„Da wurde es meine Geschichte“ – Über Aneignung in der Holocaust-Literatur

Von Christian Dinger

Auschwitz sei, so schrieb Patrick Bahners 2019 in einem FAZ-Beitrag, „in den Theorien des historischen Wissens und der literarischen Fiktion wie im öffentlichen moralischen Bewusstsein der Inbegriff der Tatsache, mit der man nicht spielt“. Bahners schrieb dies vor dem Hintergrund der Affäre um Robert Menasse, der dem ersten EU-Kommissionspräsidenten Walter Hallstein eine in Wirklichkeit nie gehaltene Antrittsrede in Auschwitz angedichtet hatte, und er formulierte damit einen normativen Anspruch, der sich aus einer Sonderstellung der Schoah ergibt. Dass dieser Anspruch nicht immer eingelöst wurde, ist bekannt. Dennoch hält sich vielerorts gerade mit Blick auf die Nachkriegsliteratur eine Grundannahme, die in etwa so lautet: In der Literatur- und Geistesgeschichte nach 1945 wurde viel experimentiert, viel getrickst, viel infrage gestellt, es wurde Gott gelästert und Darlings wurden gekillt, es wurde dem Erzählen misstraut und dem Erinnern, der Sprache sowieso – doch bei aller Entgrenzung gab es ein Thema, für das unverrückbare moralische Standards galten und das aufgrund seines unbegreiflichen Schreckens von allen literarischen Trends und Moden unangetastet blieb: der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Juden. Jahrzehnte bevor an deutschen Universitäten von „kultureller Aneignung“ gesprochen wurde, war klar, dass ein Buch über Auschwitz durch reelle Zeugenschaft beglaubigt sein muss, um nicht als fragwürdig zu gelten. Soweit die moralische Forderung. In der Praxis aber war die Geschichte der literarischen Verarbeitung der Judenverfolgung von Anfang an auch eine Geschichte der Aneignung.

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Die Ära der Zeitzeug*innen, die in diesen Jahren unweigerlich zu Ende geht, war rückblickend betrachtet eine denkbar kurze Epoche der Erinnerungskultur. Denn auch wenn die Bearbeitung der NS-Vergangenheit zu den wesentlichen Sujets der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur gehörte – den Überlebenden der Vernichtungspolitik hat man erst sehr spät und nur widerwillig einen Platz eingeräumt. In den Nachkriegsjahrzehnten herrschten unter den Gatekeepern der deutschen Verlagswelt sehr genaue Vorstellungen, wie die Judenverfolgung darzustellen sei und welcher literarischen Mittel es bedarf, um das unfassbare Grauen fassbar zu machen.

Als Gabriele Tergit 1950 versuchte, ihre Effingers bei Ullstein unterzubringen, lehnte man das vielschichtige Epos über das Schicksal einer jüdischen Familie mit der Begründung ab, nach dem Krieg könne man Juden nur noch als edle Menschen darstellen. 1978 verriss Fritz J. Raddatz mit erbarmungsloser Härte den autobiographischen Roman Nacht von Edgar Hilsenrath, der den Überlebenskampf im Ghetto schildert. In beeindruckender Selbstsicherheit fällt Raddatz das Urteil, dass „so mit diesem Thema nicht umgegangen werden darf“. Dabei schwebt dem Kritiker ganz offenbar ein konkreter Stil vor, dessen sich Hilsenrath hätte bedienen müssen, um seine traumatischen Erfahrungen in Literatur zu verwandeln. So aber ist das Ergebnis für Raddatz: „Statt der Posaunen des Jüngsten Gerichts nur Wortgeklingel, statt der Stummheit gegenüber dem Unsagbaren unsägliche Beredtheit: ein Nelly Sachs für kleine Leute.“

Dass die Einhaltung eines eng gefassten, normativen Literaturbegriffs höher gewichtet wurde als der individuelle Ausdruck von Zeug*innenschaft, blieb auch in den folgenden Jahrzehnten der Fall, als die publizistische Landschaft in Deutschland längst begonnen hatte, sich selbst für ihre schonungslose Erinnerungskultur zu loben. Anfang der 90er Jahre schrieb der Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld der österreichisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Schoah-Überlebenden Ruth Klüger, er könne ihr keine Veröffentlichung ihrer Erinnerungen weiter leben anbieten. Das darin beschriebene Schicksal sei zwar erschütternd, der Text sei aber nicht literarisch genug für die Ansprüche des Verlags.

