Dies ist der vierte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2, Teil 3)
Es schreiben mit:
Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Emily Grunert, Fabian Widerna, Jan: @derkutter, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Maike Ladage @mai17lad, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Nefeli Kavouras, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Sandra Gugić: @SandraGugic, Sarah Raich: @geraeuschbar, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk
23.03.2020
Andrea, Tübingen
Jeden Tag spazieren zu gehen. Das hatte ich mir fest vorgenommen. Es hat letzte Woche fast geklappt. Diese Woche will ich es wirklich jeden Tag schaffen. Lunge lüften, Kopf lüften. Das mit dem Kopf war heute nicht drin. Ich bin meine übliche kleine Hausstrecke gelaufen am Neckar. Es gibt eine Stelle, an der Schwäne sind, und es braucht nur einen kleinen Schlenker, dann kann man sie ganz nah sehen. Ich liebe das. Heute bin ich einfach vorbeigelaufen, habe es erst danach gemerkt. War offenbar gedanklich nicht *da*, wo ich eigentlich sein wollte.
Sonja, Köln
Ich bin ruhiger. Vor dem Supermarkt um die Ecke wartet man jetzt vor der Tür bis ein Einkaufender herauskommt, ein Türsteher winkt dann wortlos den nächsten rein. Ich muss nicht rein, Klopapier habe ich am Wochenende für 4,50 an einem Kiosk gekauft.
Durch die Quarantäne in Spanien finden Tauben weniger Futter. Deswegen folgen sie Menschen, die aus Supermärkten kommen 👀 #Covid_19 pic.twitter.com/B2Qj7HCayc
— Gazal Köpf (@itsameitsashe) March 21, 2020
Ich bin ruhiger, weil ich jetzt viel in Kontakt mit Freund*innen und der Familie bin. Die Videochats sind voll besetzt, dass sich der Bildschirm bei Whatsapp in vier kleine Fenster teilt, und bevor wir anfangen durcheinander zu reden, machen wir erst alle einen Screenshot von unseren digital dicht gedrängten Gesichtern.
Jeder Spielplatz, an dem ich vorbeilaufe, ist gerahmt durch Absperrband, das sehr selbstverständlich im Wind weht. Das katastrophische Denken, das meine letzte Woche beherrscht hat, hat sich in ein angenehmes Gefühl der Entschleunigung und Akzeptanz verwandelt. Ich genieße das Alleinsein, wenn ich weiß, dass ich es nicht bin. Außerdem habe ich nun einen Coronaabschnittsgefährten. Seit Freitag. Wir hatten schon vorher Kontakt, wohnen beide alleine, arbeiten von zu Hause aus und irgendwann habe ich mich dann getraut und gefragt: Möchtest du mein Quarantänepartner sein? Er hat Ja gesagt. Nun spazieren wir zusammen, kochen uns wechselseitig Essen und besuchen uns in unseren Mittagspausen, um uns feste zu umarmen. Es geht mir gut. Eine Freundin skyped mich an. Am Samstag hat sie mich aufgebaut, heute bricht die Situation über sie herein.
welches Wort scheint Euch adäquat für die aktuelle Situation?
— Hannes Leitle*in (@hannesleitlein) March 22, 2020
Meine Schwester leitet eine Whatsapp-Audiodatei unsere “Familie 2.0”-Gruppe weiter:
“Hi Leute! Ähm, der Schwager von dem Heilpraktiker von meinem Paketlieferanten, der arbeitet beim Robert Koch-Institut und die haben gerade Experimente durchgeführt und das vielversprechendste, was die jetzt herausgefunden haben, is äh, wenn man sich Wachsmalstifte in die Nase steckt, am besten rote und blaue, dann ist man immun gegen Coronavirus. Das is halt noch nicht offiziell und so, weil die Studien noch nicht veröffentlicht werden, die noch nicht so weit sind, aber, ähm, das kommt von ganz intern. Also wenn ihr euch schützen wollt, dann wollt ich’s euch auf jeden Fall weitergeben. Also seid immer sicher und, äh, geht am besten nicht raus, es sei denn mit Wachsmalstiften in der Nase. Tschüss!”
24.03.2020
Viktor, Frankfurt
@geraeuschbar hat mir „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“ empfohlen und darin schreibt Fromm: „Es gibt viele affektive Empfindungen, für die eine bestimmte Sprache keine Bezeichnung hat, während eine andere reich an Ausdrücken ist, die diese Gefühle benennen. (…) Allgemein kann man sagen, dass eine Empfindung selten bewusst wird, für die die Sprache kein Wort hat.“
Und wenn eine Sprache die Worte dafür hat, aber ein Mensch es nicht lernt, seine Empfindungen zu erkennen? Weil er zum Abstumpfen gezwungen war, oder weil er die Wörter nicht kennt, aber trotzdem empfindet?
