Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.
Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch
Nabelschau von Yannic Han Biao Federer
Ans Ende schreiben von Gunther Geltinger
Leben, um zu schreiben – schreiben, um (davon) zu leben? von Juliana Kálnay
Ein Mantel aus Papier von Albert Weiden
von Husch Josten
Tom’s Café an der Ecke. Frau Pfeiffers Keller. Josephs Liebschaften. Wittgensteins Ledertasche. Attribute und Accessoires meiner Romanhelden. Doch nichts davon gehört wirklich mir. Gedanken, Geschichten: Dem Kopf entfleucht, der Hand entzogen; geistiges Eigentum heißt es, aber es ist weitergereicht und geteilt, schnell dahin, fort. Gelesen, rezipiert, weitererzählt, interpretiert, belobhudelt, bekrittelt. Meins, und doch nicht mehr ganz meins. Jedes Wort, das geschrieben, jede Begebenheit, die erzählt wurde — fort und dahin. Neuerdings behalte ich, wenn ich vor Publikum lese, trotzig Worte ein. Stickum. Entziehe den Zuhörern einen Satz oder zwei. Rettungsversuche.
Natürlich ist das abwegig! Da ist nichts zu retten, Wörter einbehalten bringt dem Geist das Eigentum, die Fiktion, nicht zurück, zumal der Originaltext nachzulesen ist, schwarz auf weiß und digital. Er ist gedruckt und hochgeladen. Ein Faktum. Er wird ver- und gekauft, für beides ist Freude und Dankbarkeit zu zollen, die Menschen könnten schließlich anderes verkaufen und kaufen. Zuckerwatte beispielsweise. Wertpapiere. Oder zertifiziertes Biogemüse. Und damit hätten sie nichts falsch gemacht und könnten sehr zufrieden sein. Aber sie verkaufen und kaufen Worte, wozu Verleger, Lektoren, Buchhändler, Schreiberinnen und Schreiber im Allgemeinen beglückwünscht werden, man ihnen auf die Schultern klopft: der Kultur wegen. Da kaufen also Menschen Worte, kaufen die Welt aus dem Kopf eines anderen Menschen und ahnen nur, dass sie damit auch einen Anteil dieses Menschen erstanden haben, seinen persönlichsten sogar: die Phantasie, und dass sie diesen Teil des anderen damit zu einem Teil ihrer selbst machen. Für sie sind es ein oder zwei Geschichten unter abertausend anderen Geschichten, die man kaufen kann am Kiosk, auf Büchertischen oder bei Netflix, was insgesamt großartig ist, wer wollte das bestreiten? Und schließlich vervollständigen Leser, Zuhörer und Zuschauer überhaupt erst Buch, Hörbuch, Film… Keine Geschichte ohne Leser. Keine Geschichte ohne Zuhörer. Keine Geschichte ohne Zuschauer.
Aber: Existiert die Geschichte tatsächlich nicht, wenn sie niemand liest, wenn sie — sagen wir — einfach nur so daliegt zwischen ihren Buchdeckeln? Und falls das so ist: Wann, wo und wie lange genau war die Geschichte eigentlich nicht-existent, also rein fiktiv? Etwa nur solange, wie sie nirgendwo sonst existierte als — unentdeckt — im Kopf ihres Gestalters? Oder anders ausgedrückt: Wann hört eine Geschichte auf, fiktiv zu sein, und fängt an zu sein?
Hier gehörte nun ein ebenso ordentlicher wie mühseliger Abriss des theoretischen Diskurses über den Unterschied zwischen Fiktionalität und Fiktivität hin, doch bleiben wir einen Augenblick bei der zuerst aufgeworfenen Frage: Machen erst die Gedanken der anderen, fügt erst die Rezeption durch einen anderen Geist die Geschichte zu einer Geschichte, zu einem Fakt? Indem sich also Schreiber und Leser in einem unausgesprochenen Pakt auf eine bestimmte Wirklichkeit einigen? Ist eine Geschichte lediglich eine nichtssagende Vielzahl an Worten, so lange niemand sie kennt, so lange kein anderer Geist sie aufnimmt? Und diese Worte hier, jedes einzelne: nur gültig, da sie geschrieben werden und die Leser mit dem Kopf schütteln machen, jetzt, da man beginnt, an der Vernunft der Verfasserin zu zweifeln und sich zu fragen, wohin dieser Text überhaupt will, dieser Text einer, die es sich doch nicht anders ausgesucht hat?