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Das Buch erschien schließlich 1992 im damals noch sehr jungen Wallstein-Verlag in Göttingen und wurde ein Bestseller. Im selben Jahr erschien bei Suhrkamp ein anderes Buch, das sich der Judenverfolgung aus Betroffenenperspektive nähert: Wolfgang Koeppens Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch – ein Titel, mit dem der Grundstein für den kürzlich von Suhrkamp übernommenen Jüdischen Verlag gelegt werden sollte. Vor allem aber sollte das Buch den Leser*innen von Wolfgang Koeppen endlich neuen Lesestoff liefern, denn der von Schreibblockaden geplagte Starautor brach zur Verzweiflung seines Verlegers seit Jahrzehnten jedes größere Projekt wieder ab.

Nun also endlich ein neuer Koeppen! Auch wenn es letztlich ein alter Koeppen war: Der Text, den Marchel Reich-Ranicki in seiner FAZ-Rezension als ein „unbekanntes Buch Wolfgang Koeppens“ anpreist, erschien bereits wortgleich 1948 unter dem Titel Aufzeichnungen aus einem Erdloch unter dem Autornamen Jakob Littner, also unter dem Namen desjenigen, dessen Schicksal den Gegenstand dieser Aufzeichnungen bildet. Die Geschichte eines jüdischen Briefmarkenhändlers aus München, der sich seit 1938 immer wieder auf der Flucht befand und unter widrigsten Umständen die Naziherrschaft überlebte, erwies sich damals als praktisch unverkäuflich und geriet schnell wieder in Vergessenheit.

Nun aber sollte dieses Werk seinen Platz in der Literaturgeschichte einnehmen, allerdings nicht als frühes autobiographisches Zeitzeugnis nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, sondern als Baustein im Werk von Wolfgang Koeppen, dessen wahre Autorschaft nun, 44 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen, enthüllt wurde. Feierlich erklärte Siegfried Unseld bei der Buchvorstellung in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main: „Man wird Koeppens für die deutsche Literatur so bedeutsame Romantrilogie aus den 50er Jahren fortan anders lesen müssen: an ihrem Beginn steht das Protokoll eines deutschen Schriftstellers über die Verfolgung und Vernichtung von Juden.“

Wie der deutsche Schriftsteller das alles so genau protokollieren konnte, wo er doch selbst nicht von der Verfolgung betroffen war, ist eine naheliegende Frage, ebenso naheliegend wie die Frage, weshalb sich Koeppen erst Jahrzehnte nach Erscheinen zu seiner Autorschaft bekannte. Tatsächlich ist die Publikationsgeschichte dieses Buchs ebenso kompliziert wie spannend und bietet bis heute eine Grundlage für urheberrechtliche, moralische und ästhetische Diskussionen – vor allem aber ist sie sehr aufschlussreich, was das Verhältnis zwischen den Überlebenden der Schoah und dem bundesdeutschen Literaturbetrieb betrifft.

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In seinem Vorwort zur Neuausgabe der Aufzeichnungen aus einem Erdloch von 1992 skizziert Koeppen seine Version des Zustandekommens in knappen Worten: Jakob Littner, „ein Mann aus der deutschen Hölle“, kam zum Verleger Herbert Kluger und erzählte ihm seine Geschichte. „Der Verleger hörte zu, er notierte sich Orte und Daten. Der Entkommene suchte einen Schriftsteller. Der Verleger berichtete mir das Unglaubliche. Ich hatte es geträumt. Der Verleger fragte mich: ‚Willst du es schreiben?‘“ Zwei Carepakete im Monat habe Littner, der kurz darauf in die USA auswanderte, ihm als Honorar versprochen. „Ich aß amerikanische Konserven und schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da wurde es meine Geschichte.“

