von Dax Werner
Mitte der 2010er-Jahre war ich das erste und einzige Mal auf einem WG-Abend, bei dem wir gemeinsam den Tatort geguckt haben. Das Treffen war konkret als “Tatortabend” deklariert, ich kann mich nicht mehr erinnern, welche:r Kommissar:in oder welches Duo in der Folge ermittelte oder worum es ging. Wir bestellten Pizza und konnten der Handlung gut folgen, obwohl wir uns parallel zum Film von unserem Wochenende erzählten. Es fühlte sich nicht hundertprozentig cool an, aber auch nicht grundfalsch, vielleicht ein bisschen flau, in jedem Fall ziemlich studentisch.
Der Song, der diese Zeit damals, also die Phase vor dem Einzug der AfD in den Bundestag und der gesellschaftlichen Debatte um Flüchtende spätestens ab 2016 zusammenfasst, war für mich Wolke 4 von Philipp Dittberner & Marv. Das Lied hat mich schon damals jedes Mal, wenn es lief, ein bisschen aufgeregt, auch weil ich seine Aussage vermutlich immer missverstanden habe: Dass man zufrieden sein kann mit Wolke 4 und nicht für eine bessere und vielversprechendere Wolke wie zum Beispiel Wolke 7 kämpfen soll. Das las sich wie eine perfekte ideologische Beschreibung der Jahre nach der Finanzkrise 2008 bis zur Mitte der Zehnerjahre: Zufrieden sein, mit dem was man hat, nicht nach mehr streben, sich nicht zu viele Gedanken machen. Zumindest wollte ich den Songtext so verstehen.
Diese Form der Selbstgenügsamkeit und des kulturellen Mittelwegs ließ und lässt sich jedoch auch am Tatort beobachten, der Krimireihe, in der seit nun exakt 50 Jahren gesellschaftspolitische Debatten in populärer Form verrührt werden; eine Selbstgenügsamkeit, in der gar nicht erst versucht wird, mit nationalen oder internationalen Produktionen zu konkurrieren. Stattdessen steht die Thematisierung und Vermittlung von gesellschaftspolitischen Diskursen im Vordergrund, über die man im besten Fall parallel in den sozialen Medien und anschließend in der Runde bei Anne Will miteinander ins Gespräch kommt. Durch das Emotionalisieren von bestimmten Themen, indem abstrakte Probleme an einzelnen Figuren durchgespielt und dramatisiert werden, ist der Tatort häufig Bestandteil einer gesellschaftlichen Debatte über virulente Fragen. Dieser sehr didaktische Ansatz bedingt eine konventionelle Filmsprache, die die Sehgewohnheiten des öffentlich-rechtlichen Publikums im Großen und Ganzen nicht zu sehr herausfordert. Mein Irrtum bestand lange Zeit darin, den Tatort als einen Fernsehfilm wie jeden anderen zu gucken. Beim Tatort aber und seinem Kontext in Form öffentlich-rechtlicher Produktionsbedingungen, Sendungen, die inhaltlich anschließen, und dem bis vor wenigen Jahren populären “Twittern über den Tatort”, kann man einem bestimmten Teil der Gesellschaft zuschauen, wie er über sich selbst ins Gespräch kommt: Der Tatort als jetzt aber nun wirklich allerletztes Lagerfeuer-TV.
