fantastischen Literatur ein, um das Ausweglose zu einer Realität von vielen zu machen.
Im Dialog und der Erzählung nennt der Protagonist sich selbst und andere nicht die “Sklaven”. Er spricht von “Verpflichteten”. Denn die Sklaverei, das erfährt man beim Lesen von “Der Wassertänzer”, ist etwas, das dem Menschen geschieht. Kein Mensch wird als Sklave geboren, es ist etwas, was ihm angetan wird. Doch die Sprache, die diese Unterdrückung beschreibt, reproduziert sie und schreibt sie dem Menschen zu. Und so sind es die Opfer, die sich von der Identität befreien und die Täter von der eigenen Humanität überzeugen müssen. Die Humanität, die ihnen mit dem Label “Sklave” genommen wird. Dieses Bewusstsein um die Macht der Sprache zieht sich durch Coates’ Arbeit. So hat Coates auch der weißen Hörerschaft von Rap unmissverständliche Ansagen zum Gebrauch des N-Wortes gemacht.
Hiram findet seine Liebe und seine Freiheit auf eine unerwartete Weise wieder auf der Plantage. Die Vision der Befreiung findet so einen leisen Abschluss. Coates wurde von der amerikanischen Öffentlichkeit Pessimismus vorgeworfen und eine große Frage des Buches lässt er offen. Denn das endgültige Abschütteln der Unterdrückung bleibt auch mehr als ein Jahrhundert nach dem Bürgerkrieg eine fantastische Erzählung.