von Philip Kraut
So unwahrscheinlich es auch klingt: Unmarkierte Akkusative machen manche Menschen „wahnsinnig“. Stein des Anstoßes war ein auf X/Twitter gepostetes stockfootageartiges Bild eines Hotelfrühstückraums, so weit nicht weiter interessant. Das unironische Cappuccinowandtattoo hinter dem Frühstücksbuffet erhitzte aber schnell die Gemüter: „EIN MILCHKAFFEE BITTE“. Der „innere Monk“ raste angesichts des fehlenden Akkusativs aus, wie mehrere Nutzer*innen versicherten. Monk ist in der gleichnamigen Serie ein Privatdetektiv, der unter Zwangsstörungen leidet, zu denen auch ein Ordnungswahn gehört. „Grausam“, lautete ein Kommentar, in einer anderen Reaktion einer Userin heißt es, das Bild triggere in ihr den Rechtschreibnazi.
Was für alltägliche Beobachter*innen ein Ärgernis darstellt oder einen Anlass, sich öffentlich über Sprachfehler lustig zu machen, ist für Linguist*innen der Glücksfall einer interessanten Quelle. Sprachliche Varianz in der Gegenwart – auf der synchronen Ebene – deutet auf Sprachwandel im geschichtlichen Verlauf hin, auf langfristige diachrone Veränderungen. Linguist*innen können quasi live beobachten, wie sich Sprache verändert. Klar ist: Der Abbau der Akkusativmarkierung im Deutschen schreitet schon länger voran: „Ein Milchkaffe, bitte“ hört man im Alltag öfter. In dem Beispiel ist „Ein Milchkaffee“ immer noch das Akkusativobjekt des elliptischen Satzes. Die überlieferte Kasusmarkierung ist nur nicht mehr zu sehen. Der Satz ist aber klar verständlich. Vergleichbar ist der Verlust des Dativ-e. Gravitätische Formulierungen wie „auf dem Wege“ liest man nur noch in sprachlich archaisierenden Texten.
Gebetsmühlenartig dreht sich der sprachpflegerische Diskurs weiter, wie schon in den letzten Jahren, oder besser gesagt, wie schon in den letzten Jahrhunderten. Sprache hat schon immer die Gemüter erhitzt, auch politisch, wie etwa Anja Stukenbrock in ihrer Studie zum Sprachnationalismus gezeigt hat. Auch heute ist die Debatte nicht so harmlos, wie Bastian Sicks pedantische Sprachkolumnen oder der Milchkaffeeaufreger es vermuten lassen. Sprachgeschichtliche Niedergangsnarrative wurden schon längst von der Neuen Rechten gekapert, am prominentesten ist die leidige Diskussion um geschlechtergerechten Sprache. Linguisten wie Henning Lobin („Sprachkampf“, 2021) analysieren genau solche Instrumentalisierungen der deutschen Sprache durch Personen des rechten politischen Spektrums. Konflikte um korrekte Sprachverwendung prägen die Gegenwart.
Dabei ist alltäglicher Sprachwandel gewissermaßen unmittelbar und zunächst einmal wertfrei beobachtbar. Viele haben sich bestimmt schon einmal dabei erwischt so etwas zu sagen wie „Ich hätte gerne einn Apfel“, wobei das zweite „n“ seltsam verschluckt und leise tönend klingt, das „e“ davor, der Murmellaut Schwa, aber ganz verschwunden ist. Das ist bei schnellem Sprechen wahrscheinlich schon Standard. Von da aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, das bloß noch gemurmelte „n“ unbewusst verschwinden zu lassen, es wird von dem vorigen „n“ einfach assimiliert. Die Auslautsilbe, die den Akkusativ markiert hat, ist dann komplett verschwunden. Dass dieser lautliche und grammatische Wandel auch in der geschriebenen Alltagssprache auftaucht, zeigt an, dass er im gesprochenen Deutsch schon länger vorhanden und verinnerlicht ist. Schriftsprache ist tendenziell konservativ.
