von Philip Schwarz
Das von der Pandemie verstärkte Bedürfnis nach öffentlich vollzogener, vorgestellter und diskutierter Wissenschaft beschränkt sich nicht allein auf die medizinische Forschung zum Coronavirus. Viele erleben zum ersten Mal eine Situation, in der sie genötigt sind, ihre eigenen Bedürfnisse und Gewohnheiten in der Weise hintanzustellen und auf andere Rücksicht zu nehmen. Nicht von ungefähr wurde der Mund-Nasen-Schutz zum Symbol, dem die verschiedene Seiten jeweilige politische Bedeutung verliehen. Für die einen wird er zum Zeichen der staatlichen Unterdrückung erklärt und in geschichtsvergessener Geschmacklosigkeit mit dem gelben Stern verglichen, den Jüd:innen im Dritten Reich tragen mussten. Für die anderen ist er das sichtbare Bekenntnis zum Zusammen- und Durchhalten. Aus dem Podcast mit Christian Drosten wissen wir, dass der MNS primär die anderen davor schützt, von der Träger:in angesteckt zu werden. Einen MNS zu tragen ist also in diesem Sinne ein Akt der Selbstlosigkeit und Solidarität. Dieser hat aber nur seinen Sinn, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass die anderen sich ebenfalls solidarisch verhalten. An der einfachen Frage “MNS tragen oder nicht” zeigt sich, wie die Pandemie uns zwingt, unser Zusammenleben sehr grundsätzlich zu überdenken.
Für Zusammenleben und Grundsätzliches sieht sich seit jeher die Philosophie zuständig, und auch dieses Mal fanden sich schnell Philosoph:innen, die bereit waren, sich über die existentiellen und moralischen (eben grundsätzlichen) Implikationen der Pandemie zu äußern. Slavoj Žižek legte bereits im Mai ein Buch mit dem Titel “Pandemic! Covid-19 shakes the world” vor. In der Juni-Ausgabe der Information Philosophie schrieb die Erfurter Philosophiehistorikerin Bärbel Frischmann über das Virus und den Angstbegriff bei Kierkegaard. Der Bonner Philosoph Markus Gabriel gab am 13. April 2020 (also etwa 5 Wochen bevor Žižeks Buch erschien) dem Sender Russia Today Deutsch ein Interview, in dem er sich unter anderem über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie äußerte.
Zum Zeitpunkt des Interviews hatte Gabriel sich bereits als öffentlicher Philosoph in Stellung gebracht. Sein Buch “Warum es die Welt nicht gibt” war vor einigen Jahren ein Bestseller. Darin erklärt er seine Position, den sogenannten Neuen Realismus und seine Ontologie der “Sinnfelder”. 2015 folgte “Ich ist nicht Gehirn”, in dem er erklärte, eine “Philosophie des Geistes für das 21. Jh.” (so der Untertitel) entwickeln zu wollen. Sein neuestes Werk “Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten” will einen “starken Moralischen Realismus” verteidigen, folgt also der These, dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können und die Bedingungen ihres Wahr- oder Falschseins unabhängig davon sind, was die Menschen für wahr oder falsch halten. Sein Gegner ist dabei der “postmoderne Unsinn”, demzufolge moralische Überzeugungen Produkte historisch gewachsener Kulturen und Machtstrukturen sind, die nicht sinnvoll kritisiert, sondern nur hingenommen werden können.
Da dieser “postmoderne Unsinn” gegenwärtig ein bevorzugtes Schreckgespenst des rechtsliberalen Feuilletons darstellt, überrascht es vielleicht nicht allzu sehr, dass Gabriel der NZZ mehrere Interviews zum Thema gab. Eines dieser Gespräche zeigt einen repräsentativen intellektuellen parforce-Ritt durch alles, was Gabriel und sein Interviewpartner René Scheu für schlecht halten, sowie Lösungen für die angesprochenen Probleme. Cancel Culture, Rassismus, Donald Trump, die Zukunft der Demokratie, Analsex – der Philosoph hat auf alles eine Antwort.