Wie fühlt sich das Unabsehbare an? Das Ungewisse? Es liegt offenbar eine Grundnervosität über allem, zumindest deuten manche Einträge in diesem Tagebuch darauf hin und manche Tweets:
Vielleicht täusche ich mich, aber könnte es sein,
dass Ihr im Moment ein Winkelminütchen gereizter seid als ohnehin schon? Alle?
— Sascha Lobo (@saschalobo) March 24, 2020
Ich wundere mich zugleich darüber, wie die erzwungene Entschleunigung auf mich wirkt. Ich lese mehr, ich lese langsamer (und ich lese auch sonst sehr langsam), ich klebe länger an einzelnen Sätzen, lese sie noch einmal und noch einmal und dann erinnere ich mich an ein anderes Buch, im Kopf entsteht eine Landschaft aus Büchern, die durch Pfade miteinander verknüpft sind, Gedankenpfade. Das befriedigt ungemein.
Maike
Immerzu verwundert. Ausnahmezustand ständig präsent, gleichzeitig seltsames Aus-der-Zeit-Fallen und ganz Gegenwärtig-sein. Der Lebensmitteleinkauf wie der Fall in einen dystopischen Roman.
Aber auch das plötzliche Aufatmen, weil die Leute Abstand halten und ich merke, wie gut mir das tut. Mir war nie klar, wie sehr mich das alltägliche Gedränge vieler Menschen belastet hat.
Shida
Heute ging es mir kurz so richtig gut, mit guter Laune und allem. Ich habe dann überlegt, was ich davor gemacht habe, um es möglichst oft, am besten durchgehend, ganz genau so ab jetzt täglich zu wiederholen. Ich kam dann zu dem naheliegenden Schluss: Ich habe mich nicht mit Corona beschäftigt. Ich habe einfach nur lässig ge-care-arbeitet und Tee getrunken und dabei überhaupt kein Corona Moment Stopp noch mal zurück gespult bitte was war das das für ein Rauschen. Von wegen. Es war anders. Ich habe lässig ge-care-arbeitet und Tee getrunken und Radio gehört. Im Radio ging es durchgehend um Corona, wie immer, und ich habe konzentriert zugehört, nicht etwa an etwas Wunderschönes aus der Vergangenheit gedacht oder so. Es gab keine Pause von Corona, ich hatte nur ein paar Minuten später vergessen, dass ich mich mit Corona beschäftigt habe. Da war er dann also, der Beweis Nummer 2: Ich habe mich an all das gewöhnt.
(Das Rätsel über die Herkunft der guten Laune ließ sich übrigens nicht klären. Vielleicht waren es einfach erste Anzeichen des Durchdrehens. Wie neulich, als B. mir einen witzigen Tweet zeigte und wir beide für viele Minuten lachend auf dem Boden lagen, ohne Geräusche außer leisem Jauchzen von uns zu geben und dabei zu weinen, als hätten wir noch nie in unserem Leben etwas witzigeres gehört:
TGIF. https://t.co/6lIOtsRdj2
— Christian Drosten (@c_drosten) March 20, 2020
Wimmelbücher erscheinen heute trotzdem sehr aus der Zeit gefallen. Die bunten Bilder von vollen Straßen, Autos, Menschen, Hunden, machen mich nostalgisch, ungefähr so, als würde ich mir eine Folge Wetten dass…? aus den 90ern anschauen.
Slata, München
Es sind eher die Reste der Sozialität, die uns stören, einzeln würden wir wunderbar unsere Tage am Computer verbringen, einmal am Tag kurz rausgehen in die Felder vielleicht, um vergleichen zu können, wie das Wetter heute ist, wie es gestern war, wie es sein wird morgen, und sonst wären wir völlig zufrieden mit unserem produktiven, konzentrierten, unaufgeregten Dasein. So aber bilden wir ein Kollektiv, irgendwie, von außen und auch von innen, und zum Abend hin, wenn es unanständig wird, weiter am Computer zu sitzen, wissen wir nicht recht, können wir uns mit Mühe daran erinnern, wozu man ein Gegenüber braucht.