Die letzten zwei Sätze dieses nicht einmal zwei Seiten langen Vorworts enthalten eine regelrechte Poetik der Aneignung, die an eine lange Tradition schriftstellerischer Selbstinszenierung anknüpft: Der Autor als Genie, der sich durch tiefes Einfinden fremde Geschichten einverleibt und sie in Literatur umwandelt. Koeppen sieht sich hier nicht als Ghostwriter, der den Bericht eines anderen in schöne Worte kleidet, und auch nicht als Journalist, der in akribischer Recherche Fakten sammelt und sie in eine Erzählung umwandelt – er ist der geniale Schriftsteller, der sich im Zuge eines kreativen Schaffensprozesses das fremde Schicksal zu eigen macht. Diese Form der Aneignung wird wohlgemerkt nicht als problematisch empfunden, sondern als notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Kunst.

Die Aneignungsformel, mit der Koeppen sein Vorwort schließt, ist nämlich nicht nur ein Akt der Selbstinszenierung, sondern auch und vor allem ein Akt der Autorisierung. Ohne ihn, den Schriftsteller, würde es diese Geschichte nämlich gar nicht geben – so lautet der Subtext des gesamten Vorworts. Der „mißhandelte Mensch“, wie Koeppen Littner nennt, hätte sie selbst gar nicht erzählen können. „Er wollte schreien“, heißt es über ihn, „es würgte ihn aber nur.“ Das Opfer selbst kann sich nicht mehr artikulieren, so das Bild, das hier gezeichnet wird. Damit seine Geschichte erzählt werden kann, braucht es den Schriftsteller, der nicht nur gut schreiben kann, sondern qua Profession dazu befähigt ist, sich die Geschichte anzueignen – und dazu braucht er weder ein persönliches Gespräch noch einen ausführlichen Bericht als Arbeitsgrundlage, es genügen ein paar hingekritzelte Zahlen und Daten und zwei Carepakete im Monat für das leibliche Wohl. Dass bei dieser kreativen Leistung das Buch am Ende unter dem Namen Koeppens erscheint und nicht unter dem Namen desjenigen, um dessen Schicksal es ursprünglich ging, scheint da nur folgerichtig.

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Doch dass Koeppen allein auf der Grundlage von ein paar flüchtigen Notizen des Verlegers das alles hat nachempfinden und zu Papier bringen können, das machte selbst die an schriftstellerische Großspurigkeit gewöhnten Zeitgenossen stutzig. Der Spiegel befand in einer Rezension: „Für eine authentische Biographie hätte es einer exakten, materialreichen Vorlage bedurft, die dann in eine literarische Form zu gießen gewesen wäre.“ So etwas habe aber Littner nun mal nicht hinterlassen. Dessen Unzufriedenheit mit dem fertigen Buch der Erstausgabe von 1948, die Littner vor seinem frühen Tod 1950 in einem Brief aus New York artikulierte, wird deshalb als naiv bezeichnet: „Wer auch immer sein Leben aufgezeichnet hätte, aus ein paar Notizen allein war Littners wahre Leidensgeschichte nicht zu destillieren.“ Littner sei also gewissermaßen selbst schuld, wenn seine Lebensgeschichte zusammenfabuliert wird. Er hätte ja ausführlichere Angaben machen können.

Wie sich erst Ende der 1990er Jahre herausstellte, war es aber der mittlerweile verstorbene Koeppen, der es gemäß seiner Selbstbezeichnung als „gewandter Lügner“ mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen hat. Einige Jahre nachdem die Neuausgabe der Aufzeichnungen aus einem Erdloch unter dem Namen Koeppens erschienen, machte der Literaturwissenschaftler Reinhard Zachau die Nachfahren Jakob Littners in New York ausfindig und erhielt von ihnen das Manuskript, das es nach Koeppens Darstellung nie gegeben hat. Littner hatte noch 1945 seine Erinnerungen niedergeschrieben, die er unter dem Titel Mein Weg durch die Nacht veröffentlichen wollte. Als er zum Verleger Herbert Kluger kam, hatte er also schon einen fertigen Text in der Tasche und er suchte nicht, wie Koeppen es in seinem Vorwort behauptet, einen Schriftsteller, sondern einen Lektor, der den Text noch einmal gründlich überarbeitete.