Sprachlich aufmerksame Menschen sehen das Ergebnis dieser Entwicklung (noch) als Fehler an. Grammatischer Wandel triggert, wie die Kommentare zu dem Tweet zeigen. Kreativen Deutungen der makelhaften Nominalphrase sind dabei keine Grenzen gesetzt. Vielleicht sei auf dem Foto ja ein finales „t“ abgeschnitten, „EIN KAFFEE BITTET“: grammatisch wohlgeformt, fast schon literarisch phantasievoll, wenn auch in schreienden Versalien gesetzt. Auch die Möglichkeit „EIN MILCHCAFÉ, BITTE!“ wurde in Erwägung gezogen: Konjekturalkritik am Hotelbuffet.
„Zerstören denn die Anglizismen nicht unsere schöne deutsche Sprache?“, konnte man immer wieder als Publikumsfrage auf populären germanistischen Vorträgen hören. Anglizismen werden aber mittlerweile als geringeres Problem angesehen. Sprachpurist*innen haben neben dem Wortschatz schon seit Längerem die bewahrenswerte grammatische Struktur des Deutschen entdeckt. So auch der Anglist Theo Stemmler, Verfasser von „Stemmlers kleiner Stil-Lehre“.
Die universitäre Linguistik kann sich für Stemmlers Artikel „Osteoporose im Sprachskelett“ aus dem Jahr 2020 bedanken. Der Text ist gut geeignet, in sprachwissenschaftlichen Grundkursen den Unterschied zwischen deskriptiver und normativer Sprachbetrachtung zu erklären. Stemmlers eigentümliche Befunde zum Sprachwandel des Deutschen könnten auch als Quelle für die Erforschung sprachpflegerischer Versuche der Gegenwart dienen. In der breiten Öffentlichkeit stiftet der Artikel aber wenig Nutzen. Das betreffende Forschungsgebiet ist nämlich um einiges komplexer, als Stemmlers Ausführungen suggerieren.
Der Verfasser gibt sich als aufgeklärter Sprachreiniger, der mit paternalistischem Gestus „Neologismen oder Anglizismen“ als Neuerungen im Deutschen gelten lassen möchte, da sie ohnehin nur die „Weichteile“ der Sprache veränderten. Stemmler zieht die Grenze des Akzeptablen an einer anderen Stelle des Sprachsystems – und das einigermaßen willkürlich, indem er dem „Skelett“ der Sprache, der sozusagen systemrelevanten Grammatik, den Sprachwandel nicht zugestehen möchte. Es sollte zu denken geben, dass sprachwissenschaftlich ausgebildeten Leser*innen zu fast jeder Aussage Stemmlers sofort Gegenbeispiele einfallen. Dass der Wandel im Wortschatz derart regellos sei, dass er für die Bewertung von Sprachwandel weniger relevant ist – zum Glück stelle dieser „keine existentielle Bedrohung des Deutschen“ dar –, überzeugt angesichts der ausgefeilten linguistischen Theorien zu diesem Phänomen nicht.
„Die Jungen zwitschern eben nicht, wie die Alten sungen“, zitiert Stemmler empört eine alte Redensart. Die Alten „sungen“ tatsächlich das letzte Mal im 18. Jahrhundert, spätestens im 19. Jahrhundert „sangen“ dann die Menschen wie heute und entfernten sich mit dieser neueren Form wieder ein Stückchen weiter vom altgermanischen Ablautsystem. Nicht zufällig verwendet Stemmler die vor zweihundert Jahren virulente Organismusmetapher für sprachliche Erscheinungen. „Sie sungen“ erinnert an romantische Bearbeitungen altdeutscher Dichtung, bewusste Archaisierungen durch Ludwig Tieck und andere. Diese und ähnliche schon lange veralteten Formen eignen sich jedenfalls kaum, um sie mit heutigen Zwitscher-Tweets zu kontrastieren.
