Der gelbe Fleck auf dem Laken meines Bettes verursacht mir Übelkeit. Das Gelb löst ein Geruchsempfinden aus, das ich mir mit großer Wahrscheinlichkeit einbilde. Die Farbe erinnert mich an die träge glänzende Flüssigkeit, die zur Zeit manchmal von einem Beutel in mich hinein tropft, aber es muss der Überrest einer Mahlzeit sein, Currysauce von gestern vielleicht. Auf den weißen Bezügen ist alles deutlich sichtbar: jedes Haar, jeder Spritzer Blut, jeder Soßenfleck, Schweiß, Erbrochenes. Alles ist sofort zu erkennen. Auf der Decke, auf dem Betttuch, auf dem Kopfkissen entsteht in kleinen Flecken eine Chronologie der letzten Tage. Meine Mutter hat früher gescherzt, man könne auf meiner Kleidung die Speisekarte erkennen, ich kann meine Krankenhausakte auf dem Bettlaken lesen.
Es ist 7.45 Uhr, noch etwa 15 Minuten. Wenn um 9 Uhr kein*e Ärzt*in da war, frage ich nach.
Acht Monate, fünf Wochen, 16 Tage, drei Tage, 72 Stunden, 4 Stunden…
Diese Zeitangaben stehen für Intervalle, die in meinem Leben vor etwas mehr als zwei Jahren eine Bedeutung hatten. Damals war ich in Chemotherapie. Sie begann am 2. Oktober 2017 oder hätte beginnen können. Ich weiß dieses Datum nicht, weil es mein Leben verändert hat oder weil es der Beginn von acht langen Monaten war. Ich weiß dieses Datum, weil der nächste Tag der 3. Oktober war und an einem Feiertag nichts passiert. Es verstrich einfach Zeit. Schon am zweiten Tag im Krankenhaus bekam ich eine Ahnung davon, um was es in den nächsten Monaten am meisten gehen würde: Zeit. Es passierte einen Tag lang nichts, Zeit verging, wie so oft in den darauffolgenden Monaten, ohne, dass ich sie bestimmen konnte.
Ein großer Teil der Zeit, die ich während dieser acht Monate erlebte, war das, was Helga Nowotny einmal in einem Essay als unbesetzte Zeit beschrieben hat: Die Zeit, die man durchlebt, während man unfreiwillig wartet. Das Gegenteil davon ist der Titel ihres Textes: Eigenzeit. Der größte Teil meiner Chemotherapie war keine Eigenzeit, sondern Zeit, auf deren Inhalt ich keinen Einfluss hatte.
Krebs als psychische und körperliche Erfahrung lässt sich kaum objektivieren, es ist ein in höchstem Maße individueller und subjektiver Prozess. Die Kämpfe, die man ausfechten muss, die Sorgen, die durchgestanden werden, die Schmerzen, die man erträgt, und die Angst, die mit all dem verbunden ist, sind Bestandteile einer Gesamterfahrung, die man nicht allgemeingültig beschreiben kann. Alles davon hat für jede*n eine eigene Schwere, eine eigene Leichtigkeit, ein eigenes Gefühl. Meine Therapie wurde von dem Verhältnis von unbesetzter Zeit zu Eigenzeit bestimmt. Und ich tat alles dafür, dieses Verhältnis in einer Balance zu halten, die ich ertragen konnte.
Im Rhythmus bleiben
Zeit wurde in diesem Sinne zum entscheidenden Faktor dieser Monate, die ich in bestimmten Intervallen zu denken und zu leben begann. Wenn einer der Zeitabschnitte durcheinander kam, wenn Zeit stehen blieb, geriet ich in Panik. Meine Chemotherapie musste für mich wie ein regelmäßig tickendes Uhrwerk vorangehen. Genau wie bei einem solchen mechanischen Apparat mussten Kleinigkeiten derart aufeinander abgestimmt sein, dass sie schließlich dazu führen, dass etwas mit einer exakten, regelmäßigen Geschwindigkeit voranging. Jeder Vorgang musste in einem bestimmten Tempo vonstatten gehen, damit er den nächsten im richtigen Moment anstieß und diesen wiederum in Bewegung versetzte. Nur so konnte der vorgesehene Rhythmus der Behandlung, in dem sich Krankenhausaufenthalte mit unterschiedlich langen Pausen, die ich zuhause verbringen konnte, abwechselten, erhalten bleiben.
Ich verfolgte alles peinlich genau.