Emily, Rostock
An einem Sonntag ist das Ganze nicht weiter schlimm, es fällt mir kaum auf. Zum Anfang der Woche kommt dann die Unruhe zurück. Freund*innen erzählen mir wie sie – allein in ihren Wohnungen – plötzlich laut aufschreien oder um sich schlagen und meine Mutter ist deprimiert, weil es keinen Grund mehr gibt, schöne, unbequeme Kleider anzuziehen. Ich rede mit der Espressokanne und zähle rückwärts bis zu dem Tag, an dem ich das letzte Mal einen Menschen umarmt habe. Anfang letzter Woche habe ich mir Weidenkätzchen und Pfirsichzweige gekauft. Ich habe jetzt schon Angst davor, dass sie verblühen und ich beim Aufwachen auf leere Vasen schauen muss. Statt den Blüten der Magnolie im Innenhof beim Wachsen zuzusehen, schreibe ich Emails. Der Buchstabe „E“ auf meiner Tastatur funktioniert nicht mehr. Ich kann nur unter erschwerten Bedingungen Pandemie schreiben. Epidemie. Was noch geht: Virus. Isolation. Social Distancing. Traurig und taub. In meinem Kühlschrank liegen zu viele Bierflaschen und ein bisschen Sorge habe ich vor dem ersten Mal betrunken ins Bett gehen ohne ein Gegenüber gehabt zu haben.
Vor der Klinik ein Banner, das allen Menschen in systemrelevanten Berufen für ihre Arbeit dankt. Auf beide Seiten leuchtend rot gesprüht: ACAB.
Fabian, München
Es ist dann noch recht schwer, ein seit Monaten aufgeschobenen Projekt monatelang immerhin im Hinterkopf in die eine oder andere Richtung geschoben habend, an verschiedenen losen Enden weitergeschrieben, deren Anknüpfungspunkte dann oft verlorengehen, jetzt wieder anzupacken, jetzt, wo man Zeit hätte, einerseits, und andererseits dem Kälteeinbruch zum Trotz, der vorgestern den Garten vorm Balkon, zumindest ein paar Stunden lang, bevor die Sonne doch alles wieder weggetaut hat, schneebedeckt hatte daliegen lassen, das schöne Wetter dort draußen und ein doch noch erstaunlich diffuses Gefühl einer Einübung in den totalitären Staat, wenn draußen die Mannschaftswagen der Münchner Polizei unter Androhung harter Bestrafung zum Zuhausebleiben auffordern. Jetzt, drei Tage später, könnte man auf die Idee gekommen sein, was für einen hirnrissigen Eindruck das macht; oder an den entscheidenden Stellen fühlt man sich der Kooperationsbereitschaft der Münchner Bevölkerung ausreichend sicher; oder eine potentielle personelle Knappheit im exekutiven Bereich führt dazu, und wir sind nur samstags und sonntags dran, gut, wir werden sehen.
Marie Isabel, Dunfermline
Nun also die Insel im #lockdown. Heute früh auf dem Mobiltelefon eine entsprechende SMS. Direkt von www.gov.uk. Woher haben die nochmal meine Nummer?
Im Radio erzählen Menschen davon, wie die Pandemie ihren Alltag verändert. Einer psychisch Erkrankten ist die professionelle Unterstützung weggebrochen; sie hofft nun auf Nachbarschaftshilfe. Ein älterer Mann macht sich gut gelaunt in seinem Garten zu schaffen. Ein Theaterproduzent versucht, so viele Schauspieler wie möglich weiter zu beschäftigen. Eine Mutter berichtet glücklich, dass einer ihrer Söhne nach über zwei Dekaden Funkstille plötzlich bei ihr angerufen habe.
Als ich am Nachmittag zum alleinsamen Spaziergang aufbreche, scherzt mein Mann, ich solle das Handy lieber daheim lassen. Für den Fall, dass die Regierung überwache, wie lange und wie weit ich laufe. Wenn sie meine Schritte zählen würden, wäre das ganz praktisch. Später, auf freiem Feld, fühle ich mich beobachtet von einem Satelliten, der im All in gerader Linie über mir hängt. Beruhigend, die Blätter der Kastanien aus ihren klebrigen Ummantelungen hervorbrechen zu sehen und die Farbtupfer überall: violet, blaulila, dottergelb, weiß, grün (alle erdenklichen Varianten), kaminrot. Die elektronische Tafel eines Verkehrsschilds vermeldet stauvergessen: ‘Covid-19 essential travel only’.
Es ist an der Zeit, in meinem Gedankenpalast ein neues Zimmer einzurichten. Darin wird alles, was mit ‘Little Miss Corona’ zu tun hat, weggesperrt. Die Tür ist einfallslos blutrot, darauf, mittig und in zersplitterter Form, eine überlebensgroße Darstellung des Virus, wie man ihr momentan überall begegnet. In dieses Zimmer hineingelauscht und -geschaut habe ich bislang nur kurz, die Tür gleich wieder zugemacht. Not a pretty sight.
