Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr
Haben Sie sich schon den neuen Survivalguide für unseren Planeten vom Club of Rome besorgt? Nein? Haben Sie vielleicht davon gehört? Die ein oder andere am Rande? Vielleicht. Seltsamerweise handelte es sich auch um keine große Nachricht, sie ging unter, wie so vieles untergeht in der selektiven Wahrnehmung der Öffentlichkeit und der Nachrichten. Einem anderen Thema aus der Wirtschaftspolitik, das mich interessiert, konnte man hingegen nicht entkommen: Die Diskussion um die Energiepreise in Deutschland und das dritte Entlastungspaket der Bundesregierung dominierte die Nachrichten. Dahinter verschwand der eindringliche Appell des Club of Rome – vielen Medien war er nur eine Randnotiz wert. Dabei könnte der neueste Bericht des Expert*innen-Gremiums über die Zukunft unserer Erde nicht alarmierender sein und hat mit der verheerenden Flutkatastrophe in Pakistan auch ein tragisches, aktuelles Beispiel. Betrachtet man diese beiden Themen genauer, stellt man zudem schnell fest, wie eng sie miteinander verzahnt sind. Aber der Reihe nach.
Am 2. September stellte die Ampel-Koalition das bislang umfassendste Paket zur Bekämpfung der durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgelösten Krise vor: Das sogenannte Entlastungspaket III. Wie zielgenau sind die nun beschlossenen Schritte?
Einige Maßnahmen werden Menschen mit geringem Einkommen sofort unterstützen: die Einmalzahlungen für Studierende und Rentner*innen, die Inflationsanpassung des Kindergeldes und die Reformierung des Wohngeldes sowie die Anhebung der Grundsicherung durch die Einführung des neuen Bürgergeldes zum 1. Januar 2023 (das Hartz IV ablöst). Diese können dabei im besten Fall die drohenden Preissteigerungen im Winter etwas abfedern, werden am Ende aber wohl nicht mehr als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein sein. Eine nachhaltige Verbesserung wird für die meisten Haushalte dadurch nicht geschaffen.
Dieses Ziel soll eine andere Maßnahme des Entlastungspakets erfüllen, das die schärfste Klinge der Bundesregierung darstellt: die (zumindest vorübergehende) Umstrukturierung des Strommarktes. Mit der Energiepreisbremse und einem Mechanismus zur Abschöpfung von Übergewinnen auf dem Strommarkt soll die drohende Preisexplosion in diesem Winter verhindert werden. Um zu verstehen, wie effektiv diese Ansätze sind, ist es unerlässlich, die Funktionsweise des Strommarktes nachzuvollziehen. Das klingt erst einmal anstrengend, aber wir schauen uns das in Ruhe genauer an.
One price to rule them all
Wie wird der Preis für Strom gebildet? Als erstes ist wichtig zu verstehen, dass es in Deutschland nur einen Preis für Strom gibt – unabhängig davon, ob er durch erneuerbare Energien, Kohle, Atomkraft oder Gas gewonnen wird. Dieser Preis wird nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip ermittelt. Bei diesem Prozess werden die Kraftwerke in eine Reihenfolge gebracht, nach der sie genutzt werden. Das geschieht anhand der Kosten, die in den jeweiligen Kraftwerken für die Produktion von einer Megawattstunde (MWh) Strom anfallen.
Der Strom des billigsten Kraftwerks wird zuerst genutzt, dann der des zweitbilligsten und so weiter. Der Preis, der am Ende gezahlt werden muss, wird durch das Kraftwerk bestimmt, das gerade noch benötigt wird, um den Strombedarf zu erfüllen. So verdrängen Kraftwerke mit billigen Kosten jene mit hohen. Alle Anbieter erhalten dann diesen einheitlichen Marktpreis, sodass für die Anbieter, die günstiger produzieren, ein zusätzlicher Gewinn anfällt. In „normalen“ Zeiten liegen die Kosten der einzelnen Produktionsarten relativ nahe beieinander, sodass diese Zufallsgewinne, die nichts mit der eigenen Leistung der Unternehmen zu tun haben, nicht allzu sehr ins Gewicht fallen und sogar als Anreiz dienen, auf die günstigen, erneuerbaren Energien in der Stromproduktion zu setzen.
Vereinfachte schematische Darstellung des Merit-Order-Prinzips in „normalen“ Zeiten.
In der aktuellen Krise sind die Gaspreise jedoch extrem gestiegen. Da der deutsche Strommarkt aber weiterhin auch auf durch Gas produzierten Strom zurückgreifen muss, führt das zwangsläufig dazu, dass auch der Marktpreis massiv steigt. Aufgrund des Merit-Order-Prinzips profitieren die Produzenten, die nicht auf Gas angewiesen sind, exorbitant auf Kosten der Haushalte, und können ihre Gewinnmarge ohne eigenes Zutun enorm ausweiten. Das ist in den beiden Grafiken visualisiert: Der Abstand zwischen dem Preis, den etwa eine MWh aus Windenergie kostet, zur schwarzen horizontalen Linie, die den Marktpreis darstellt, ist in der zweiten Abbildung größer als in der ersten.
