Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.
Eine Einleitung von Dorian Steinhoff
Es kam anders als geplant. Die Autoverleihstation hatte überaus pünktlich geschlossen. So pünktlich, dass drei Minuten nach dem vereinbarten Abholtermin für unseren Mietwagen nicht einmal mehr jemand hinter den verschlossenen Glastüren saß, den man mit einem sanften Klopfen auf die eigene Ankunft und den bestehenden Abholwunsch hätte aufmerksam machen können. Ratlos bis aufgebracht standen wir, die Reisegruppe Atelier NRW, also im Gepäckfächer-Gang des Kölner Hauptbahnhofs und telefonierten abwechselnd mit dem Autovermieter und der Buchungsplattform, über die wir den Wagen reserviert hatten. Wir schauten verunsichert von links nach rechts, bewegten die Zehen in den Schuhen und versuchten Witze zu machen, die sich allesamt im Hallraum über uns und der unbefriedigenden Situation versendeten. Auf der anderen Seite des Ganges bissen andere Reisende hinter anderen Glastüren in Wraps und nippten zaghaft an Kaffeebechern. Wir passten nicht hierher, dieser Gang – ein Transitraum, weder architektonisch noch sozial konstruiert, um in ihm herumzustehen, nach schlechten Zugverbindungen zu suchen und parallel Telefongespräche zu führen, die beide Gesprächspartner aus unterschiedlichen Gründen erschöpft und entnervt zurücklassen.
Im Endeffekt nahmen wir den Zug, mussten zwei Mal umsteigen, verpassten ein Mal den Anschluss und teilten Snacks in der Wartehalle des Paderborner Hauptbahnhofs. Als wir schließlich im Gräflichen Park Bad Driburg ankamen, teilte man uns an der Rezeption mit, dass die Küche nicht mehr lange geöffnet haben würde.
So könnte man die Geschichte unserer Anfahrt zum Autorensymposium Atelier NRW erzählen. Zugleich wirft diese kurze Episode alle Fragen und Themen auf, mit denen wir uns in Bad Driburg beschäftigen sollten.
Yannic Han Biao Federer, Gunther Geltinger, Sabrina Janesch, Husch Josten, Juliana Kálnay und Bastian Schneider waren der Einladung von Thorsten Dönges und mir gefolgt, drei Tage lang gemeinsam über selbstgewählte poetologische Fragestellungen nachzudenken. Zu diskutieren, Thesen über den Tisch zu kegeln, Rat zu suchen, Erfahrungen auszutauschen. Alle Teilnehmenden hatten Impulsvorträge zu im Vorfeld verabredeten Themen ausgearbeitet. Gemeinsam saßen wir dann drei Tage bei Keks und lokalem Quellwasser im Tagungsraum Sabine und hörten zu, dachten mit, immer im Interesse am Verfolgen des eigenen Gedankens mit anderen. Im Danach und im Dazwischen ging es dann oft noch weiter, bis es wieder ein Davor gab, in dem wir uns begegnen konnten.
Im übertragenen Sinne führten unsere Gespräche durch das Kaleidoskop eines erlebenden und schreibenden Ichs, das sich selbst zum (Mit)Gegenstand des Erzählten macht: Ist die Anreise zu einem Symposium für das Symposium selbst relevant? Und wenn ja, gilt das auch für das Editorial einer Essaysammlung zu eben jenem Symposium? Oder ist Relevanz ohnehin nur mit Wissen über die Zukunft konstruierbar, in der diese Relevanz hergestellt wird? Wie konstruiere ich überhaupt ein erzählendes Wir, das diejenigen auf integre Weise einbezieht, die offenkundig gemeint sind? Müsste jede Anfahrt, die ich in Zukunft unternehme, ebenfalls missglücken, damit ich weiter von Anfahrten erzählen kann?
Und was würde das für meine Reisen, mein Nervenkostüm und mein Schreiben über Anfahrten bedeuten? Sollte ich einen Mietwagen etwa immer drei Minuten zu spät abholen, um etwas zu erleben, über das ich schreiben kann? Wie beschreibe ich die Tristesse des Paderborner Hauptbahnhofs, wenn alles, was man über sie sagen könnte, den Eichstrich des Erzählbaren übersteigt? Und wie beeinflusst bin ich beim Schreiben, beim Arrangieren und Zuschneiden des Erlebten davon, dass ich weiß, dass ein zukünftiges Ich, das ich sein könnte, auf die Beschreibung des Erlebten zurückgeworfen, mit ihm in Verbindung gebracht werden könnte? Und zwar wiederum von diesem Ich. Und der Autovermietung. Oder auch, man stelle sich vor – dem Wir. Wer auch immer das sein soll.
Dass die Tage in Bad Driburg nun in verdichteter Form für eine Leserschaft zugänglich gemacht werden, halte ich für einen relevanten Beitrag zu einem hochaktuellen literarischen Phänomen. Tangieren sie doch fast alle drängenden Fragen einer der populärsten Formen und Diskurse der Gegenwartsliteratur: die Autofiktion.
Ich freue mich, dass Atelier NRW auf diese Weise beiträgt, dieses literarische Vexierspiels zu umkreisen. Ganz besonderen Dank für die langjährige Ermöglichung dieses Projektes, das auch in diesem Jahr fortgesetzt wird, gebührt der Kunststiftung NRW und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen. Durch ihre finanzielle Unterstützung wurde uns erst ermöglicht, in dieser Form der Literatur und unserem Schreiben nachspüren zu können.
Die Küche im Hotelrestaurant hatte übrigens noch lange genug geöffnet. Wir wurden ausgiebig bedient und bekocht, und auch das ist natürlich bloß eine von unzähligen möglichen Fiktionalisierungen eines Fakts. Ob sie relevant ist, weiß nur der Magen des Wir. In diesem Sinne wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Begehen des Essay-Kaleidoskops: Atelier NRW.
Dorian Steinhoff, geboren 1985 in Bonn, ist Deutscher und Österreicher. Er veröffentlicht Prosa, schreibt für Presse, Rundfunk und Bühne. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, Texte von ihm liegen übersetzt in fünf Sprachen vor. Dorian Steinhoff lebt in Köln.
Beitragsbild von Andre Benz