Heute abend per WhatsApp die Nachricht einer Freundin, mit der ich Freitag noch unterwegs war: Sie hat angefangen zu husten.
Birte, Darmstadt
Ich bin jetzt stolze Besitzerin eines temporären Zugangs zur Bayrischen Staatsbibliothek, damit ich da Digitalisate der Bücher lese und ggf. herunterladen kann, die im Büro liegen, in das ich nicht gehe. Die Beschaffungswege sind nahezu abenteuerlich, gegenseitig bietet man sich die Zugänge zu Bibliotheken an als würde man dealen. Ein Buch hat mir ein britischer Kollege als pdf über eine rumänische Kollegin besorgt, damit ich es den Studierenden zur Verfügung stellen kann. Eins ist am 19. März erschienen und weder an der Uni noch bei mir privat eingetroffen. Dafür kam heute nochmal Katzenfutter.
25. März
Sarah, München
Köpfe wandern vorbei an unserem Erdgeschossfenster, von morgens früh bis zum Sonnenuntergang zieht ein stetiger Strom vorbei. München spaziert und joggt, radelt und skatet. Wir wohnen in einem Randbezirk, hier ist die Stadt zu Ende, aber davor kommt noch ein Wald. In den Zeiten vor Corona war in unserer Straße nichts los. Es gab keinen Grund hierher zu kommen. Hier ist nichts. Noch nicht mal ein Briefkasten. Kein Zigarettenautomat und auch keiner für Kaugummis. Also kam niemand. Außer am Sonntag. Da kamen Menschen mit Hunden und solche ohne, und jene mit Kinderwagen und Laufrad im Kofferraum und suchten einen Parkplatz, um ihren Sonntagsspaziergang zu starten. Nun ist jeden Tag Sonntagsspaziergang. Das Ende der Stadt ist auf einmal beliebt.
Das noch etwas anders ist, fällt auf, wenn man mitgeht. Wo man früher aneinander vorbei schlenderte, einander ignorierte, um die gegenseitige Sonntagsfamilienblase nicht zu stören, geht man heute zögerlich aufeinander zu, beäugt den Abstand, wartet, lächelt ein wenig verschämt einander an. Corona, sie wissen ja.
Und irgendwie drängt sich Corona in alles, tropft in jeden Gedanken, wenn nicht als Wort, dann doch als Zustand, als Gefühl. Auch das Schreiben lässt es nicht in Ruhe. Obwohl doch schon ausführlich getwittert wurde, dass das jetzt verboten ist, über Corona schreiben. Nein, natürlich nicht. Weiß ja jeder. Will ja keiner. Und dann kommt es eben doch durch und zwängt sich aufs Papier.
Dieses makellose Blau
Es beginnt in der Ecke oben links, hinter dem Hochbett. Die Tapete verdunkelt sich, wirft schwarze Blasen, für einen Moment schein alles still zu stehen, und dann fegt der Feuersturm das Zimmer fort.
„Mama, du sollst bauen!“
Ob sie die Schmerzen spüren würden? Oder geht es so schnell, dass das Nervensystem blockiert, bevor die Gefühle durchkommen?
Sie geht in die Küche und steckt zwei Scheiben Toast in den Toaster. Der Raum ist dunkel und gemütlich, alles okay hier. Alles okay. Der Frischkäse ist schon ein bisschen eingetrocknet, eine gelbliche Kruste, die am Rand der Packung klebt. Sie hebt sie hoch zu ihrem Gesicht und sucht nach den dunklen Flecken von Schimmel. Die weiße Masse riecht wie immer, kühl, salzig und metallen.
„Mama! Essen!“ Die Freude in ihren Stimmen ist laut und grob, sie stupsen ihre kleinen Körper an ihren, springen auf der Stelle, die Arme nach oben gestreckt, als könnten sie so irgendwie ändern, dass ihr Kopf unerreichbar ist. Sie lächelt zurück, streicht über verstrubbeltes Haar, das Spiegeln von Emotionen ist so wichtig.
Die Sonne ist hell, der Himmel blau. So blau als wäre dahinter nichts, keine Schwärze, die auf die Nacht lauert. Er wirkt so echt, dieser Himmel über ihnen. Dabei ist Nichts an ihm wahr. Bloß eine Hülle zwischen ihnen und der Wirklichkeit, der Düsternis des Weltalls und den brennenden Sternen.