Für mich aber stand lange vergeblich die Frage im Mittelpunkt was die dort erzählten Geschichten eigentlich mit mir und meiner Biografie zu tun haben. Ich verfolgte die sonntägliche Krimireihe schon seit vielen Jahren, weil ich immer das diffuse Gefühl hatte, dass man dort einen guten Eindruck von etwas bekam, was ich nicht so richtig benennen konnte (vielleicht den bundesdeutschen Durchschnitt?). Am Anfang mochte ich wie viele andere den Münsteraner Tatort am liebsten, weil er das damals angestaubte Format für Millennials wie mich als eine Art frische Genreparodie zugänglich machte. Später interessierte ich mich dann eher für das Dortmunder Team um den düsteren und weltverdrossenen Peter Faber und die Metaexperimente von Ulrich Tukur als Felix Murot, gegen die sich kleine Schlaumeier wie ich mit ihren vielen Filmreferenzen dann kaum wehren konnten. Doch ganz gleich wie ambitioniert und experimentell der Tatort sich hin und wieder gibt, das Grundgefühl ist für mich immer dasselbe geblieben: Enttäuschung. Denn am Ende waren es immer dieselben Fragen, die mich aus der Story rissen: Warum muss dieser vielversprechende Fall schon wieder in einer Verfolgungsjagd mit Showdown enden? Warum geht dieser übermütige Kommissar zum wiederholten Mal auf eigene Faust in das dunkle Gebäude und wartet nicht fünf Minuten auf Verstärkung? Warum tauchen junge Menschen eigentlich so oft psychisch vollkommen gebrochen auf oder geben sich gegenüber den Polizeikommissar:innen so standhaft störrisch? Warum schreien junge Mädchen im Tatort so viel? Ist die Zeitlupe wirklich die einzige mögliche filmische Form, einen Tod durch Schusswaffe darzustellen? Wieso ist die Tatsache, dass ein:e Zeug:in schweigt, gerade schon wieder der einzige Handlungsmotor? Und schließlich: Warum kennt der Tatort soziale Milieus eigentlich ausschließlich als Extreme (sehr reich oder klischeehaft arm), warum also findet die so viel zitierte bedrohte Mittelschicht so wenig Repräsentation? Um es auf eine Kernfrage zu bringen: Von was will mir der Tatort also eigentlich erzählen?
Vielleicht will er ja auch einfach nur mir gar nicht so viel erzählen, zumindest nicht über mich oder meine Lebensrealität. Oder was mich an langen Filmformaten interessiert. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass der Tatort, wenn schon nicht sein eigenes Genre, so zumindest eine eigene Ästhetik herausgebildet hat. Der Drehbuchautor und Regisseur Robert Bramkamp sprach 2010 beim 6. Bundeskongress des Bundesverbandes für kommunale Filmarbeit unter dem Titel Abschied vom Retrorealismus und skizzierte dabei das Konzept des Retrorealismus so:
Es handelt sich um eine fiktionale Konsensproduktion nach politisch korrekten, aus dem Meinungsjournalismus stammenden Kriterien. Das ist die Basis. Diese Kriterien werden übersetzt in Personenhandeln; dieses Personenhandeln wird mit unterkomplexem Illusionismus illustriert – und fertig ist die retrorealistische Wirklichkeit als eine absichtsvoll unterkomplexe, die Zuschauer gewissermaßen ständig abdämmernde Weltmodellierung.
Zwar sprach er nicht über den Tatort, aber es kam mir beim Lesen ein bisschen so vor. Denn mit dem Retrorealismus wird ja gerade auch eine Anschlussfähigkeit filmischer Produktionen an tagesaktuelle gesellschaftliche Debatten und öffentlich-rechtliche Themenwochen anvisiert, also Fernsehen für ein bestimmtes Segment des Publikums, das tendenziell älter und tendenziell bürgerlicher als ich selbst ist. Diese Kompatibilität wird eben auch dadurch hergestellt, dass die durchschnittliche Tatort-Folge im Laufe ihrer Entstehung viele verschiedene Interessen berücksichtigen muss und dadurch auch in ihren erzählerischen Mitteln limitiert wird. Das unterkomplexe, meist wenig Fragen offenlassende Personenhandeln inmitten von Schauplätzen, die jeder potenziell kennt, erzeugt eine Realität, die es so natürlich gar nicht gibt. Sie verläuft stattdessen immer knapp entlang der realen tatsächlichen Alltagswelt und erinnert so manchmal an den Uncanny Valley-Effekt: So nah an der Realität dran, dass man es als Realität erkennt, aber gerade so weit weg, dass eine diffuse Irritation entsteht; in dem Sinne, dass der Tatort mich eigentlich immer an etwas erinnert, was ich gerne gucken würde, dieses jedoch nie erfüllt. Und so rührte meine immer wiederkehrende Enttäuschung beim Tatort-Gucken vielleicht einfach daher, dass ich als Zuschauer, der gehofft hatte, etwas Neues zu sehen oder zu erfahren, nie gemeint war.