Es ist ein wiederkehrender Witz in der Philosophie, dass Sokrates es in seinen Dialogen häufig mit Gesprächspartnern zu tun hat, die ihm zwar zu Anfang widersprechen, später aber stumm an seinen Lippen hängen oder kritiklos seinen rhetorischen Fragen zustimmen und ihm Stichwörter liefern. Während dies für die Sokratischen Dialoge nur stellenweise zutrifft, liest sich das Interview mit Gabriel wie eine Parodie eines solchen Dialogs, die diesen Aspekt überbetont. Das Gespräch beginnt damit, dass Scheu eine These formuliert, die von Gabriel zurückgewiesen wird, um dann im weiteren Gesprächsverlauf Gabriel zuzustimmen, dessen Ausführungen aufzugreifen und Stichworte zu geben. Die These, mit der das Gespräch beginnt ist ein “Leitsatz” aus einer “journalistischen Initiative” der NZZ und lautet “Keine Wahrheit ist unangreifbar.” Gabriel weist den Satz entschieden zurück. Scheu hakt nach, es sei doch Common Sense, dass es keine “alleinseligmachende Wahrheit” in der Demokratie gebe. Gabriel erwidert, das sei eine Verwechslung von Meinung und Wahrheit, und Konsens sei kein Kriterium für Wahrheit.
Damit ist das Thema für das ganze Gespräch gesetzt. In verschiedenen Zusammenhängen wird der Gegensatz von Realismus und objektiver Wahrheit gegen Postmoderne und Relativismus durchexerziert, wobei die wiederholte Feststellung lautet, dass nur die Akzeptanz einer objektiven Wahrheit die Demokratie retten könne. Die “Postmodernen Linken” hätten den Geist des Relativismus aus der Flasche gelassen und sähen sich jetzt mit der Erosion der Demokratie konfrontiert. Phänomene dieser Erosion sieht Gabriel in Donald Trump, aber auch in der sogenannten Cancel Culture. Nur auf Machtzuwachs bedacht betreibe sie online-Mobbing in Form von umgekehrtem Rassismus und bedrohe weiße, heterosexuelle Männer mit dem “sozialen Tod”. Scheu springt ihm ganz in “Du sagst es, o Sokrates”-Manier bei und sieht in der sogenannten Cancel Culture “angewandte poststrukturalistische Theorie”, deren “pseudomoralische Hierarchie“ Autorität anhand von “Opferpunkte[n]” verteile.
Später geht es um die Gefährlichkeit des Coronavirus und die bestmöglichen wirtschaftlichen Maßnahmen, die der Staat treffen könne. Gabriel verweist hier auf die Ungewissheit der Zukunft, aus der sich die Bedeutung der deliberativen Demokratie ergebe, die den Raum zur Konsensfindung biete. Er kontrastiert dieses Bild mit den Wissenschaften, die als “Orakel” wahrgenommen würden, dabei aber die Zukunft gar nicht vorhersagen könnten, weil die Zukunft ja auch auf Grund dieser Vorhersagen gestaltet werde. Durch eine inhaltlich schwer nachvollziehbare, aber rhetorisch meisterlich ausgeführte Überleitung (“Pharma-Konzerne” und “Fama-Konzerne”) geht es im Folgenden um die Sozialen Medien, die Gabriel als Brutstätte des Relativismus ausmacht. Da wir im Internet mit zu vielen widersprüchlichen Meinungen konfrontiert seien, würden wir aufgeben, nur noch glauben, was unser Weltbild bestätigt, und den anderen ihre Meinung zugestehen. Da könne man nichts machen, confirmation bias sei nun einmal Evolutionsbiologie. Die Lösung könne daher nicht “technisch” sondern müsse “menschlich” sein – Bildung.
Von da aus holt Gabriel zum Schlag gegen die Wissenschaftler:innen aus, die wahlweise ebenfalls postmoderne Relativist:innen seien oder “Neurozentrist:innen”, also die These verträten, dass unser Handeln vollständig durch die Hirnstrukturen vorgegeben sei. Für beide gebe es keine objektive Moral – für die Relativist:innen nicht, weil es ja nur um Machtstrukturen gehe, für die Neurozentrist:innen nicht, weil die Menschen ja nur als Maschinen sähen. Solchen Figuren stellt Gabriel den “Schweizer Uhrmacher” gegenüber, der ohne jede philosophische Reflexion klar wisse, dass es Realität und Wahrheit und objektive moralische Grundsätze gebe.
Es folgen einige allgemeine Ausführungen darüber, was Moralphilosophie ist, warum moralische Wahrheiten kulturunabhängig sind, und dass wir als Menschen in gewissem Sinne nicht darauf verzichten können, moralisch zu sein. Das Gespräch endet damit, dass Gabriel Gelegenheit erhält, seine Einschätzung zu einer Reihe von moralischen Tatbeständen abzugeben. Scheu liefert ihm dazu Stichwörter (“Demokratie” – “Monarchie” – “Legalisierung weicher Drogen”) und Gabriel ordnet sie moralisch ein (“gut” – “böse” – “neutral”). Gelegentlich wird nachgehakt, und er begründet seine Antwort. Das Gespräch endet damit, dass es “Natürlich gut” sei, ein Buch von Markus Gabriel zu lesen.