„Schau mal, ein Hubschrauber“, sagt der Kleine und zeigt hoch. Sie schaut nicht hin, da oben fliegt nichts, sie kennt das schon. „Ja“ sagt sie. „Schön.“
Wieder kommen die Flammen, diesmal fegen sie über die Straße, schmelzen den Asphalt, sie kann sehen, wie er zu kochen beginnt. Sie kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Ob es einen Moment des Schmerzes geben wird?
„Guck mal, was ich kann!“ Der Große ist auf das Mülltonnenhäuschen geklettert. Sie schaut, die Hand über den Augen, so dass die Sonne ihr nicht die Sicht nimmt. Er breitet die Arme aus, der ganze Körper gestreckt, ein festgefügter Zellhaufen voller Spannung. „Ich fliege!“ schreit er und stößt sich mit beiden Beinen vom kieselbesetzten Waschbeton ab. Sie macht einen Schritt vorwärts und breitet die Arme aus. Sein Körper schlägt auf ihr ein, fast stürzen sie zu Boden, aber sie fängt sich mit einem weiteren Schritt auf. „Hast du das gesehen?“ Er nimmt ihr Gesicht in die Hände, seine Augen blitzen vor Stolz. Sie nickt und fragt sich, wie das eigentlich geht, dass die Augen so aussehen können, so voller Gefühl. Es sind doch am Ende nur gefärbte Fitzelchen, die ein schwarzes Loch umklammern. Sie lässt ihn langsam zu Boden gleiten und streicht ihm über die Stirn. „Hast du gesehen?“ fragt er noch einmal. Sie nickt und nimmt seine Hand. Den Kleinen greift sie mit der anderen und wuchtet ihn auf ihre Hüfte. Er ist schon so schwer, aber wenn sie ihn trägt, muss sie nicht darauf achten, wo er gerade hinläuft. Wenn sie ihm zuschaut muss sie manchmal an einen schlecht programmierten Roboter denken, der hin und her irrt, Dinge aufhebt, wieder hinwirft, immer auf der Suche nach der Logik in seinem Programm.
„Wohin gehen wir eigentlich, Mama?“ Der Große fragt ohne Argwohn in der Stimme. Eine reine Neugierde, an die sie sich gern erinnern würde, aber sie weiß nicht, ob sie sich je so gefühlt hat. „Einfach ein bisschen die Straße entlang“, antwortet sie schließlich. Sie weiß, er würde nicht lockerlassen, wenn sie schweigt. Das hat er noch nie akzeptiert. Deshalb hat sie sich angewöhnt das zu sagen, was nach den vielen Filtern, die sie für ihn zwischen ihre Gedanken und ihre Worte legt, noch übrigbleibt. Wir gehen einfach ein bisschen die Straße entlang, weil es nichts gibt, wohin wir gehen können, weil es kein Versteck gibt.
„Warum können Menschen eigentlich nicht fliegen?“
„Weil wir keine Vögel sind.“ Sie weiß, das ist nicht genug als Antwort. Sie will anheben und etwas über Gewicht und Röhrenknochen sagen, über das Verhältnis von Spannweite und Körpergröße. Aber es gelingt ihr nicht so recht, die Gedanken so zusammenzufügen, dass sie sie aussprechen mag.
„Du fliegst, die ganze Zeit“, hört sie sich schließlich sagen. „Wir alle fliegen im Weltall.“ Auf dieser winzigen Kugel von der es kein Entkommen gibt.
„Cool!“ brüllt er und streckt seine Faust in die Luft. „Wie Superman! Wir sind alle Superman!“ Dann macht er sich los von ihrer Hand und klettert auf das Mäuerchen neben ihnen. „Fängst du mich auf der anderen Seite auf?“
„Ja“, sagt sie. „Natürlich.“ Sie blickt hinauf in den Himmel. In dieses makellose Blau.
Marie Isabel, Dunfermline
Eigentlich sollte ich heute mit meiner Schwester in Deutschland ihren Geburtstag feiern. Beim Aufstehen merke ich, wie traurig ich bin, nicht bei ihr zu sein. Um ihr dennoch gut gelaunt gratulieren zu können, schicke ich erst einmal Nachrichten in alle Himmelsrichtung mit der Frage danach, wie es Freund:innen geht. Von der Mehrheit positive Rückmeldungen. Ein oder zwei bedenkliche Nachrichten. Ich halte die Daumen, versuche aus der Ferne da zu sein. So, wie frau es bei mir gemacht hat, als es mir schlecht ging. Wer es nicht selbst erlebt hat, ahnt vielleicht nicht, wie wichtig selbst kleinste Gesten der Zuneigung in schweren Zeiten sind. Wie nachhaltig sie wirken.