Vereinfachte schematische Darstellung des Merit-Order-Prinzips in der aktuellen Krise.
Die Ampel-Koalition hat in ihrem Entlastungspaket nun zwei Instrumente angekündigt, um diesen Mechanismus kurzfristig zu durchbrechen. Der erste und wohl massivste Eingriff in den Strommarkt ist die Strompreisbremse. Für einen noch nicht genauer festgelegten Basisverbrauch sollen Haushalten und den meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen geringe Preise garantiert werden. Mutmaßlich werden diejenigen Produzenten, die zu diesem Preis nicht profitabel sind, für die Differenz entschädigt, dazu schweigt sich das Entlastungspaket der Regierung aber noch aus.
Finanziert werden soll diese Maßnahme durch den zweiten großen Eingriff – einer Übergewinnsteuer für den Strommarkt. Auch wenn es nicht so genannt wird, handelt es sich im Prinzip um nichts anderes. Dabei soll es eine Grenze für die Gewinne aus besonders günstigen Energiearten geben, um diese Zufallsgewinne abzuschöpfen. In der Realität führt das dazu, dass vor allem die Gewinne, die in der günstigen Produktion erneuerbarer Energien entstehen, zugunsten von unprofitablen, fossilen Energieträgern umverteilt werden. Das bedeutet allerdings nicht, dass ausschließlich die großen Energiekonzerne davon profitieren, wie am Beispiel des RWE-Konzerns deutlich wird. RWE ist durch seine besonders hohen Gewinnzahlen in der Krise aufgefallen, was unter anderem auch daran liegt, dass das Essener Unternehmen 20 % seines Stroms durch erneuerbare Energien produziert. Hier kann es also teilweise zu Umverteilungen innerhalb einzelner Konzerne kommen.
Ob diese beiden Maßnahmen kurzfristig die erhoffte Wirkung entfalten, hängt zum einen davon ab, wie realistisch der Basisverbrauch festgelegt wird. Handelt es sich dabei tatsächlich um den annähernd durchschnittlichen Verbrauch der Haushalte, werden Menschen wirklich entlastet und es entsteht überdies ein Anreiz, Energie zu sparen. Denn die Preise oberhalb des Basisverbrauchs werden nicht begrenzt. Wer also mehr als den Basisverbrauch nutzt, sieht sich dem deutlich höheren Marktpreis ausgesetzt. Zum anderen wird es elementar sein, wie schnell diese beiden Maßnahmen eingeführt werden können. Aktuell befindet sich die Bundesregierung dazu im Austausch mit der Europäischen Union, um eine einheitliche, europäische Lösung zu finden, hat aber gleichzeitig angekündigt, im Notfall diesen Schritt auch alleine zu gehen.
Unternehmen first, Umwelt second
Was kurzfristig für die Menschen im kommenden Winter eine signifikante Entlastung werden kann, wäre langfristig ein katastrophaler Fehlanreiz – die Subvention von Gasverstromung. Und hier liegt das größte Problem der Maßnahmen durch die Bundesregierung: Der Umweltschutz spielt absolut keine Rolle (keine Sorge, ich habe den Bericht des Club of Rome nicht vergessen, wir kommen noch dazu).
Die Vernachlässigung des Umweltschutzes verdeutlichen auch andere Vorhaben. So wird die CO2-Preiserhöhung um fünf Euro pro Tonne, die zum 1. Januar 2023 vorgesehen war, auf das Jahr 2024 verschoben. Hier lässt sich die gleiche Kritik anbringen, wie ich sie in meiner letzten Kolumne am Tankrabatt geübt habe. Umweltschädliches Verhalten wird unterstützt, indem der Preis dafür niedrig gehalten wird. Zudem wird ab dem 1. Oktober die Gasumlage erhoben. Dabei werden auf den Gaspreis für Haushalte ca. 2,5 Cent pro Kilowattstunde aufgeschlagen. Diese Summe verteilt die Regierung dann an Energieunternehmen um, die besonders abhängig von russischem Gas sind.
