Keine weiten Felder – Deniz Ohdes „Streulicht“

von Simon Sahner

 

Mit acht Schlägen auf die Bass Drum, die klingen wie das Wummern einer Maschine, beginnt der Song Iron Man der Band Black Sabbath. Dann fängt Ozzy Osbourne an, den Mann aus Stahl zu beschreiben: „Has he lost his mind, can he see or is he blind – nobody wants him, he just stares at the world.“ Der fünfzig Jahre alte Song passt (fast zu gut) in die Welt der Erzählerin aus Deniz Ohdes Debütroman Streulicht (Suhrkamp). Wenn das Album der britischen Heavy-Metal-Band am Abend im Partykeller bei ihrem Schulfreund Pikka in Dauerschleife läuft, muss sie an die schwieligen Hände ihres Vaters denken, der im nahen Industriepark arbeitet.

Das Umfeld, in dem die Coming-of-Age-Geschichte der namenlosen Erzählerin spielt, wirkt nicht unvertraut: eine Kleinstadt irgendwo in Deutschland, ein Fluss fließt, eine Fabrik verdeckt den Horizont und am Abend sitzen die Jugendlichen mit Sixpacks auf der Brücke. So einfach macht es uns der Roman aber nicht. Der Vater der Erzählerin ist ein  Industriearbeiter, ihre Mutter ist als junge Frau aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Dadurch gerät die erzählende Figur in eine Position intersektionaler Marginalisierung. Christian Baron hat im Imagevergangenen Jahr in Ein Mann seiner Klasse beschrieben, wie ein Kind aus einer Arbeiterfamilie, das Gewalt, Verwahrlosung und Vernachlässigung durch Familie und Gesellschaft ausgesetzt ist, seinen Weg aus diesem Umfeld findet. Die Protagonistin in Streulicht wächst auf den ersten Blick in ähnlichen Umständen auf. Vater und Mutter streiten viel und manchmal kommt es zu Gewalt. Dann muss sie zum Großvater, der in der Wohnung im Erdgeschoss wohnt. Die Wohnung ist oft schmutzig, Hausaufgaben macht sie, während nebenher Talkshows laufen, und der Vater muss nachts aus der Kneipe abgeholt werden. Doch zu diesen Umständen, in denen die Erzählerin aufwächst, kommt zusätzlich die Diskriminierung, der sie aufgrund der Herkunft ihrer Mutter und des Vornamens, den ihre Eltern ihr gegeben haben, ausgesetzt ist.  All diese Lebensumstände signalisieren für die deutsche Mehrheitsgesellschaft einen bestimmten Platz, an den die Erzählerin gehört. Dass sie an diesem Ort aber nicht bleibt, davon handelt Streulicht.

Warum bist du hier?

Die symbolische Verbindung zwischen dem hart arbeitenden Vater und dem Song von Black Sabbath (die Band bestand selbst aus ehemaligen Stahlfabrikarbeitern) erscheint also naheliegend. Es besteht aber eine zweite, subtilere symbolische Verbindung zur Erzählerin, die  dafür umso stärker ist. Osbourne beschreibt den Iron Man aus einer Außenperspektive, wer oder was ist diese Gestalt, has he thoughts within his head, hat er eigene Gedanken, why should we even care, warum sollten wir uns um ihn kümmern, nobody wants him, he just stares at the world, niemand will ihn, er starrt nur die Welt an, in die er nicht gehört.

Wie der stählerne Mann im Song fühlt sich die Erzählerin immer fehl am Platz. Ein Teil der Gesellschaft scheint allein von ihrer Existenz überrascht zu sein. Als Tochter einer türkischen Mutter und eines Vaters aus der Arbeiterklasse fällt sie durch alle Raster, insbesondere durch die des Erziehungs- und Bildungssystems. Besonders eindrücklich wird das, als die Erzählerin feststellt, dass es keinen Scout-Schulranzen zu kaufen gibt, auf dem ihr Vorname steht – fast als wollte ihr das System Bildung von Beginn an vermitteln, sie gehöre nicht hierher. Dabei ist das Problem gar nicht, dass es in der Vorstellung dieses Systems keinen Platz für intersektional marginalisierte Menschen wie die Erzählerin gäbe, die Irritation entsteht erst, als sie den für sie vorgesehenen Platz nicht einnimmt. Jedes Mal, wenn sie sich vor dem Bildungssystem rechtfertigen muss, wird ihr die Frage nach dem Warum gestellt. Woran hat es gelegen, dass sie nicht weiter kam, warum waren die Noten so schlecht, warum musste sie erst den Umweg über die Abendschule gehen und warum hat sie nicht einfach lauter gesprochen? Erst langsam wird beim Lesen klar, dass die eigentliche Frage, die hinter all den anderen steckt, die Frage ist: Warum bist Du hier?  Warum bist Du hier am Gymnasium, an der Uni, hier, wo jemand wie du nicht hingehört?

