von Peter Hintz
Nach Jahren tatsächlicher und vermeintlicher deutscher Krisen mag bei vielen Leser:innen Erklärungsbedarf bestehen, vielleicht auch Wünsche nach Erzählungen einer neuen, post-polarisierten sozialen Stabilität oder wenigstens Lust auf Abrechnung mit der jüngeren Vergangenheit. Diese Gefühle zumindest sollen zwei kürzlich erschienene Sachbücher ansprechen, in denen es um den Politiker Friedrich Merz und seine Selbstdarstellung als Bundeskanzler des Wandels und der Sicherheit geht. Es handelt sich um Merz – Auf der Suche nach der verlorenen Mitte der ZEIT-Journalistin Mariam Lau (Ullstein) und um Letzte Chance – Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie des stellvertretenden WELT-Chefredakteurs Robin Alexander (Siedler). Alexanders Buch ist auf den Bestsellerlisten angekommen, und auch Lau zieht als Merz-Erklärerin derzeit durch die Talkshows.
Im Klappentext von Laus Buchs heißt es: »Welche Antworten wird Friedrich Merz auf die geopolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit finden? Kann er große Zukunftsthemen vorantreiben, die Europa stärken? Wie geht Merz mit dem Reizthema Migration um?« Man fragt sich, wie ein nur zwei Wochen nach der Vereidigung von Merz erschienenes Buch diese Fragen zur politischen Zukunft seiner Regierung beantworten will. Mutmaßlich soll access journalism dabei helfen können, denn beide Bücher beruhen auf ausgiebigem Insiderzugang zu ihren politischen Hauptfiguren.
Vor allem thematisiert Laus Analyse den Blick von Merz und anderen heutigen CDU-Politiker:innen auf die letzten Jahrzehnte der Bundesrepublik. Sozialhistorische Befunde und politische Selbstrechtfertigungen aus der Post-Merkel-Union gehen dabei fließend ineinander über. Der Aufstieg der AfD und der sogenannten Neuen Rechten wird mit einer gesellschaftlichen Liberalisierung seit den 1990er Jahren in Verbindung gebracht, die einen Niedergang konservativer Politikangebote für den bürgerlichen Mainstream verursacht und damit nicht nur zum Wahlerfolg von Populisten, sondern auch zu schlechtem Krisenmanagement geführt habe. Falls man es angesichts eines vielseitig eingespannten Begriffs erst jetzt vermutet haben sollte: Bei der titelgebenden verlorenen ›Mitte‹ handelt es sich, wie Lau im Buch klarstellt, um eine politisch »rechte Mitte«.
Mit Merz seien die Konservativen wieder da. Sie »misstrauen dem Gleichheitsgedanken und glauben nicht erst seit Friedrich Nietzsche, dass die Liberalen sich da etwas in die Tasche lügen. Dass Leute sich unterscheiden und dass Respekt oder öffentliche Anerkennung an Leistung, Verdienst und hergebrachte Autorität geknüpft sein müssen«. Da mag es etwas erstaunen, dass Lau auf nur zwei von über dreihundert, oft biografischen Seiten den beachtlichen finanziellen Erfolg von Merz als Lobbyist und Aufsichtsrat thematisiert, den er seit seiner ›ersten‹ politischen Laufbahn in den frühen 2000er Jahren gehabt hat. Aber na gut: Laus überzeitliche Konservatismus-Definition dient vor allem dazu, einem historisch und inhaltlich an sich fluiden Konzept wie der »rechten Mitte« ein bisschen feste Bedeutung zu geben, auch wenn diese Definition in ihrer Generalität nicht gerade der Abgrenzung nach ganz rechts nutzt, die der Begriff ›Mitte‹ wiederum implizieren soll. Jedenfalls »knister[e]« dank der Rückkehr von Merz in die CDU-Führung nach langen Jahren der Merkel-Ödnis wieder die Spannung im Wahlkampf. Merz habe politische Haltungen »mit der Muttermilch aufgesogen« und sein Weltbild ziehe »Demarkationslinien«. Zugleich zeichne ihn aber der »grundsätzlich optimistische, zuversichtliche Ton« aus und die »Abwesenheit eines Feindbilds«.