Sprachwandel im Deutschen nur sprachökonomisch zu erklären – „Der gemeine Sprachnutzer ist faul“ – greift zu kurz und offenbart ein unterkomplexes Verständnis von Sprachkomplexität. Komplexitätsabbau ist ohne gleichzeitigen Komplexitätsaufbau auf einer anderen sprachlichen Ebene kaum zu haben. Reduzierungen werden im Sprachwandel ausgeglichen. Als zum Beispiel Flexionsendungen des Althochdeutschen verschwanden, entstand das deutsche Artikelsystem: Die Komplexität wurde nur verschoben. Dass Sprachwandel stets vereinfacht, ist falsch. Es ist sogar umstritten, was überhaupt als sprachlich schwierig oder einfach gelten kann. Muttersprachler des Sanskrits oder des Litauischen empfinden die vielfältigen grammatischen Formen ihrer Idiome nicht als schwierig.
Natürlich kann man „unbeschädigte“ flektierende Sprachen wie zum Beispiel das Lateinische wertschätzen – Sprachen, die grammatische Informationen durch Flexionsendungen kodieren. Bezieht man diese Wertschätzung aber in die Bewertung von Sprachwandelphänomenen ein, stellt man nur das eigene, am Latein ausgerichtete neuhumanistische Bildungsideal aus. Eine solche Bewertung bleibt dann subjektiv. Um ein weiteres Beispiel Stemmlers aufzunehmen: Die logische Komplexität von deutschen Sätzen, besonders von hypotaktischen, ist kein „urdeutsches“ Phänomen wie die Verbform „sungen“, sondern geht zu einem gewissen Teil auf syntaktischen Einfluss des humanistischen Lateins der Frühen Neuzeit zurück.
Träfen Stemmlers Thesen zu, könnten nicht-flektierende Sprachen, etwa agglutinierende wie Türkisch oder Ungarisch oder isolierende wie Chinesisch, nur eingeschränkt logische Verhältnisse ausdrücken. Agglutinierende Sprachen ‚kleben‘ ihre grammatischen Bildungsmittel hintereinander an ein Wort, isolierende nutzen zum Beispiel grammatische Hilfswörter außerhalb des Wortes, um Syntax zu organisieren. Beide Sprachtypen haben Flexion gerade nicht als Hauptmerkmal. Dass die Abnahme von Flexion einer Sprache schaden würde, ist Unsinn. Shakespeares Englisch müsste dann als eine degenerierte spätere Mundart des grammatisch noch funktionierenden Urgermanischen gelten. Hier zeigen sich die Selbstwidersprüche einer romantischen Blütezeittheorie, die noch in Stemmlers Argumentation aus dem 21. Jahrhundert durchscheint.
Stemmler tritt in seinem Artikel als Anwalt der Sprachgeschichte auf, zeigt aber streckenweise ein ahistorisches Sprachverständnis, da er Sprachwandelerscheinungen seiner eigenen Gegenwart nicht als historisch kontingente, sondern als teleologisch auf den Sprachverfall gerichtete Prozesse ansieht. Was Stemmler heute als Verrohung interpretiert, steht womöglich in wenigen Jahrzehnten schon im Duden. Genauso wie „EIN KAFFEE BITTE“. Der persönliche Ärger über diese Entwicklungen ist allenfalls für metalinguistische Studien interessant. Sprache wird sich dessen ungeachtet auch weiterhin weitgehend kontingent verändern.
Ein von der Vergangenheit kritisch informiertes Sprachbewusstsein und ein in die Zukunft offenes stehen sich gegenwärtig oftmals unversöhnlich gegenüber. Vielen Mahnern und Warnern fällt es offenbar schwer, beides miteinander zu verbinden. Statt die Petrifikation und Mystifizierung historischer sprachlicher Normen voranzutreiben, sollte man die Vielfalt von Schreibstilen und Sprachregistern wertschätzen, die je nach Kontext, Medium, Textsorte wechseln können. Eine Kommunikationsform, in der eine zukunftsoffene Sprachverwendung seit jeher ausprobiert wird, ist die Literatur. Von ihr können wir alles über grammatische und orthographische Varianz und ihre ästhetische Formgebung lernen.
Foto von Brett Jordan auf Unsplash