Damit die Haushalte dadurch nicht stärker belastet werden, wurde im gleichen Atemzug die Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas von 19 % auf 7 % beschlossen. Bundeskanzler Olaf Scholz geht sogar so weit zu behaupten, dass die Menschen durch diese Maßnahmen in Summe besser dran sind. Dieses Versprechen ist zumindest fragwürdig. Es funktioniert nur, wenn die Gaspreise weiter ansteigen. Denn je höher der Preis für Gas, desto effektiver ist die prozentuale Senkung der Mehrwertsteuer im Vergleich zum absoluten Aufschlag der Gasumlage. Besonders unverständlich ist dabei, dass auch Unternehmen, die sowieso Gewinne erwirtschaften, ein Anrecht auf die Unterstützung haben können. Das Wirtschaftsministerium hat bisher keine Pläne vorgestellt, um das zu verhindern. Bislang haben sich wohl zwölf Unternehmen für die Gasumlage beworben und stellen Forderungen von 34 Milliarden Euro – mehr als die Hälfte des Volumens des aktuellen Entlastungspakets. Es ist ein Paradebeispiel für das, was im modernen Finanzkapitalismus in jeder Krise der vergangenen Jahrzehnte zu beobachten war: Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert.
Ohne Umverteilung wenig Hoffnung
Hier schließt sich nun endlich der Kreis zum Bericht des Club of Rome. Das gemeinnützige Expert*innen-Gremium hat in seiner neuesten Studie aufgezeigt, welche Mittel notwendig sind, um die Wucht der Klimakatastrophe abzuschwächen. Der Appell ist eindeutig: Es sind die Reichsten, die zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen herangezogen werden müssen. Seit dem Thatcherismus und Reaganismus der 1980er Jahre hat sich vor allem in Europa und Nordamerika die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften enorm verschärft. So verfügen in Deutschland die Reichsten 10 % über 60 % des gesamten Vermögens, wohingegen die Ärmsten 50 % gerade einmal auf 3,5 % kommen. In den USA ist diese Diskrepanz noch extremer (ca. 70 % vs. ca. 1,5 %, Quelle: World Inequality Database).
Diese enormen Unterschiede zwischen der ärmeren Hälfte und den oberen 10% lassen sich nicht durch Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der entsprechenden Bevölkerungsgruppen erklären, wie neoliberale Politiker*innen gerne behaupten, sondern sind vielmehr Ausdruck von dysfunktionalen Steuersystemen. Ohne funktionierende und rigoros umgesetzte Vermögens-, Schenkungs- und Erbschaftssteuern wird es nicht möglich sein, diese Entwicklung zu korrigieren. Das ist neben dem fehlenden Fokus auf den Umweltschutz auch die größte Enttäuschung bei den zahlreichen Maßnahmen, die gerade auf den Weg gebracht werden: Es gibt wieder einmal keinerlei Anstrengungen, die Wohlhabendsten angemessen an den Kosten der Krise zu beteiligen.
Einen Lichtblick hat das aktuelle Entlastungspaket dann aber doch zu bieten. Die Bundesregierung wird die global festgelegte Mindeststeuer auf Unternehmensgewinne früher als geplant auf nationaler Ebene einführen. Diese soll dazu führen, dass Steuerflucht und -hinterziehung in Steueroasen wie Irland, den Niederlanden oder Luxemburg nicht mehr möglich ist. Auch dadurch werden langfristig Einnahmen in Milliardenhöhe erwartet.
Dass trotz drängender und akuter Krisen keine Zeit im Kampf gegen den Klimawandel zu verlieren ist, zeigt Pakistan. Das Land ist für deutlich unter 1% des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich, leidet aber massiv unter dessen Folgen. Die aktuelle Flutkatastrophe hat über tausend Todesopfer gefordert und mehr als 33 Millionen Menschen sind direkt, beispielsweise durch den Verlust ihrer Häuser, betroffen. Auch hier ist die internationale Staatengemeinschaft in der Pflicht, das Land beim Umgang mit dieser Katastrophe und dem Wiederaufbau zu unterstützen. In den kommenden Monaten liegt es an der Politik, nachhaltige Antworten auf die Krisen der Gegenwart zu finden und endlich auch ihre Versprechen in Sachen Umweltschutz einzulösen.
Die fatale deutsche Abhängigkeit von russischem Gas, die aus 16 Jahren CDU-Regierung vererbt wurde, mag zwar nicht die Schuld der aktuellen Ampel-Koalition sein (obwohl die SPD in der Zeit tatkräftig mitgeholfen hat, man siehe nur Manuela Schwesigs Rolle bei Nordstream 2), aber es ist ihre Pflicht, jetzt Lösungen zu erarbeiten, um eine Situation wie die aktuelle in Zukunft zu verhindern. Dazu wird es nötig sein, massiv zu investieren und effektiv umzuverteilen, damit es nicht wieder die ärmsten Teile der Bevölkerung sind, die die Last zu tragen haben. Ob das in einer Regierung mit FDP-Beteiligung machbar ist, scheint zumindest fraglich.
In der Wirtschaftskolumne „Geldgeschichten“ ordnet der Ökonom Daniel Stähr jeden Monat aktuelle Phänomene aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzpolitik und Ökonomie ein