Wenn ich mittwochs in Krankenhaus kam, dann konnte das nur geschehen, weil meine weißen Blutkörperchen einen bestimmten Wert aufwiesen. War ich dann im Krankenhaus, musste mir am Abend ein Tropf mit Flüssigkeit gegeben werden, damit am nächsten Tag mit der Gabe des Medikaments begonnen werden konnte. Je nachdem, um welches Medikament es sich handelte, floß die gelbe oder rötliche Flüssigkeit vier oder 72 Stunden durch einen Zugang in der rechten Brust in meinen Körper. Dann mussten nach vier Stunden wieder mehr Kochsalzlösung und manchmal ein zusätzliches Medikament alle acht Stunden gegeben werden, damit das Gift wieder aus dem Körper gespült wurde. Ich behielt jeden dieser Schritte genau im Auge, erinnerte Pflegekräfte an bestimmte Vorgänge, schrieb mir jeden Blutwert auf und achtete darauf, dass die Zeit im Takt blieb. Ein Ausscheren hätte das Uhrwerk gestört. Wenn das Uhrwerk seinen Dienst tat, konnte ich am Sonntagmorgen das Krankenhaus verlassen.
Ich grabe meinen Kopf in das weiße Kopfkissen und warte. Jetzt ist das Blut auf dem Weg. Es wird abgeholt und ins Labor gebracht. Dort wird es untersucht und die entscheidenden Werte werden gemessen, die dann auf dem Bildschirm in der Pflegestation erscheinen. So lange liege ich hier. Es ist Sonntag, alle diese Vorgänge dauern länger. Ich betrachte und fühle meine Handinnenflächen, sie sind trocken, gleichzeitig ist mein Gesicht aufgequollen von mehreren Litern Flüssigkeit. Ich kann das spüren. Alles fühlt sich falsch an, Haut ist nicht mehr Haut, Haut stört. Ablenkung ist alles. Seit 7 Uhr habe ich drei Folgen Gilmore Girls geschaut. Jede davon eine dreiviertel Stunde. Währenddessen kam ein Pfleger zum Blutabnehmen und das Frühstück wurde gebracht. An solchen Tagen im Krankenhaus rechne ich Zeit in Serienfolgen. Beruhigt bin ich, wenn die Länge der übrigen Folgen einer Serie bis zu meiner Entlassung reicht. Noch war kein*e Ärzt*in da, es ist nach 9 Uhr.
Das alles Entscheidende in diesen Abläufen war, dass ich grundsätzlich nach vier Tagen das Krankenhaus wieder verlassen konnte. Das setzte ich von Anfang durch – sofern es medizinisch vertretbar war, wollte ich sonntags nach Hause. Nur so konnte das Verhältnis von unbesetzter Zeit und Eigenzeit so bleiben, dass ich es ertragen konnte. Die Sehnsucht nach Eigenzeit wurde zum alles bestimmenden Gefühl und Eigenzeit hatte ich nur in meiner eigenen Wohnung. Dort war mein Uchronia – mein Eigenzeitort.
Das seltsame Gefühl weißer Handtücher
Uchronia ist in der christlichen Theologie ein Jenseitszustand losgelöst vom Druck der Zeit. Für mich war Uchronia der Ort, an dem ich so viel Zeit wie möglich verbringen wollte. Auch im Krankenhaus konnte ich meine Zeit weitgehend selbst füllen, aber dort war ich nicht der Herrscher über mein eigenes Uchronia, die Zeit, die ich dort verbrachte, war unbesetzt, sie war bestimmt von Faktoren, die ich nicht kontrollieren konnte.
Der Kontrollverlust fing mit dem Geruch an, der mir beim Betreten des Stockwerkes meiner Station, entgegenschlug. Ein stehender Geruch, unveränderlich, schal und gleichzeitig eindringlich, zusammengesetzt aus Gerüchen von notdürftig warmgehaltenem Essen, von Desinfektionsmitteln und parfümfreier Seife, von heiß und mit geruchlosen Waschmitteln gewaschener Wäsche und von Körpergerüchen. Es ist ein Geruch, der entsteht, wenn vermeintlich Geruchloses mit warmen Gerüchen und stehender Luft vermischt wird. Jedes Stockwerk des Klinikgebäudes roch anders, die meisten in meiner Wahrnehmung besser als ‚meines‘. Hatte ich ein Einzelzimmer, riss ich sofort beide Fensterflügel auf, selbst in den Wintermonaten. Von den Mahlzeiten, mit denen die Station beliefert wurde, hielt ich mich so weit wie möglich fern und bestellte mir stattdessen Essen von Lieferdiensten. Das war bald so bekannt, dass Pfleger*innen neugierig fragten, was es denn heute bei mir gäbe.