Deutschlandfunk Kultur berichtet über den PEN-Aufruf, der sich gegen die Verwendung des Begriffs ‘soziale Distanz’ und für Alternativen wie ‘körperlicher Abstand’ ausspricht. Berechtigt. Denke über ein positiveres Covid-19 Vokabular nach. ‘Solidarischer Abstand’ finde ich gut. Statt ‘Ausgehverbot’ fällt mir nur ‘Daheimbleiberlaubnis’ ein – zu nah am Euphemismus, oder? ‘Massenansammlungen’ sind ja eigentlich ‘Zusammenkünfte Vieler’. Von diesem Punkt aus weiterdenken, bitte.
Auf meinem Nachmittagsspaziergang laufe ich anarchisch quer über den Golfplatz in unserer Nähe (Schottland hat gefühlt an jeder Ecke einen). Bislang habe ich mich fast immer nur brav am Rand herumgedrückt, nun fülle ich die weißen Flecken meiner mentalen Landkarte mit Farbe. Mir begegnen Bäume, Eltern, Kinder, Hundebesitzer, Vierbeiner, Vögel – 16 Elstern auf einen Schlag (ist das ein gutes Omen?). Die Geistergolfspieler stets unter uns, das Klackern der Bälle herrlich abwesend, ein Abenteuerpark, der darauf wartet, dass die Natur ihn zurückerobert. Irgendwie fühlt sich dieser leere Golfplatz wie die perfekte Metapher für den gegenwärtigen Zustand der Welt an, ich weiß nur noch nicht genau, warum.
Viktor, Frankfurt
Noch keine Gedanken dazu:
US-Pflegekräfte aus Krankenhäusern berichten aus ihren Corona-Erfahrungen und verschaffen damit einen Einblick in ein System, das sonst unsichtbar bleibt.
https://www.nytimes.com/2020/03/25/business/media/coronavirus-nurses-stories-anonymous.html
Wenn ich nicht in der Redaktion bin, versuche ich, mich nur ein-, zweimal am Tag gründlich zu informieren. Sonst werde ich zu unruhig und kann mich anderen Dingen nur schlecht widmen. Die digitale Nachrichtenwelt lässt einen nicht in Ruhe, wenn wir uns ihr nicht selbst entziehen. Dabei entwickelt sich alles, selbst bei Corona, nicht so schnell, wie die immer auf Klicks bedachten News-Sites es suggerieren.
Slata, München
Drachensteigen macht man im Herbst, brummt Emil, Ihr könnt das selber machen, aber dann, in den Feldern, findet er es toll und will die Führung übernehmen. Der Wind ist so stark, dass der Drache reißt, immer wieder kopfüber ins Gras fällt, wir falten ihn zusammen, wickeln die Schnur auf, tasten uns zurück, nach Hause.
Fabian, München
Eine, man lässt sich, heute Büro, dann Mittagessen und ein wenig, zwei, Sport, später Netflix und später den Freunden in und aus Österreich beim Spielen zuhören, drei, getoastetes Brot, Steam ist offenbar überlastet, eine Weile lang nur das Klicken der Schalter der mechanischen Tastaturen, vermutlich braune, vier, Switches, oder auch nicht, was weiß man schon, so genau hört man nicht, stattdessen eine Runde Starcraft, eine Mission einer Kampagne, die er selbst nach zwanzig Jahren Spielerfahrung, fünf, noch nicht zu Ende gespielt hat, ein wenig Sport, als hätte man sonst nichts zu tun, man hat ja sonst nichts zu tun, wenn ich das Büro heute mal nicht mehr ins Zimmer lasse, sechs Serien, mehr zur Gewährleistung zuverlässigen, allerdings, Hintergrundrauschens zur Grundierung der Nicht-gerade-Langeweile, aber eines, acht, nicht gerade Angekommenseins in den neuen Umständen, läuft die etwas, aber immerhin auf sympathische Weise alberne ORF-Netflix-Co-Produktion, neun, „Freud“, zehn, und gut, eine 610Serie Liegestütze zu guter Letzt, oder zumindest heute.
Simon, Vorort von Freiburg
Diese Wohnung hier fühlt sich an wie eine sichere Burg, solang ich nicht raus muss, erscheint alles einigermaßen ruhig. Doch in ruhigen Momenten kriecht doch eine Unruhe die Beine herauf, manchmal fällt einen die Absurdität der Situation hinterrücks an und schleicht sich dann den Rücken hinauf, fällt dann wieder ab und kauert knapp über dem Boden. Wartet dort.