Die einzige Erklärung, die Lehrer*innen, Schulrektor*innen und anderen Vertreter*innen des Bildungssystems in den Sinn kommt, ist die teilweise Verleugnung der Identität der Erzählerin. Denn, wenn sie als Tochter einer sogenannten Migrantin und eines Arbeiters eine Bildungshürde überwindet, erklärt man ihr jedes Mal freudig, dass sie wohl nicht so sei wie die Anderen. In den Augen des Systems ist sie durch ihren Bildungsaufstieg nicht mehr Repräsentantin der Anderen; der Menschen nämlich, die aufgrund von Bildungsdiskriminierung diesen Punkt meist gar nicht erst erreichen können. Die Protagonistin schafft diesen Weg einem System zum Trotz, das ihr vom ersten Tag an klar gemacht hat, dass allein ihr Name schon ein Zeichen dafür ist, dass dieser Ort nicht für sie vorgesehen ist.

Kinder mit Namen im Lesebuch

Der Widerstand, den das System für die Erzählerin bereithält, wird umso deutlicher dadurch, dass Ohde ihr zwei Kontrastfiguren gegenüberstellt, deren Weg durch die Bildungsstufen niemals in Frage steht. Mit Pikka und Sophia, zu deren Hochzeit die Erzählerin am Beginn des Romans wieder in ihren Heimatort kommt, ist sie zwar befreundet, abgesehen vom gemeinsamen Wohnort könnten die Lebenserfahrungen jedoch unterschiedlicher nicht sein. Pikka, dessen Vater eine Führungsposition in einer Firma im Industriepark hat, wird zunächst in die Dachwohnung bei seinen Eltern ziehen, dann später in das bereits gekaufte Hinterhaus und einen ähnlichen Job bekommen wie sein Vater. Während Pikkas Vater den Prototyp des mittelständisch erfolgreichen Angestellten verkörpert, ist Sophias Mutter als die perfekte Hausfrau gezeichnet, immer ordentlich, engagiert im Ort und stets freundlich, und genauso wird ihre Tochter einmal sein. Sophia ist diejenige, die gemeint ist, als die Lehrerin am ersten Schultag verkündet, in der Klasse gebe es jemanden, die den gleichen Namen habe wie eine Figur aus dem Lesebuch. Damit sind die beiden Freund*innen der Erzählerin aber auch ein Pikka und eine Sophia, sie stehen exemplarisch für die Gruppe der Kinder aus behüteten Mittelschichtsfamilien, in denen alle klassisch deutsche Vornamen haben wie Anna, Julia, Sabrina, Sandra und eben Sophia. Namen, die auf Scout-Schulranzen stehen und die Figuren in Grundschullesebüchern tragen. Der Name der Erzählerin bleibt im gesamten Roman ungenannt.

In dieser Beispielhaftigkeit der Figuren Pikka und Sophia liegt auch eine der wenigen Schwächen in einem ansonsten hervorragenden Debüt. Dabei geht es nicht um die Plausibilität der Figuren, auch nicht grundsätzlich um ihre Freundschaft mit der Erzählerin, sondern um die erzählerische Diskrepanz zwischen der ausdifferenzierten Persönlichkeit der Erzählerin und der Schablonenhaftigkeit der Kontrastfiguren. Pikka und Sophia sind Abziehbilder, Klischeefiguren, die Erzählerin dagegen eine detailliert gezeichnete Person. Sie ist kein Beispiel, eben weil diese Figur zwischen allen Stühlen sitzt, weil sie im Keller von Pikka Black Sabbath hört und Gin Tonic trinkt und Abitur macht und mit Cansu im Auto vor der Abendschule kifft; weil sie beim Karneval dabei ist, von Sophias Eltern eingeladen wird und trotzdem niemand außerhalb ihrer Familie versteht, warum sie eben doch nicht dazugehört und ihr rassistische Begriffe nachgerufen werden. Erst langsam erkennt sie Zusammenhänge, die anderen nicht einmal auffallen. Warum die Disziplin, die sie sich in der Schule aneignen musste, sie als Studentin zur Außenseiterin macht, dass nicht alles, was erwartet wird, auch verpflichtend ist und was das Lesen der ZEIT in der Öffentlichkeit für einen Effekt hat. Deniz Ohde hat ähnlich wie Olivia Wenzel in 1000 serpentinen angst (Rezension hier) mit ihrer Erzählerin eine glaubhafte Figur geschrieben, die niemanden außer sich selbst repräsentiert, an deren Lebensweg aber viel ablesbar und vieles deutlich wird, das über sie hinaus weist.