Nun sind die zitierten Überlegungen Bramkamps auch schon wieder zehn Jahre her und die Frage, wie ein auf mich persönlich zugeschnittenes Programm überhaupt aussehen könnte, ist vollumfänglich beantwortet: Netflix. Das komplett personalisierte und subjektivierte Fernseherlebnis ist schon länger Realität und der letzte bewusst wahrgenommene Tatort-Sonntagabend im linearen Fernsehen auch schon ziemlich lange her. Aber so sehr die Flut an internationalen Hochglanzproduktionen zum sogenannten Bingewatchen einladen, so schnell zeichnen sich parallel zu den neuen Sehgewohnheiten auch neue Probleme ab. Einige davon hat Georgen Seeßlen letztes Jahr in einem Essay formuliert:
Mit der Serie, die sich als »speziell« ausweist, reagiert die Produktion direkt auf die Wünsche und Möglichkeiten der Kunden, ohne eine lästige Öffentlichkeit dazwischen, und, abgesehen von Äußerungen des Enthusiasmus oder der Enttäuschung, ohne ein Dazwischenfunken der Kritik.
Der in hohen Maße subjektivierte und hochfrequente Serienkonsum sorgt für eine sich immer weiter fragmentierende Öffentlichkeit, in der man nicht mehr so recht ins Gespräch kommt über das, was man da gerade gesehen hat. Auch mit Folgen für öffentlich-rechtliche Produktionen:
Das Fatale an der Spaltung des TV-Verhaltens liegt in der Kraft der Selbstverstärkung. Um noch akzeptable Quoten zu erlangen, müssen die »alten« Sender, die öffentlich-rechtlichen vor allem, genau die Klientel bedienen, die noch im Geschmack an der »heilen Welt« verharrt. Daraus entsteht ein mehr oder weniger gerontologisches Fernsehen, aus Quiz-Sendungen, »Traumschiff« und Formaten über die »Heimat«, durchsetzt mit der üblichen Krimi-Kost, was wiederum die letzten Zuschauer vertreiben dürfte.
Dass sich die öffentlich-rechtlichen Film- und Fernsehproduktionen unter dem Eindruck der neuen Marktmacht der Streaminganbieter nur immer weiter in ihren retrorealistischen Fiktionen verlieren könnten, klingt zumindest nicht unplausibel. Auf der anderen Seite ist es auch nicht so, dass Netflix, Amazon und die anderen Anbieter nun plötzlich alles richtig machen, was früher falsch gemacht wurde. Die deutsche Netflix-Produktion Biohackers etwa wirkt wie eine Serie, die wie bei Malen-nach-Zahlen nach dem Tatort-Prinzip realisiert wurde, eine Art Tatort für die Generation Netflix in halbstündigen Portionen: Ein gesellschaftspolitisches Thema (Gentechnologie) wird in einem bekannten Setting (Studieren in einer mittleren deutschen Stadt) mit unterkomplexen und motivationslosen Figuren thematisiert. Und so streamt es sich auch. Dass Biohackers auf eine unmissverständliche Einteilung zwischen Gut und Böse sowie eine exakt kalkulierte Mischung aus Liebe, Action und Nerd Culture á la Big Bang Theory setzt, zeigt, wie natürlich auch Netflix mit dieser und anderen gefälligen Produktionen letztendlich ein Konsenspublikum bespielt, das sich von dem der Öffentlich-Rechtlichen nur noch im Alter unterscheidet. Zugleich beobachte ich auch an mir selber inzwischen kaum noch zu rechtfertigende Vorurteile, wann immer es um deutsche Produktionen geht, wie zum Beispiel bei der international sehr erfolgreichen Science-Fiction-Mysteryserie Dark. Während internationale Kritiker:innern die Serie mit Twin Peaks vergleichen, blockieren mich die trostlose Visualität, das mysteriöse Geschwurbel der Dialoge und die bedeutungsvolle Schwere jeder einzelnen Einstellung in Dark gerade deswegen, weil ich so genau weiß, dass es sich um eine deutsche Produktion handelt. Schade eigentlich.
Denn um uns bei Laune zu halten, suchen die großen Video-on-demand-Anbieter ja auch außerhalb der USA immer weiter nach spezifischen Stories, die so nur in ihrem jeweiligen Land spielen können und uns so etwas über dieses Land erzählen wollen. Aber wenn man ganz ehrlich ist, gibt es eigentlich nur ein Format, um jemandem Deutschland in 90 Minuten zu erklären: Auch zehn Jahre nach meinem ersten und einzigen organisierten WG-Abend gibt es immer noch nichts, was das diffuse Gefühl von Stillstand und retrorealistischer Nostalgie besser vermitteln könnte als der Tatort.
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