Wie sehr das Empfinden an Orte geknüpft war, zeigte sich auch durch die Zustände von Übelkeit und Erbrechen, nur im Krankenhaus war mir übel und das körperliche Unwohlsein viel stärker. Dabei genügte ein Geruch, ein Farbton oder gar die Maserung des Tisches neben meinem Bett, die ich sehen konnte, dass mir ein Gefühl den Körper hinaufstieg, das Übelkeit auslöste. Sogar das Licht war mir unangenehm, kalt und grell oder zu fahl, strahlte von den weißen Wänden ab. Weiß wurde zur unerträglichen Nichtfarbe. Noch heute fühlen sich weiße Handtücher seltsam an. Das Unerträglichste aber war, dass ich in der Zeit im Krankenhaus nicht entscheiden konnte, wann ich alleine war.
Während ich die vierte Folge der Serie am heutigen Vormittag schaue, verdeckt der Bildschirm meines Laptops meinen Zimmernachbar. Er liegt in seinem Bett und starrt die Decke an. Vorhin saß seine Frau an seinem Bett. Ich habe versucht beide zu ignorieren, mein Kopf so nah am Bildschirm, dass ich lediglich erahnt habe, dass noch andere Menschen im Zimmer sind. Allein sein. Schweigen können. Reden können, oder weinen. Der gestrige Abend war einer der schlimmsten. Dieser plötzliche Drang niemanden sehen zu müssen, niemanden hören zu müssen, nicht die Anwesenheit von verfallenden Körpern spüren zu müssen, stattdessen die Wand anschreien zu können. Panik. Nicht aus Angst, nur aus dem drängenden Wunsch heraus, allein zu sein, keinen Menschen sehen zu müssen.
Der Ort, an dem ich all das kontrollieren konnte, an dem ich allein sein konnte, der Ort, an dem ich Zeit bestimmen konnte, war meine Wohnung – mein Uchronia. Jede Stunde in meiner eigenen Wohnung war wichtig. Und elementar war, dass ich diese Zeit zelebrieren konnte. Von dem Moment des Betretens meiner Wohnung an fühlte ich mich wohl. Etwas fiel ab von mir, etwas in mir kam zur Ruhe. Die Tage und Stunden dort wurden so wichtig, dass ich sie bewusst nutzen wollte. Ich begann mir den Wecker auf 6 Uhr morgens zu stellen, obwohl ich keinerlei Verpflichtungen hatte. Der Wunsch danach, so viel bewusst erlebte Zeit in meiner Wohnung zu verbringen, wie ich konnte, wurde zum alles andere überragenden Zweck meines Handelns. Ich stand mehrere Stunden früher auf als sonst, im Winter lange bevor die Sonne aufging, machte das Radio an, kochte Tee, ging Duschen und setzte mich mit einem Buch oder meinem Laptop auf meinen Sessel, legte die Füße hoch und las, surfte im Netz, schaute eine Serienfolge oder einen Film, schrieb etwas und draußen begann langsam der Tag. Die Nachrichten im Radio strukturierten den Morgen, der Verkehr vor den Fenstern wurde lauter und flaute gegen halb 9 wieder ab. Wenn ich dann nach Stunden auf die Uhr sah und bemerkte, dass es erst 10 Uhr am Vormittag war, überkam mich eine unendliche Erleichterung darüber, dass es immer noch so früh am Tag war. Das Gefühl der angenehmsten Ruhe in diesen Monaten empfand ich, wenn mir klar wurde, wie viel Zeit ich immer noch in dieser Wohnung vor mir hatte.
Es ist in der Mitte der fünften Folge Gilmore Girls an diesem Vormittag, als die Tür aufgeht und eine junge Ärztin hereinkommt. Mehrmals habe ich an der Pflegestation nachgefragt und vorher versucht abzuschätzen, wann ich jemandem auf die Nerven gehen würde. Jedes Mal hieß es, die diensthabende Ärztin wäre noch unterwegs, meine Blutwerte sähen aber gut aus. Die Angst und die Erleichterung lösen sich in diesen Stunden ab. Ich weiß, ich darf heute gehen, wenn… wenn alles so ist wie immer, wenn die Ärzt*innen mir vertrauen, wenn kein*e Ärzt*in Autorität auf die falsche Art und Weise beweisen will. Ich warte. Meine Tasche habe ich längst gepackt, nur der Laptop ist noch draußen, ich brauche ihn, um Serienfolgen zu schauen, um Zeit zu messen und zu beschleunigen. Ich höre kaum, was die Ärztin sagt. Ich weiß genau, was ich tun muss, worauf ich achten muss, wann ich welche Tablette nehmen muss, wie meine Leukozyten und Thrombozyten sein müssen, ich funktioniere wie ein Uhrwerk und ich kenne meinen Körper, spüre, wie es mir geht. Als ich die Station verlasse, beginnt wieder die Zeit, die ich selbst bestimmen kann.