Es gibt ein Missverständnis über Fiktionatorinnen und Fiktionatoren, die es im Duden so selbstverständlich nicht gibt, in der Welt da draußen aber schon (Fakt): das Missverständnis, dass sie sich aussuchen, was sie erfinden, wobei „Erfundenheit“ laut Definition zu den wesentlichen Eigenarten fiktionaler Darstellungen gehört. Wenig hülfe es, gegen den Lärm der Gegenargumente „So ist es nicht!“ zu rufen. Gleichwohl der Versuch: „Nein. So ist es nicht! Das sucht man sich nicht wirklich aus.“ Es gilt, dieses Andersherum zu erklären: dass die Geschichten Schreiberin und Schreiber umkreisen, sie gleichsam umzingeln und nicht davonkommen lassen; dass sie aufs Papier drängen, was die Erfindungen laut und deutlich und, wenn es sein muss: jahrelang sagen. Nur eines können Geschichtenerfinder sich aussuchen: wann genau sie einknicken und nachgeben und die Fiktion zu einem Fakt machen. Wann sie die Welt loslassen, die nur eine Zeitlang tatsächlich ihre war.
Andererseits: welch Illusion! Töricht geradezu. Die Geschichten kommen nicht von selbst. Sie werden gestohlen und die Diebe sind die Geschichtenmacher selbst. Sie stehlen aus unzähligen Augenblicken, aus Bruchstücken gesprochener Sätze, aus Versatzstücken verschiedener Räume, aus Assoziationen, Träumen, Begegnungen, Zeitungsartikeln, aus der Historie, aus dem Anblick von Spinatsuppe, sie schöpfen aus dem Geruch des Parkhauses, aus dem Faltenwurf des Mantels der Sitznachbarin; sie stehlen aus Fakten, bedienen sich aus den Regalen des Alltags und der Politik, stehlen aus allem, einfach allem, was sie brauchen für Tom’s Café an der Ecke. Für Frau Pfeiffers Keller, Josephs Liebschaften, Wittgensteins lederne Aktentasche. Vielleicht ist Fiktion vor allem die gelungene Sammlung inspirierter Wirklichkeiten — präzise zu unterscheiden vom Fake, der Fakten absichtsvoll fälscht —, denn wo das geistige Eigentum seinen Anfang nimmt, ist allenfalls umständlich zu definieren, während es Künstlern im Augenblick des Schaffens klar zu sein scheint: Das geistige Eigentum umfasst die Schöpfung des menschlichen Intellekts, im Falle von Schriftstellerinnen und Schriftstellern den Moment, in dem die Hand nach dem Stift greift und niederschreibt, was vorher nur Gedanken waren. Gedanken und Wahrheiten. Gedanken und Eindrücke. Gedanken und Bilder, Nachrichten, Historie, Wissenschaft, Erinnerungen, Reisen… Vor allem aber das, was das geistige Eigentum einzigartig und wertvoll und schützenswert macht: Gedanken und Gefühle.