Was der von Kluger beauftragte Koeppen dann aber mit Littners Text machte, kann man schwerlich als Lektorat bezeichnen. Es wurde großzügig gekürzt, einiges umgestellt und einige Stellen wurden erweitert. Neu hinzu kam außerdem ein versöhnliches Ende, das dem Überlebenden die Worte in den Mund legt, er könne auch die Schuldigen nicht hassen. Ansonsten fällt vor allem auf, wie Koeppen versucht hat, dem Bericht eines frommen Juden den verknappten Stil der Kahlschlagliteratur überzustülpen, die damals in Mode kam. Passagen, in denen der Erzähler sich allzu gottesfürchtig zeigt, wurden gestrichen und durch existentielle Vorahnungen und Reflektionen über die Verlorenheit des Individuums ersetzt. Insgesamt aber hielt sich Koeppen oft bis in die Formulierungen hinein an die Vorlage Littners.

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Seinem Verleger Siegfried Unseld gegenüber beteuerte Koeppen zunächst, dass „jedes Wort“ von ihm stamme. Bereits 1974, 18 Jahre bevor die Neufassung der Aufzeichnungen aus einem Erdloch schließlich im Jüdischen Verlag erschienen, versuchte Unseld seinen unproduktiven Hausautor zu überreden, das kleine Buch unter dessen Namen neu herauszubringen. In einem Brief klärt Koeppen seinen Verleger über die Entstehungsbedingungen auf und erwähnt auch das Manuskript Littners, das für den Schriftsteller jedoch ein „nach den Ereignissen konstruierte[s] Tagebuch eines gänzlich unliterarischen Menschen“ war. Er, Koeppen, ließ sich überreden „den Text des geretteten jüdischen Herrn zu korrigieren, was nicht zu machen war, oder zur allgemeinen Zufriedenheit von einem anderen zu machen gewesen wäre“.

Im selben Brief schildert Koeppen auch seine persönliche Bekanntschaft mit Littner, die er in seinem Vorwort verschwiegen hat. Er sei zwar Philosemit, beteuert Koeppen, „aber Herr L. war mir trotz seiner Leiden unsympathisch (wie ich ihm), und was er wollte, interessierte mich nicht: eine Bestätigung als Familienhaupt und als ehrenwerter, beliebter deutscher Bürger“. Mit dem Hochmut eines Intellektuellen, der davon überzeugt ist, aus der großen Menschheitskatastrophe die richtigen Schlüsse gezogen zu haben, schaut Koeppen hinab auf die aus seiner Sicht kleinbürgerlichen Bestrebungen Littners, die gesellschaftliche Stellung wiederzuerlangen, die ihm durch die Nazis entzogen wurde. Der Glaube an eine Rückkehr zur Vorkriegsordnung passte nicht zur Kahlschlagslogik des jungen Schriftstellers – und das ließ er nicht nur Littner, sondern auch dessen Text spüren.

Es ist wohl auch dieser Antipathie geschuldet, dass Littner in den späteren Briefen an Unseld nur noch als Romanfigur erwähnt wird, nicht als reale Person und schon gar nicht als Autor des Ursprungstexts – ganz so, als wäre er über die Jahre wie von selbst einem Fiktionalisierungsprozess anheimgefallen. Entsprechend frei fühlt sich Koeppen auch in seinen Plänen für eine weitere Umgestaltung der Vorlage. Anders als sein Verleger ist er nämlich zunächst gar nicht begeistert von der Idee, die Aufzeichnungen aus einem Erdloch textgleich zur Ausgabe von 1948 herauszugeben und lediglich mit einem neuen Vorwort zu versehen. Lieber will er den Text noch einmal umarbeiten oder zumindest mit einem Vor- und Nachspiel versehen. Der Verleger reagiert nervös, er fürchtet, dass es zu einem weiteren unvollendeten Projekt kommt, das letztlich nie gedruckt werden wird. Tatsächlich dauert es dann fast zwei Jahrzehnte, bevor die Aufzeichnungen tatsächlich in der von Unseld vorgeschlagenen, unveränderten Neuausgabe erscheinen.