Gleichzeitig spüre ich wie eine seltsame Gewöhnung eintritt, die mich auch wiederum beunruhigt. Ich meine, diese Gewöhnung auch in der Berichterstattung zu spüren. Der Deutschlandfunk hat einen neuen Podcast unter dem Titel Alltag einer Pandemie. Es hat keine zwei Wochen gedauert bis wir die Situation teilweise zum Alltag erklärt haben und jeden Abend beim Kochen höre ich die täglichen Berichte aus verschiedenen Regionen des Landes. Auch die Fallzahlen scheinen nachlässiger veröffentlicht zu werden oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich die Seiten des RKI, der John Hopkins University und der Badischen Zeitung nicht mehr im regelmäßigen Rhythmus von 15 Minuten neu lade. Diese vermeintliche Ruhe fühlt sich trügerisch an, als wüssten wir noch gar nicht, was da auf uns zukommt und als glaubten wir auch noch immer, dass das Schlimmste vielleicht doch an uns vorbeiziehen würde. Auch meine ich in meinem Umfeld eine Beruhigung festzustellen, die Gespräche in Chats und in den Skype-, Facetime- und Zoomanrufen drehen sich nicht mehr ausschließlich um Corona.
Die warme Frühlingssonne dieser Tage macht das alles noch surrealer. Wenn man spazieren geht, über die Felder und die letzten Wochen vergessen würde, nichts würde darauf hindeuten, dass gerade Chaos herrscht.
Emily, Rostock
Es gibt eigentlich nur noch zwei Handlungsorte: meine Wohnung und den Hafen, der am Ende der Parallelstraße beginnt. Solange ich mich nicht aufraffen kann, den Schlauch meines Fahrrads zu reparieren, ist mein Radius furchtbar beschränkt. Heute der erste Tag, an dem ich hinterfrage, wozu es gut ist, aufzustehen und mir die Haare zu waschen. Die meisten meiner Freunde verbringen die Quarantäne mit ihren Partnerinnen und ich versuche eine halbe Stunde lang, die Katze der Nachbarn auf meinen Balkon zu locken. Aus der Ferne die Nachricht „Be my Quarantine“, auf die ich keine Antwort weiß. Alle Arbeitskontakte, die mich anrufen, haben ihre Nummer unterdrückt, weil sie so ein kleinwenig Kontrolle behalten. Ich denke, es wird Zeit, die Schrauben an meinem Wasserhahn nachzuziehen und die Schublade meines Kleiderschranks zu reparieren. In anderen Städten wird abends um 19 oder 21 Uhr applaudieren. In meinem Hinterhof beginnt ein Blockflötensolo und dann singen sie gemeinschaftlich „Der Mond ist aufgegangen“. Weil es noch immer hell ist, kann ich sie dabei beobachten.
26. März
Jan, Hannover
Der Beginn der räumlichen Distanzierung ging zunächst einher mit neuen (oder eben gar nicht so neuen, aber bisher von uns nur selten genutzten) Formen der Online-Gemeinsamkeit: Der abendliche Sun-Downer mit Freund*innen aus drei Städten auf Skype oder im WhatsApp-Videochat. Gemeinsam kochen und essen mit den Nachbarn in Facetime. (Die Online-Bandprobe meiner Frau mit ihrem Gitarristen scheiterte allerdings, zu viel Zeitversatz.) Ersatz-Gemeinschaft im Display.
In Woche 1 der Sozialen Distanz habe ich mehr Zeit mit Facetime verbracht als vorher in drei Jahren zusammengenommen. Man lässt sich lustige Sachen für die Bildgestaltung einfallen, schiebt ein niedliches Stofftier vor die Kamera oder wählt eine expressionistische Kameraperspektive und Lichtsituation. Ich habe mir sogar eine Smartphone-Halterung für meine Kamerastative bestellt, um keine abenteuerlichen Konstruktionen mehr bauen zu müssen, wenn man beim Videochat beide Hände freihaben möchte.
Aber jetzt beobachte ich eine gewisse Videomüdigkeit bei mir, cam chat fatigue. Das aufgekratzte Durcheinanderkrähen, das aus dem zu kleinen Smartphone-Lautsprecher plärrt, und die leicht überdrehte Euphorie beim virtuellen Anstoßen empfinde ich zunehmend als anstrengend, ich beobachte mich dabei, wie sich mein Gesicht in eine Kulisse verwandelt. Ich grinse unentwegt in die Kamera, obwohl ich eigentlich nur müde bin, und kontrolliere ständig das Bild, das wir von uns machen, im Minifenster oben links. Und die unaufhörlichen, unausweichlichen Corinna-Witzchen strengen mich an, obwohl ich natürlich unentwegt selbst welche rausfeuere, gute wie nicht so gute, ich kann gar nicht anders. Das ist noch zwanghafter als Händewaschen. Lachen soll ja bekanntlich die beste Medizin sein, aber es kann auch eine verdammt bittere Medizin sein.