Denn eine Geschichte besteht vor allem daraus, wie die Welt durch Fiktionatorinnen und Fiktionatoren nachgefühlt, vorgefühlt oder erfühlt wird. Allein aus dem Gefühl heraus ersinnen sie eine neue Welt, phantasieren sie herbei und machen sie mit dem richtigen Handwerkszeug zur Wirklichkeit der Erzählung. Eine Geschichte besteht, wie Nadine Gordimer es in ihrem Essay „Adams Rippe. Fiktionen und Realitäten“ formulierte, aus „Halbwahrheiten, Halblügen“. — „Ausgedacht: ja.“, meint auch der Schriftsteller Thomas Palzer, „Dem Leben entnommen: ja.“ — „Große Romanschriftsteller“, sagte Susan Sontag 2004 in ihrer Dankesrede zum „Literary Award“, „erschaffen eine neue, einzigartige, individuelle Welt — durch ihre Vorstellungskraft, durch eine überzeugende Sprache, durch handwerkliches Können — und reagieren auf eine Welt, die sie mit anderen eilen, die vielen Menschen, eingeschlossen in ihrem jeweiligen Kosmos, unbekannt oder unverständlich ist.“
Die Phantasie ist die höchstpersönliche Vorstellungskraft einer/eines Einzelnen vor dem Hintergrund und auf der Grundlage dessen, was ihre/seine Welt und Wahrheit ist. Was ist und was sein soll, sein könnte, wird geschrieben, und immer geschieht beides gleichzeitig: das Geschehen und die Vorstellung. Immer geschieht diese Vorstellung im Hier und Jetzt, und vielleicht dient sie immer auch — selbst, wenn sie im Gewand des historischen Romans daherkommt — mal mehr und mal weniger gut dem Begreifen der Wirklichkeit.
„Wir brauchen Fiktion“, sagt die Hirnforscherin Susan Greenfield, „um Fakten zu verstehen.“ Das ist unbenommen, denn die Aneinanderreihung von Daten erzählt noch keine Geschichte. Und doch: „Wenn es ein Roman ist“, sagte Henry James, „muss eine Uhr darin sein.“ Was wiederum nicht zwangsläufig bedeutet, dass alles, was Daten innerhalb einer Reihe verbindet, Fiktion ist. Aber die Ereignisse einer Erzählung müssen zeitlich eingebettet werden in vertraute Tages-, Nacht-, Jahres-, Welt- oder Weltraumzeiten, müssen Anfang und Ende haben und alles, was dazwischenliegt. Eingebettet werden in eine Welt, die möglichst nachvollziehbar und vielen denkbar erscheint und ihren Ausgang nimmt in den Vorstellungen des Schöpfers, die gespeist sind von seiner Wirklichkeit, von Geschichten, die er gehört und gelesen, von Orten, die er gesehen hat. Und dann brauchen Geschichten vor allem dies, sagt Margaret Atwood: „Menschen, denen etwas geschieht“, nur dann sind sie brauchbares Personal für eine Geschichte. Denn tatsächlich zielt doch alles Schreiben auf ein Lesen, so, wie das Sprechen auf das Hören zielt. Schreiben ist ein sozialer Vorgang und hat — meist — Soziales zum Gegenstand. Erzählt wird von Menschen, die es — so oder so — miteinander versuchen: als Freunde oder Feinde, als Paare, als Gruppe, als Gesellschaft. Atwoods Charakteren geschieht in ihrem dystopischen Beststeller „Der Report der Magd“ denn auch Ungeheuerliches, doch sämtliche Repressionsmaßnahmen in ihrem fiktiven Terrorstaat Gilead, so hat sie in Interviews betont, hat es irgendwann gegeben: „Es gibt für alles, was ich in dem Buch beschreibe, historische Vorlagen. Etwa in Nazi-Deutschland, in Chile während der Dikatur Pinochets oder während der iranischen Revolution.“
Fiktionen erzeugen eine eigene — die fiktive — Welt. Und anders als in der realen existiert in dieser fiktiven Welt das Außen: die reale Welt, in der die fiktive erzeugt wird. Das eine kann nur werden und existieren, indem es aus dem anderen entsteht und in ihm ist. Fiktional also ist am Ende das fassbare Manuskript oder Buch, das so entsteht. Fiktiv ist alles, was darin erzählt wird. Doch wie weit Faktuales in die fiktive Welt hineinspielt, wie eng die Grenzen der Unterscheidung gezogen werden müssen, ist gelegentlich schwer festzulegen. Leicht fällt es, wenn Thomas Mann seinen „Zauberberg“-Protagonisten Hans Castorp die real existierende Zigarre „Maria Mancini“ rauchen lässt. Schwieriger wird es, wenn unzählige Fakten in einem Text verschwimmen, wenn die Realität die Fiktion nahezu undurchschaubar durchwebt etwa im Tatsachenroman, in dem reale Ereignisse auch prosaisch und fiktiv geschildert und ergänzt werden (können) und von denen nicht alle so klar „nicht-fiktional“ zu nennen sind wie etwa Truman Capotes „Kaltblütig“. Ein Buch, das dem Genre „New Journalism“ den Weg bereitete und die Leser vor allem mit einem versorgte: einem Hintergrund für die völlig unbegreifliche Tat zweier Mörder.