Es gibt eine Reihe von Aspekten, die dieses Interview zu einem schlechten Beispiel für öffentliche Philosophie machen. Da wäre zunächst der Duktus der Selbstbestätigung durch das Abarbeiten an den immer gleichen Themen mit den immer gleichen Ergebnissen – Erschöpfungsfeuilleton par excellence. Ein Philosoph spricht in einer Zeitung darüber, was moralisch richtig und falsch ist, und über die Gefahren, die darin liegen, diese Unterscheidung nicht zu machen. Das Ergebnis ist, dass all das, was die Zeitung im Wochenrhythmus verkündet, ohnehin richtig ist. Dieser Selbstbestätigungs-Loop geht dabei so weit, dass Gabriel eine ganze Reihe culture wars-Klischees bedient. Die Universitäten erscheinen als Hochburgen der postmodernen Theorie, Wissenschaftler:innen haben die Objektivität aufgegeben. Der “postmodernen Linken” geht es letztlich nur um Macht, und Kritik an Rassismus ist irgendwie auch Rassismus.
Auch kommt man nicht umhin sich zu fragen, wie Gabriels Besorgnis um die Demokratie angesichts der Erosion des Glaubens an eine objektive Wahrheit mit seinem Auftritt bei Russia Today Deutsch zu vereinbaren ist. Dies mag wie eine sachfremde Ad-Hominem-Anschuldigung wirken, aber so einfach ist es nicht. Wer Wahrheit und Demokratie gegen Propaganda und Relativismus verteidigen will, sollte sich zumindest gut überlegen, ob er in einem Sender auftreten will, der als Sprachrohr einer Regierung gilt.
Von diesen diskursdynamischen Aspekten abgesehen, lassen Gabriels Ausführungen auch an philosophischer Substanz vermissen. Das macht sich bereits am Anfang bemerkbar, als er den Slogan “Keine Wahrheit ist unangreifbar” zurückweist, den Unterschied zwischen Meinung und Wahrheit betont und die Meinungsfreiheit in der Demokratie anspricht. Die Erkenntnistheorie als philosophische Disziplin beschäftigt sich mit dem Unterschied zwischen Meinung und Wissen. Wenn beide nicht dasselbe sind, was unterscheidet sie voneinander? Warum sind sie so leicht zu verwechseln? Woran erkennen wir, ob wir wissen oder nur meinen? Gabriels Beispiel gegen die Konsenstheorie der Wahrheit ist, dass eine Gruppe Physikstudent:innen nicht einfach die Schrödinger-Gleichung umschreiben könne. Aber warum nicht? Wenn ein paar Dutzend habilitierter Physiker:innen am Ende eines Kongresses verkünden, die Schrödinger-Gleichung müsse umgeschrieben werden, wäre das etwas anderes? Was würde diese Fälle voneinander unterscheiden? An keiner Stelle wird darauf eingegangen, welche Argumente die Vertreter:innen der Positionen vorbringen, die Gabriel kritisiert – nicht einmal, um sie zu widerlegen.
Diese Nachlässigkeit zieht sich durch das gesamte Gespräch. Gabriel ist sehr überzeugt davon, dass die Aussagen der “postmodernen Linken” falsch sind. Eine echte Auseinandersetzung mit den Critical Studies und ihren begrifflichen Voraussetzungen findet dabei nicht statt. Über eine klischeehafte Darstellung hinaus macht er keine Angaben darüber, was diese Aussagen sind, wie sie begründet werden, und warum diese Gründe keine guten Gründe sind. Damit verletzt er das Prinzip der wohlwollenden Interpretation. Wer die Thesen und Argumente einer Position kritisieren will, muss sie erst einmal als Aussagen sehen, die Anspruch auf inhaltlichen Sinn, logische Stringenz und Richtigkeit erheben. Warum kann es entgegen der These der Critical Race Studies sehr wohl Rassismus gegen Weiße geben? Welchen Fehler machen jene, die das behaupten? Was heißt es zu sagen, dass Wahrheit ein Produkt von Machtverhältnissen sei? Unter welchen Bedingungen könnte man das sinnvoll sagen?