Besonders tritt dabei in Streulicht hervor, wie rassistische Diskriminierung und Stigmatisierung ablaufen, die sich nicht vordergründig in Hass und Gewalt äußern, sondern ganz nebenbei. Offener Rassismus ist in Streulicht oft eine dräuende Angst vor Neo-Nazis in Springerstiefeln und Verunsicherung durch die Anschläge zu Beginn der 90er Jahre. Diese Form der rassistischen Gewalt schwelt aber die meiste Zeit im Hintergrund des Alltags der Erzählerin. Nur einmal berichtet die Erzählerin von einem Kind, das sie direkt mit einem rassistischen Begriff beschimpft, aber auch das bleibt nur angedeutet. Ständig präsent in der Erzählung ist aber das Bewusstsein im Alltag vorsichtig sein zu müssen, besser alles genau zu wissen, als nachfragen zu müssen – am besten nicht aufzufallen. Die Erzählerin erkennt, dass Unwissen bei ihr etwas anderes bedeutet als bei Sophia, sie ist diejenige, die gefragt wird, ob deutsch ihre Muttersprache sei, sie wird im Studium für eine Erasmus-Studentin gehalten und betont irgendwann selbst, sie sei nicht so wie andere mit türkischem Elternteil. Und dabei wird ihr wiederholt vor Augen geführt, dass dieser Rassismus gerade für sie doch kein Problem sein sollte, eben weil sie ja nicht so sei wie die Anderen. Das ist vielleicht das Schmerzhafteste an diesem Roman. Er zeigt, dass allein die Existenz der Erzählerin als Tochter einer türkischen Mutter und eines deutschen Vaters aus der Arbeiterklasse mit Abitur eine Provokation zu sein scheint.

Coming-of-Age mit Brüchen

Ähnlich wie mit der Erzählerin verhält es sich mit dem Roman. Er verweigert sich vielen Einordnungen, die auf den ersten Blick nahe lägen – für ihn ist das gut. Als Referenzen wurden im Vorfeld oft die französischen Autor*innen Annie Ernaux, Didier Eribon und Edouard Louis genannt, die ähnlich wie Ohde das Überwinden von Klassengrenzen beschreiben, auch Christian Barons Debüt fällt – wie bereits genannt – in diese Kategorie. Doch spielt bei Ohde eben noch das Thema rassistischer Diskriminierung hinein und damit ist Streulicht wie gesagt auch in der Nähe von 1000 serpentinen angst von Olivia Wenzel.

Mehr als die hier genannten, ähnlichen Romane ist Streulicht aber strukturell ein fast klassischer deutscher Coming-of-Age-Roman, in dessen Struktur aber geschickt Brüche eingefügt sind, wodurch die Position der Protagonistin im gesellschaftlichen Gefüge noch einmal deutlicher zum Tragen kommt. An einer der stärksten Stellen des Romans erkennt die Erzählerin das selbst, als sie sich anhand von Teenie-Filmen vorstellt, wie ein Sommer ihrer Jugend aussehen könnte, und feststellt, dass es diesen Sommer für sie nicht gibt:

Nichts daran wäre der charmanten Außenseiterrolle der Mädchen aus den Filmen gleichgekommen, Nichts daran wäre Sophia gleichgekommen, die mit mir auf der Bühne gestanden hatte und sich identifizierte mit dieser Rolle, die Füße auf dem weichen Teppich, an ein Kissen gelehnt auf der Fensterbank. Es waren ungefährliche Veränderungen. Es waren süße Verwirrungen auf weiten Feldern. Es war ein bauchfreies Top und eine sanfte Bräune, die sie tragen würde am Ende des Sommers […].

Durch dieses Bewusstsein für Erzählungen und wen sie repräsentieren, das sich durch den gesamten Roman zieht und ihn dadurch nebenbei auch zu einem Kommentar auf eine bestimmte Sorte von deutschen Coming-of-Age-Geschichten macht, wird Streulicht zu einem hervorragenden Debütroman. Deniz Ohde hat die stilistische Sepia-Melancholie weiter Sommerfelder durch die sprachliche Kühle grauen Industrieschnees ersetzt und damit die Geschichte einer deutschen Jugend erzählt.

Deniz Ohde hat auf Spotify eine Playlist unter dem Titel Streulicht zusammengestellt, die neben dem Song Iron Man, der im Roman selbst vorkommt, eine Vielzahl an Songs enthält, die die Stimmung des Romans aufnehmen, die Handlung kommentieren können oder für die Autorin aus anderen Gründen zu dem Roman gehören. Der Mix, der von Black Sabbath über Cardi B, Tocotronic und bis zu den NoAngels reicht, wird abgeschlossen mit Everything is Everything von Lauryn Hill. Fast jede Zeile des Songs scheint wie für den Roman gemacht, doch vier Zeilen stechen heraus: It seems we lose the game / Before we even start to play / Who made these rules? / We are so confused.

 

Photo by Feliphe Schiarolli on Unsplash

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