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Ob es auch moralische Erwägungen waren, die Koeppen dazu veranlasst haben, die Publikation hinauszuzögern, lässt sich anhand der Briefe nicht beurteilen. Doch zumindest was die Rechtslage angeht, schien er sich nicht ganz sicher zu sein und delegierte diese Frage an seinen Verleger, der müsse ja am besten wissen, ob es rechtlich hier etwas zu bedenken gebe. Dessen Antwort kam prompt: „Rechtlich gibt es überhaupt kein Problem. Dafür kann ich mich verbürgen.“ Es ist nicht davon auszugehen, dass Unseld sich überhaupt die Mühe gemacht hat, zu prüfen, ob noch Ansprüche auf den Text bestehen, geschweige denn, dass er die Erben Jakob Littners in den USA hat ausfindig machen lassen.

Richard Korngold, der Stiefsohn Jakob Littners, muss einigermaßen überrascht gewesen sein, als er erfuhr, dass das Buch, das er für die Aufzeichnungen seines Stiefvaters hielt, unter dem Namen eines deutschen Schriftstellers neu herausgegeben wurde. Mehrmals schrieb er an Suhrkamp und forderte, dass die Autorschaft Littners anerkannt wird. Thomas Sparr, Programmchef des Jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag, antwortete, indem er die von Koeppen im Vorwort gesponnene Legende wiedergab: Littner habe dem Verleger Herbert Kluger mündlich von seinen Erlebnissen berichtet, woraufhin Wolfgang Koeppen sich bereit erklärt habe, das Buch unter dem „Pseudonym“ Jakob Littner zu verfassen – eine etwas ungelenke Rechtfertigung, die fast so klingt, als habe Koeppen rein zufällig ein Pseudonym gewählt, das genauso klingt wie der Name der historischen Person, dessen Schicksal das Buch behandelt. Richard Korngold gab sich jedenfalls mit dieser Darstellung nicht zufrieden, schrieb weitere Briefe, die mit weiteren Ausflüchten beantwortet wurden. Es werde ja explizit erwähnt, dass das Buch die Aufzeichnungen Jakob Littners enthalte, so Sparr, und schließlich sei es einer der berühmtesten deutschen Autoren, der diesen Aufzeichnungen eine angemessene Form gegeben habe.

Irgendwann gab Korngold resigniert auf. In einem Interview, das Roland Ulrich anlässlich der Veröffentlichung von Littners Originalmanuskript, das 2002 im Metropol-Verlag erschienen ist, mit Korngold führte, zeigt sich dieser nachhaltig frustriert über den Umgang mit seinen Beschwerden: „Für mich ist dies ein Fall von Plagiat. Und schließlich ist es ja auch meine Geschichte, die da erzählt wird. Ich habe sie am eigenen Leibe erlebt. Ich könnte mir einen Anwalt nehmen, der würde aber Tausende Dollar kosten. Außerdem ist das für mich ein abgeschlossenes Kapitel. Ich möchte am liebsten daran nicht erinnert werden […].“

Die Erfahrung von Überlebenden der Schoah, durch die Nachkriegsgesellschaft ein zweites Mal enteignet zu werden – und sei es auch „nur“ die narrative Enteignung durch diejenigen, die vorgeben, das Andenken an die Ermordeten bewahren zu wollen – ist ein Phänomen, auf das insbesondere Ruth Klüger in ihrem Werk häufig aufmerksam gemacht hat. Entsprechend hart geht sie auch mit Koeppen und seinem Verleger Unseld ins Gericht, die laut Klüger beide einer Generation angehören, „die mit Arisierung nicht gerade zimperlich umgegangen ist“. Im Fall der Neuausgabe der Aufzeichnungen aus einem Erdloch kommt sie zu dem Schluss: „Hier hat einer aus der Tätergesellschaft, mochte er auch noch so einfühlsam sein und noch so gut schreiben können, dem Opfer das letzte genommen, was ihm geblieben war, nämlich das gelebte Leben und das Recht, seine Erinnerungen in seinen eigenen Worten zu gestalten, so daß eine letzte Enteignung und Erniedrigung über das Grab hinaus stattfand.“

