Erschöpfungsfeuilleton – Über journalistische Ohrwürmer

von Simon Sahner

 

Es gibt Songs, die will man immer wieder hören. Man kennt jeden Ton des Intros, jede Zeile der Strophen und den Refrain kann man in jedem Zustand noch mitsingen. Auch wenn es oft nicht die besten Songs sind, haben sie immer wieder den gleichen positiven Effekt – sie machen Spaß. Anders verhält es sich mit einer bestimmten Sorte Meinungsäußerungen im Feuilleton. Auch hier gibt es die Klassiker, die alle kennen, man hat sie in jedem Wortlaut schon einmal gehört. Ihre Ressentiments sind zu anstrengenden Ohrwürmern geworden, die man nicht mehr los wird, und doch wird auch hier der immer gleiche Refrain wiederholt. Während der Song, den alle auf einer Party mitsingen können, die eingeschlafene Fete noch einmal herumreißt, ist die ständig wiederholte Feuilletonmeinung ein Sedativum für die Debattenkultur.

Der Debatten-Ohrwurm ist ein beliebtes Instrument, um für Gesprächsstoff zu sorgen und um Zeitungsseiten, Homepages und Sendezeit mit etwas zu füllen, das nicht nur mit Sicherheit für Aufmerksamkeit sorgt, sondern das auch leicht und schnell herzustellen ist. Einer dieser Gassenhauer ist etwa die Herabwürdigung der Debatte im Internet – ein Diskurs, der nicht in etablierten Zeitungen wie FAZ, ZEIT oder Süddeutschen stattfindet, sondern auf Blogs und in Sozialen Netzwerken. Der Publikationsort diskreditiert scheinbar die Debatte unabhängig davon, wer sie führt. Auch die Frage, ob das deutsche N-Wort gesagt werden sollte oder ob eine bestimmte Bezeichnung für Schaumküsse rassistisch ist, sind häufige Themen. Ein besonders gutes Beispiel ist im weitesten Sinne der Diskurskomplex der sogenannten Identitätspolitik. Adrian Daub hat vor einiger Zeit in der FAZ dargelegt, wie vorhersehbar und repetitiv die zahlreichen journalistischen Kommentare zu Identitätspolitik tatsächlich sind. Einzelne Fälle werden “mosaikartig zu einem großen Panorama bedrohter Meinungsfreiheit und hypersensibler Jugend” zusammengesetzt. Man könne, so Daub, bei jedem dieser Texte Bingo spielen, welcher aus der überschaubaren Zahl der vermeintlichen Skandale als nächstes Beispiel herangezogen wird. Skandale, die sich teilweise beim näheren Hinsehen als gar nicht so skandalös entpuppen.

Besonders gut lässt sich das, was Daub beschreibt, in der NZZ beobachten. Nachdem Donald Trump im November 2016 zum Präsidenten der USA gewählt worden war, schrieb Mark Lilla in der NZZ von den Jugendlichen die im College ermutigt würden „ihre Selbstfixierung weiterhin zu pflegen – durch Studentengruppen ebenso wie durch Fakultätsmitglieder und Administratoren, deren einzige Aufgabe es ist, sich mit “Diversitätsfragen” zu befassen und diesen noch mehr Gewicht zu verleihen.“ Nicht einmal ein Jahr später fragte Lilla erneut in der NZZ rhetorisch ob es verwundere, dass „Studenten des Facebook-Zeitalters eine Vorliebe für Kurse haben, in denen es um ihre Identitäten und um Bewegungen geht, die zu diesen in Bezug stehen? Und ebenso wenig überrascht es, dass sich viele universitäre Gruppierungen anschliessen, die ebenfalls derartige Ziele verfolgen.“ Und nicht einmal ein weiteres halbes Jahr später erklärte Frank Furedi schon wieder in der NZZ die Identitätspolitik vor allem zur Spaltung der Linken. Dieser Reigen an Texten zu dem Thema zieht sich in kurzen Abständen bis in die Gegenwart. Die Wiederholung dieses repetitiven Grundtenors, der Antidiskriminierungsbewegungen unter dem Label der Identitätspolitik Spaltung vorwirft oder sie zu Feinden der Freiheit erklärt, ist besonders in der NZZ augenfällig.

Inzwischen frage ich mich vor allem, welche soziale Funktion die Veröffentlichung des immer gleichen Artikels über Identitätspolitik in Medien wie der NZZ hat. Es muss ja eine Nachfrage der Leser*innen geben, jede Woche den wirklich vollkommen gleichen Text zu lesen.

— Johannes Franzen (@Johannes42) July 13, 2020

Es gibt aber tatsächlich erschreckend viele dieser stetig wiederholten, vermeintlich streitbaren Meinungsäußerungen: Sei es die Frage, ob angesichts sogenannter Gendersternchen die Ästhetik der deutschen Sprache zugrunde gehe, sei es die Befürchtung, dass aufgrund eines sensibleren Umgangs mit der Darstellung sexualisierter Gewalt Romane wie Vladimir Nabokovs Lolita heute nicht erscheinen dürften (warum es sich bei dieser Sorge um einen Fehlschluss handelt, hat unter anderem Johannes Franzen in der FAZ erläutert). Oder die Behauptung, es gehe bei der Veröffentlichung von Literatur nur um Qualität und nicht auch immer wieder um patriarchale Machtstrukturen.