Allerdings ist die impressionistisch verfasste Reportage, die aus einer Serie von Essays zu innen- und außenpolitischen Schlüsselthemen besteht, in ihren Urteilen selbst nicht immer ganz eindeutig: »Merz ist ein Konservativer in einer Ära der Autoritären, der sich den Titel ›konservativ‹ immer wieder neu verdienen muss, weil er ihn gelegentlich verspielt.« Bewusst wird durch verschiedene zeitliche und persönliche Perspektiven auf mögliche biografische Ambiguitäten hingewiesen. Gleich am Anfang des Buches geht es um den schwierigen Umgang von Merz mit der NS-Vergangenheit seiner Familie, an anderer Stelle wird das sich wandelnde Verhältnis von Merz zu Amerika nachgezeichnet. Regelmäßig kippt die ambivalenzoffene Analyse aber auch in merkwürdige Apologien. Beispielsweise: »Hat Friedrich Merz ein Problem mit Frauen? Oder haben sie eins mit ihm?« Oder: »Merz sei eine ›halbe Portion‹, hieß es etwa auf X. Aber die eigenhändige Bekämpfung des deutschen Rechtsextremismus erwartet man vom CDU-Chef und seinem General Linnemann dann aber doch.«
Öffentlich umstritten war noch vor der letzten Bundestagswahl eine Initiative von Merz für eine Verschärfung der Asylregeln. Für den Plan stimmten Union und FDP gemeinsam mit BSW und AfD ab, scheiterten aber in einer weiteren Abstimmungsrunde über das Gesetz. Anhand dieses Ereigniskomplexes entwickelt Lau ihr Narrativ der ›verlorenen Mitte‹: Wäre das Gesetz angenommen worden, am besten zusammen mit anderen Fraktionen als der AfD, hätte Merz gute Chancen gehabt, die AfD zu erledigen, weil AfD-Wähler:innen künftig angeblich zur CDU gehalten hätten. Es handelt sich also um eine reichlich kontrafaktische These, die im Text auch nie richtig ausbuchstabiert, sondern im Reportagestil vorwiegend durch Übernahme der damaligen Perspektive von Friedrich Merz präsentiert wird.
Lau meint: »In der Schicksalswoche im Januar 2025 zeichnete sich ab, dass die Wette des Kanzlerkandidaten aufging. Dass es inzwischen genügend Menschen im Land gab, die dankbar waren, nicht die AfD wählen zu müssen, wenn sie weniger Zuwanderung und mehr regelbasierte Ordnung auch im eigenen Land, am Frankfurter Hauptbahnhof oder auf dem Jungfernstieg in Hamburg sehen wollen.« Als der Gesetzesvorschlag schließlich durchfällt, kritisiert Lau: »Friedrich Merz opferte in dieser Woche die kostbarste Ressource, die ein Konservativer hat – sein Ehrenwort – für ein Manöver, das am Ende nur Verlierer unter den Demokraten […] produziert hatte.« Irritierenderweise geht es direkt danach aber wieder in den Eigentlich-hatte-er-ja-recht-Einfühlmodus: »Einer INSA-Umfrage zufolge überlegte zu diesem Zeitpunkt jeder fünfte AfD-Wähler, seine Stimme beim nächsten Mal der CDU zu geben. Den Schalter umlegen, aber ohne Hass – das schien noch immer die Mehrheit der Deutschen zu sein. Diese Mitte musste sich Friedrich Merz jetzt wieder neu verdienen.« Tatsächlich ist nur klar, dass die CDU bei der eigentlichen Bundestagswahl weiterhin Stimmen an die AfD verlor und vor allem Zugewinne bei Wähler:innen linksliberaler Parteien machen konnte. Welchen Effekt eine Annahme des Gesetzes auf diese Stimmenverteilung gehabt hätte, ist völlig unklar, was im Text unerwähnt bleibt.
Ähnlich suggestiv geht das Buch auch an anderen Stellen vor. Über CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, zuvor eigentlich eingeführt als konservativer Politiker, der immer wieder auf rechtspopulistische Rhetorik gesetzt hat, konstatiert Lau auf Basis einiger Gesprächsfetzen zusammenfassend, er wolle sich »erkennbar auch nicht in Kulturkämpfe stürzen« und stattdessen »so etwas wie bürgerliches ›Commitment‹ einklagen«, um die AfD zu bekämpfen: »Wer kann, soll arbeiten, und Bürgergeld nur für diejenigen, die es nicht können.« Ziemlich dürftig bleiben durch den nur oberflächlich inhaltlichen Fokus des Buchs auf Wahlkampfrhetorik, zeitweilige Weltbilder und erhoffte Wählerreaktionen journalistische Einordnungen damit verbundener, konkreter Programme, etwa der wirklichkeitsfernen und populistischen Bürgergeld-Reformpläne.