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In ihren Erinnerungen unterwegs verloren erzählt Klüger, wie auf einer Tagung jener Thomas Sparr, der die Beschwerden Richard Korngolds so unbeirrt abmoderierte, zu ihr kam und ihr einen schmalen Band in die Hand drückte, von dem er ihr versicherte, „es sei das wahrste, beste, eigentliche Erlebnisbuch eines Kindes, das den Holocaust überlebt hatte“. Bei diesem Buch handelte es sich um das 1995 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienene Werk Bruchstücke von Binjamin Wilkomirski, der sich später als Schweizer Nicht-Jude herausstellte, der die Konzentrationslager nur von touristischen Besuchen nach dem Krieg kannte.

So unterschiedlich die Fälle Koeppen und Wilkomirski auch sind, es fällt schwer, sie nicht nebeneinanderzuhalten – und das nicht nur, weil sie in so kurzer Folge im selben Verlag erschienen sind. Beides sind Phänomene einer Konjunktur des Erinnerns – ein Erinnern, das allzu oft auf dem Rücken der Überlebenden betrieben wurde. Heute sind beide Texte Zeugnisse einer Aneignung, die wir uns gerade jetzt noch einmal genau anschauen sollten. Dabei geht es nicht darum, moralische Urteile über die Akteure von damals auszusprechen. Es geht vielmehr darum, die tief in der deutschen Erinnerungskultur verwurzelten Verdrängungsstrategien im Bewusstsein zu behalten, wenn wir heute darüber nachdenken, wie von Auschwitz erzählt werden kann, wenn die letzten Zeitzeug*innen gestorben sind.

Anders als Koeppen haben heutige Generationen von Schriftsteller*innen nicht mehr die Wahl, ob sie die Überlebenden sprechen lassen. Wenn die Schoah weiterhin ein Thema in der Literatur sein soll, liegt es in der alleinigen Verantwortung der Nachgeborenen, wie mit diesem Thema umgegangen wird und welche Rolle die Zeugnisse der Überlebenden dabei spielen. Anders gesagt: In absehbarer Zeit wird jedes Erzählen von Auschwitz eine Form von Aneignung sein. Es stellt sich die Frage, ob eine produktive Kultur der Aneignung gefunden wird, entsprechend einer Ethik der Appropriation, wie sie Jens Balzer in seinem bei Matthes & Seitz erschienenen Essay entwirft. 

Wie ein respektvoller Umgang mit Zeitzeugnissen in der Ära der Nachgeborenen aussehen kann, zeigt etwa die bei Steidl erschienene Buchreihe von Christoph Heubner. Kondensiert aus den unzähligen Gesprächen, die der Schriftsteller und Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees mit Überlebenden der Schoah geführt hat, erzählt Heubner Geschichten, die eine eigene literarische Qualität haben und in starken Bildern den Glutkern dessen transportieren, was die Überlebenden der Nachwelt mitteilen wollten. Auch wenn es ein Erzählen aus zweiter Hand ist und keine Eins-zu-eins-Wiedergabe von Erlebtem, wird hier in jeder Geschichte deutlich, dass es nichts gibt, das den Blick auf die Opfer und ihre Perspektive verstellen soll: kein Geniekult, kein ästhetisches Programm, keine literarische Pose.

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Der Umgang mit den Zeugnissen Überlebender im bundesdeutschen Kulturbetrieb der Nachkriegszeit ist nur ein Beispiel dafür, wie mit der Tatsache Auschwitz – trotz der moralischen Fragwürdigkeit – immer wieder gespielt wurde, um an das Ausgangszitat von Patrick Bahners anzuknüpfen. Es wurde viel mit Auschwitz gespielt, zu unterschiedlichen Zeiten in den verschiedensten Zusammenhängen, sei es als schiefer historischer Vergleich, um Aufmerksamkeit für propagandistische Zwecke zu generieren, oder als verkaufsfördernde Kulisse für kitschige Liebesgeschichten. Diese Spielchen nicht zu wiederholen, darum wird es in der nun beginnenden Ära der Nachgeborenen mehr denn je gehen – denn dafür ist die Lage heute, 80 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers, viel zu ernst.

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