Natürlich gilt, wie oben gesagt, die Erfundenheit als wichtiges Merkmal fiktionaler Darstellungen, doch gibt es nicht wenige fiktionale Erzählungen, die auf tatsächlichen Ereignissen beruhen oder solche zumindest behandeln. Darstellungen, die die tatsächlichen Ereignisse unzweideutig faktual benennen, um sie herum aber Welt erfinden. Dies ist eine Grauzone, die in der Literatur zwar nicht selten zu finden ist, in der Literaturtheorie und -wissenschaft allerdings eher umständlich definiert wird und Verlage oft ratlos stimmt: in welche Schublade gehört das Manuskript? Wie soll man es am besten unters Volk bringen? Ja, wie? Was ist das Schlagwort, ohne das in Werbung und Marketing nichts zu gehen scheint?
„Von den Dichtern erwarten wir Wahrheit (nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten)“, notierte Hannah Arendt in ihr Denktagebuch. Und meint damit vielleicht, dass nur in der Fiktion, im Phantasma — wenn Wirklichkeiten und Möglichkeiten miteinander verknüpft werden — Wahrhaftigkeit entstehen kann. 1595 sagte der englische Höfling, Soldat und Schriftsteller Philip Sidney in „An Apology for Poetry: Or: The Defence of Poesy“, dass gute Literatur wahrer sei als die faktuale Beschreibung. Vielleicht braucht es gerade dafür den Diebstahl aus der Realität, um die Fiktion kreieren zu können, die letztlich wahrer ist als die Wirklichkeit. Erst auf dieser Grundlage kann der Geist produzieren. Alles schreibt sich ab von etwas, das schon da war. Auch erzählerische Not kann durch Fakten gewendet werden, was keinesfalls heißt, dass, wer sich auf die Realität bezieht, artig nacherzählt, welche Probleme die Realität aufwirft.
Die Frage ist, ob eine Autorin oder ein Autor überhaupt jemals an den Geschehnissen ihrer und seiner Zeit vorbeischreiben konnte oder kann. Ob die Sprache — ganz ohne Zutun und bei allem redlichen Bemühen um das Gegenteil — nicht doch stets gefärbt ist vom Wissen um die Wirklichkeit So, wie Voltaire, als er von dem Erdbeben erfuhr, das 1755 Lissabon zerstörte, über die Gleichzeitigkeit der Ereignisse schrieb: „Lissabon liegt in Trümmern, aber hier in Paris tanzen wir.“ Wer einen solchen Satz notiert, davon darf man ausgehen, ist sich nicht nur seiner schriftstellerischen Verantwortung gegenüber der Literatur bewusst, sondern auch seiner Verantwortung gegenüber der Verfasstheit der Welt, die er in Fiktion zu fassen und neu zu erfinden versucht. Er nimmt wahr, was passiert; und was er wahrgenommen — was er gefühlt hat —, ist nicht auszulöschen. Es wird sich niederschlagen in allem, was er fortan schreibt, und es wird im Idealfall zum Begreifen der Geschehnisse beitragen. „Literatur ist Wissen“, sagte Susan Sontag in ihrer Dankesrede, „Wissen — wie beschränkt auch immer, wie alles Wissen. Doch ist sie nach wie vor einer der wichtigsten Wege, die Welt zu verstehen. (…) Der Schriftsteller reduziert die Fülle und Gleichzeitigkeit aller Dinge auf etwas Lineares, auf einen Pfad.“