Deutlich indiskreter und martialischer als in Laus Linnemann-Porträt geht es in Robin Alexanders Letzte Chance zu. Kapitel haben Überschriften wie »Nachtsitzungen, Big Macs und Weißwein«, »Die Bluttat« oder »Offene Feldschlacht«. Kurz vor der Entlassung von Christian Lindner wird Wagners Walküre zitiert. Zwar trägt das Buch den Untertitel »Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie«, vor allem geht es wie bei Lau aber um Vorgängerregierungen. Laut Alexander soll das Buch eine »Warnung« an die kommende Merz-Regierung sein, die »mehr überwinden« wolle »als nur das Desaster der Ampel-Regierung.« Wie in Alexanders früherem Bestseller Die Getriebenen (2017), der sich um das angebliche Staatsversagen von Angela Merkels Asylpolitik drehte, wird wieder eine Geschichte politischer Inkompetenz entwickelt – diesmal im Umgang mit autoritären Bedrohungen.
Das neue Buch entwirft eine Chronologie der Kanzlerschaft von Olaf Scholz, die in etwa von der russischen Invasion der Ukraine bis zur Wahl von Merz reicht. Es handelt sich um eine Erzählung machtpolitischer Ränkespiele, ideologischer Grabenkämpfe und mangelnder Geradlinigkeit. Detailreiche Anekdoten aus der Tagespolitik der Ampelkoalition sollen Konflikte innerhalb der Scholz-Regierung repräsentieren. In Berliner Edelkneipen werden Verschwörungen geplant, technokratische Staatssekretäre wirken als Einflüsterer überforderter Politiker und Robert Habeck mutiert regelmäßig zum vermeintlichen Vertreter der »reine[n] Lehre« der Grünen. Laut Alexanders eigenen machiavellistischen Weisheiten brauche »[j]ede Koalition […] ein strategisches Zentrum. Die Ampel-Regierung hatte keines. Daran ist sie gescheitert.« Im Gegensatz zu Lau spart Alexander aber auch nicht an Pessimismus gegenüber dem politischen Kompass von Friedrich Merz. So rekonstruiert das Buch etwa, wie für Merz im Bundestagswahlkampf »Betroffenheit« über Messerangriffe in Deutschland und »Hochgefühl« über den scheinbaren Erfolg seiner politischen Plattform ineinander übergingen und er dadurch seinen Handlungsspielraum überschätzte.
Tatsächlich mag Alexander mit manchen Beschreibungen der Zersplitterung älterer liberaldemokratischer Mehrheiten überzeugen. Gerade vor diesem Hintergrund verwundert allerdings die gleichzeitig durch das Buch wabernde Vorstellung einer eigentlich konsensfähigen, aber übersehenen gesellschaftlichen ›Mitte‹. Wie bei Lau kann man damit von Alexanders Reportage den Eindruck bekommen, dass sie sich eine bestimmte aktuelle politische Rhetorik, die eigentlich Gegenstand der Berichterstattung sein sollte, nahtlos als eigene Analysekategorie aneignet. Denn ähnlich wie bei Lau konkretisiert sich diese ›Mitte‹ dann auch bloß als eine diffuse inhaltliche Mischung aus europäischer Sicherheitspolitik, Krisenstimmung und rechtspopulistischem Appeasement. Als die Union einmal gemeinsam mit den Linken abstimmt, um eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag zu erreichen, meint Alexander in Übernahme von AfD-Slogans: »Das wiederum aber stärkt den rechten Rand. Denn von dort wird fortan, nicht ganz zu Unrecht, kritisiert: Obwohl die Deutschen zunehmend rechts wählen, werden sie weiter politisch links regiert.«
Natürlich werden beide Bücher mit ihren Angeboten von ›politischer Authentizität‹ und ›neuem Common Sense‹ trotzdem ihre Leser:innen finden – Letzte Chance befindet sich inzwischen auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste für Sachbücher. In ihrer Suche nach Ursachen für die autoritäre Wende und Prognosen für die Zukunft können die Bücher letztlich aber nur begrenzt Einsichten bieten, die über teilnehmende Beobachtungen der rechten Diskursverschiebung hinausgehen.
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Foto von Stefan Heinemann