Raum und Zeit für sich allein
„Ein Zimmer für sich allein“ ist für Virginia Woolf die Voraussetzung, damit eine Frau große Literatur schaffen kann, und nie habe ich ansatzweise so gut verstanden, was damit gemeint sein könnte, wie in dieser Zeit. Während sich Woolf als Frau in einer Gesellschaft, die ihr nicht die Zeit und den Raum ließ, um zu schreiben, ein eigenes Zimmer wünschte, wollte ich einfach nur eine Tür, die ich hinter mir schließen konnte. Hier zeigt sich, wie sich Ort und Zeit auf eine bestimmte Art verbinden. Woolfs Sehnsucht nach einem Zimmer für sie allein, bezieht sich nicht nur auf die räumliche Ebene sondern auch auf eine zeitliche. Eine Tür hinter sich schließen zu können und einen eigenen, abgeschlossenen Raum zu haben, dessen Erscheinung und Nutzung man selbst bestimmen kann, bedeutet in diesem Fall auch eigene Zeit zu haben – die Parameter des Zeitverlaufs selbst bestimmen zu können. Ein Zimmer für sich allein ist auch eine Zeit für sich allein.
Die Möglichkeit sich durch einen eigenen Raum Zeit für sich selbst zu verschaffen entsteht für mich auch durch das Internet mit seinen sozialen Netzwerken und seinem permanenten Zugang zu Büchern, Filmen und Ablenkungen. Oft wird gesagt, das Internet raube uns Zeit, vielleicht – mir verschafft es oft Zeit, die ich selbst bestimmen kann. Die Welt des Internets ist die digitale Erweiterung meines Zimmers für mich allein. Die Öffnung eines Raumes, den ich schließen kann, wenn ich es will und den ich öffnen kann, wann immer ich ihn brauche. Gleichzeitig kann ich allein sein. Vor dem Bildschirm sieht dich niemand mit deinen privatesten Emotionen – manchmal ist das gut so, manchmal muss das genauso sein.
Auch jetzt noch, zwei Jahre nach Ende der Therapie, denke ich in diesen Mustern. Diese acht Monate haben mein Gefühl für Zeit und mein Bedürfnis nach Eigenzeit grundsätzlich verändert. Ich verbringe mehr Zeit in meiner Wohnung oder einfach alleine, mir geht es gut in dieser Zeit, ich bin nicht einsam oder traurig, auch weil ich meinen Raum um mich herum jederzeit um das Internet erweitern kann. Ihn mit den Stimmen von Menschen füllen kann, mit Bildern und Tönen. Immer dann, wenn ich es brauche oder ertragen kann.
Die Vorstellung einen langen Tag vor mir zu haben, an dem ich keinen anderen Menschen sehen muss, aber dennoch kommunizieren und mich mit anderen im digitalen Raum umgeben kann, wann immer ich will, beruhigt mich.
Am deutlichsten spüre ich dieses Bedürfnis, wenn die Nachsorgetermine anstehen. Etwa eine Woche davor beginne ich Zeit wieder stärker bestimmen zu wollen – ich will mir Eigenzeit verschaffen. Jede Stunde, die ich in vier Wänden, deren räumliche und zeitliche Parameter ich beherrschen kann, verbringen kann, wird dann wieder sehr kostbar. Ich verfalle in meine Muster aus der Therapiezeit, stehe früh auf, zelebriere den Morgen, koche ausgiebig, lese, schreibe und schaue Filme und Serien. Ich schaffe mir Raum und Zeit – meinen Raum und meine Zeit. Mit jeder Stunde, die der Kontrolltermin näher rückt, werden die Zeiträume, die ich auf diese Weise mit Bedeutung auflade, kleiner. Ist es am Beginn der letzten Woche vor der Untersuchung noch ein beruhigendes Gefühl sieben lange Tage vor sich zu haben, so ist es am Morgen des letztes Tages davor, ein guter Gedanke zu wissen, dass ich noch ein paar Stunden in meiner Wohnung habe – die Eigenzeiträume, die ich genießen will, werden kürzer. Nach den Untersuchungen erfüllt ein ausgedehntes Eigenzeitgefühl die nächsten Monate – bis es wieder die letzte Woche vor dem Termin ist. Auf die Emotionen dieser Woche hoffe ich bald verzichten zu können. Das Gefühl von Eigenzeit würde ich gerne behalten, es fühlt sich gut an.