Das Muster ist und bleibt bei jedem Thema und seiner Wiederholung das gleiche: Aufgrund von gesellschaftlichen Veränderungen und kulturellen Verschiebungen sehen sich Vertreter*innen einer etablierten Haltung bedroht und unternehmen den Versuch, die Veränderung zu diskreditieren. Dabei werden Strohmann-Thesen und Popanze entworfen, die oft entweder auf unbegründeten Vermutungen, Generalisierungen oder auf Vorurteilen beruhen und eine Drohkulisse entwerfen, die einer differenzierten Betrachtung selten standhält. Die Identitätspolitik sei die Spanische Inquisition im neuen Gewand, Diskriminierungs- und Traumasensibilität zerstörten die Kultur und das Internet banalisiere den Umgang mit Literatur. Gleichzeitig trägt aber die Strategie des steten Tropfens, der den Stein höhlt, dazu bei, dass die Debattenkultur ermüdet und die wirklich wichtigen Fragen, die all diese Themen berühren, in den Hintergrund gedrängt werden, weil gegen ressentimentgeladene Grundlagenpolemik vorgegangen werden muss.

Der Begriff Ressentiment als Lehnwort aus dem Französischen ist ein Anhaltspunkt, um einem weiteren Zweck dieser Meinungsäußerungen auf den Grund zu gehen. Das Ressentiment, das wörtlich übersetzte Gegengefühl, steht für eine ablehnende Haltung, die vorrangig auf einer emotionalen Ebene stattfindet und zunächst einmal keine belegbare Basis hat. Es ist das diffuse Gefühl, dass einem etwas nicht geheuer ist und man der Sache ablehnend gegenübersteht, ohne, dass man argumentativ sicher begründen könnte warum. Auf eben diese Emotion zielen die meisten dieser Beiträge. Manche von ihnen beruhen sogar selbst darauf. Sie sprechen ein Ressentiment in einem bestimmten Teil der Leser*innenschaft an und umranken es mit vermeintlichen Belegen und scheinbar gut begründeten Argumenten. Damit handelt es sich hierbei nicht nur um diskursermüdende Ohrwürmer, sondern auch um die schriftliche Rechtfertigung von Ressentiments, die als vermeintlicher Beleg für ihre Berechtigung in der Debatte herhalten.

Wenn diese als Debattenbeiträge getarnten Herabwürdigungen so offensichtlich unbegründet, leicht zu widerlegen und oft nur polemisch sind, wieso dann jedes Mal wieder verbal dagegenhalten und so selbst zur Wirksamkeit dieser aufmerksamkeitsökonomischen Strategie beitragen? Das schlichte Ignorieren kann jedoch auch keine grundsätzliche Lösung sein, denn gerade ihre ressentimentbestätigende Wirkung ist im Umgang mit ihnen relevant. Große Pressemedien mögen auf dem absteigenden Ast sein, eine nennenswerte Reichweite haben sie dennoch weiterhin und mit dieser Reichweite werden auch die oben genannten leeren Polemiken und Vorurteile verbreitet und im Diskurs festgesetzt. Ein Widerspruch und eine Klarstellung sind also trotz allem oft Vonnöten.

Und dennoch ist die Reaktion auf diese Ohrwürmer der Debatte ein Dilemma, ein performativer Widerspruch in sich, denn das Entlarven des Ressentiments als solches, verschafft diesem erneut Aufmerksamkeit. Dahinter verbirgt sich das bekannte Prinzip Don’t feed the troll, denn auch wenn die Beiträge in renommierten Medien erscheinen, sind sie doch meist kaum etwas anderes als elaborierte Äußerungen von Debattentrollen, die den Diskurs torpedieren und dabei kulturelles Kapital bei einer bestimmten Gruppe erwirtschaften wollen. Remo Grolimund hat aber schon vor einigen Jahren in einem längeren Beitrag für Geschichte der Gegenwart dargelegt, warum es mit einem simplen Gebot den Troll nicht zu füttern, nicht getan ist. Zu unterschiedlich sind die einzelnen Debatten gelagert, an zu verschiedenen Punkten befinden sich Diskurse und nicht jeder Troll ist gleich. Es bedarf hingegen, so Grolimund, einer differenzierten Einschätzung der Situation und des jeweiligen Trolls, bevor man reagiert oder eben nicht.

Lohnt es sich jedem Beitrag aus dem Anti-Identitätspolitik-Sperrfeuer der NZZ zu widersprechen? Vermutlich nicht. Es sind inzwischen so viele, dass der einzelne dieser Beiträge kaum noch auffällt und hier ist tatsächlich zu erahnen, dass es um reine Aufmerksamkeit geht. Muss jedes Mal widersprochen werden, wenn kleine Sterne in Texten für den Untergang des kulturellen Abendlandes herhalten müssen? Es kommt darauf an, wer sie äußert und wie und in welchem Kontext. Und muss nun auch zum x-ten Mal erklärt werden, dass die differenzierungsfreie Frontstellung von Debatten im Internet und in etablierten Pressemedien nicht haltbar ist? Auch hier kommt es darauf an, wer sie äußert, aus welchen Gründen und in welchem Rahmen. Ein beachtlicher Teil dieser Debatten-Ohrwürmer ist die Wiederholung von Meinungen aufgrund mangelnden Wissens oder fehlender Erfahrung. Und dem zu widersprechen kann sich lohnen.

 

Photo by Bruno Bučar on Unsplash

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