Wenn sich herausstellt, dass diese Bedingungen nicht erfüllt sein können, wäre Gabriels Kritik berechtigt. Aber auf diese Ebene der Analyse dringt das Gespräch an keiner Stelle vor. Die Ungewissheit der Zukunft soll die Bedeutung des demokratischen Diskurses begründen, der das Ergebnis offen lässt. Aber wenn die Zukunft nicht vorhersehbar ist, woran soll sich dieser Diskurs dann orientieren? Gabriel sagt zu Beginn des Gesprächs selbst, dass der Erfolg einer Meinung in der Demokratie kein Anhaltspunkt für ihre Wahrheit ist. Aber wie ist dann garantiert, dass der demokratische Prozess die objektiv richtige Meinung darüber, wie die Zukunft sein wird, bevorzugt? Dasselbe sehen wir bei seiner Kritik des “Neurozentrismus”. Natürlich könnte eine Person mit einem neurozentrischen Menschenbild zu dem Schluss kommen, es sei moralisch unproblematisch, einer anderen Person Hormone unterzujubeln, um sie “rumzukriegen”.
Diese Folgerung wird aber von einem Neurodeterminismus nicht zwingend nahegelegt. Es ist ebenso möglich zu sagen, wenn die andere Person keine Lust habe, sei es falsch, hier in den biologischen Ablauf einzugreifen. Welche Konsequenz man hier zieht, ist von einer ganzen Reihe Zusatzannahmen abhängig, die anzusprechen und zu analysieren Gabriel nicht für nötig hält. Auch ist nicht klar, wie die Ablehnung eines im Gehirn verorteten Determinismus mit der These vereinbar ist, wir seien evolutionär auf eine bestimmte Verhaltensweise im Internet festgelegt. Ist dies nicht genau der biologistische Determinismus, den Gabriel kurz zuvor noch entschieden zurückgewiesen hat? Und wie verhält sich die biologische Bestimmtheit unserer fehlenden Medienkompetenz zu der Forderung nach Bildung, die genau hier abhelfen soll? Diese Thesen sind nicht grundsätzlich unvereinbar, aber für ihre Vereinbarkeit müsste auch wieder argumentiert werden, und das geschieht einfach nicht.
Es ist ein Klischee, dass die philosophische Arbeit darin besteht, vorgefasste Meinungen zu hinterfragen und zu revidieren, wenn sie sich als unzureichend begründet herausstellen, aber es ist ein zutreffendes Klischee. Die Sokratischen Dialoge geben ein Beispiel dafür. Sokrates ist immer bereit, die in seinem gesellschaftlichen Umfeld etablierten sozialen Selbstverständlichkeiten ins Wanken zu bringen (so kritisiert er im Eutyphro etwa die Idee einer religiös fundierten Moral, und in der Politeia argumentiert er für die natürliche Gleichheit von Frauen und Männern). Wenn seine Gesprächspartner irgendwann verstummen, dann weil er sie überzeugt hat. Gabriel lässt die Bereitschaft vermissen, den Boden des für die Gesprächspartner Selbstverständlichen zu verlassen. In diesem Gespräch findet keine Philosophie im relevanten Sinne des Wortes statt. Dies wird noch einmal am Ende deutlich, als Gabriel im Schnelldurchlauf seine moralische Einschätzung abgeben kann. Die Ironie, dass Gabriel kurz zuvor noch ein falsches Verständnis der Wissenschaften als “Orakel” beklagt hat und nun seinerseits als moralisches Orakel auftreten darf, scheint keinem der beiden Gesprächspartner bewusst zu sein.
Es ist nicht Aufgabe der Moralphilosophie eine Liste zu erstellen, was richtig und was falsch ist. Die Philosophie verkündet keine Wahrheiten, sie stellt ein logisch-begriffliches Instrumentarium zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir überprüfen können, warum wir für wahr halten, was wir für wahr halten, und ob wir darin gerechtfertigt sind. Natürlich ist ein Zeitungsinterview kein Vortrag auf einer Tagung oder ein Aufsatz in einem Magazin mit peer review. Aber: Auch für öffentliche Philosophie gelten die Maßstäbe des Philosophierens. Es ist bedauerlich, dass hier eine Gelegenheit verpasst wird, ein Beispiel für öffentliche Philosophie in unsicheren Zeiten zu geben. Die Philosophie hat zur Coronakrise viel zu sagen (sie hat immer viel zu sagen). Es wäre wünschenswert, wenn sie die Ansprüche an sich selbst erfüllen würde.
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