Mittlerweile hat die Häufigkeit der Online-Zusammenkünfte wieder abgenommen, und ich habe nicht den Eindruck, dass es nur an mir liegt. Es ist schön, sich zu sehen. Aber manchmal macht einem der schwarze Rahmen des iPhone-Gehäuses, der die Gesichter der anderen einhegt, die herrschende Distanz nur noch schmerzlicher bewusst.
Nefeli, Hamburg/Berlin
Vor zwei Tagen hat mich S. mit dem Auto aus Hamburg abgeholt und nach Berlin verfrachtet. So sind wir eben zu zweit in Quarantäne und ich bin nicht allein meiner Misere ausgesetzt. Seine Wohnung ist größer, aber mein Traum, alle Nachbar:innen um 21 Uhr dazu zu bringen, “Someone like you” von Adele zu singen, ist hier bei all den älteren Menschen nicht möglich. Auf der Autobahn wurde S. geblitzt und kurz darauf sahen wir eine Sternschnuppe, die senkrecht ins Nichts fiel. Als käme mir das Leben, die Welt und mein Sein nicht schon komisch genug vor. Und dann schämte ich mich, weil ich mir nichts Sinnstiftendes wünschte, sondern nur etwas Privates. S. hat mir später das Handyspiel “Drop the Number” gezeigt, ich habe es innerhalb von zwei Tagen des intensiven Spielens schon geschafft, 44.738 Punkte zu erzielen, was wirklich gut ist, aber vielleicht sollte ich mein Selbstbewusstsein nicht aus einem Handyspiel ziehen. Und so ein wirklicher Trost ist es auch nicht, wenn ich die 16 auf die 32 ziehe und dann die nächste 16 kommt und dann ploppt es und ich denk mir “geil”. Ich hab wenig Struktur, jetzt noch weniger als Pre-Corona. Da tut es gut, S. um sich zu haben, der eine feste Abendroutine hat, der auch viel rausmöchte. Ich würde ja ansonsten wirklich nur drinbleiben. Mich macht Sonne nicht glücklicher. Sie ist einfach da, das ist okay. Heute Abend gibt es Fisch, ich muss daran denken, meine Mutter anzurufen. Und ich will mich auch bei meinen Freund:innen melden, die alle allein in ihren Wohnungen sitzen. Und Mails schreiben. Und Abrechnung machen. Den nicht ausgetrunkenen Tee von gestern trinken. Aufpassen, mich nicht zu betrinken. Nicht auf YouTube versacken. Jetzt wäre die Zeit zum Lesen da aber ich bin so unkonzentriert. Und jammern bringt auch so furchtbar wenig, es ergeht ja zu vielen so.
Matthias, Jena
Vermutlich geht es mir nicht anders als den meisten, aber der tägliche Blick auf die Fallzahlen und dann der Klick zum Desktop-Taschenrechner, um die Steigerungsrate zu gestern auszurechnen, ist ein Ritual geworden. Meine Lieblingsmedizinerin findet, die Zahlen sähen gar nicht so schlecht aus, insbesondere die sehr geringe Sterberate in Deutschland findet sie beeindruckend. An ihrer Klinik werden inzwischen alle stationären Aufnahmen routinemäßig getestet. Von Twitter aus gesehen kann man hingegen meinen, dass gerade ein abgewirtschaftetes Gesundheitssystem unter der Seuche zusammenbricht und die Eingriffe in die Freiheit der Bevölkerung zugleich den Weg in einen totalitären Post-Covid-Staat bahnen. Je länger der ganze Zustand dauert, desto allergischer werde ich gegen eine bestimmte Sorte politischer Hottakes. Ich muss darauf achten, in dieses Tagebuch nicht immer nur dieselben Beschwerden darüber hineinzuschreiben.
Mein Arbeitsalltag ist so normal, dass es mir fast Angst macht. Dabei ist nichts von dem, was ich tue, irgendwie »systemrelevant«. Ich rechne damit, dass ich in spätestens 2–3 Wochen mit mehr oder minder sanftem Zwang dazu herangezogen werde, irgendwelche Verwaltungsaufgaben in Testlabors oder beim Gesundheitsamt zu machen.
Wir haben die Sorge wochenlang weggeschoben, aber langsam beschäftigt auch uns die Frage, was wir tun, wenn unser Toilettenpapier alle wird. Die Regale scheinen wirklich nachhaltig leergefegt. Als braver Jenaer Bürger habe ich bei einem größeren Anfall von Online-Shopping heute auch schön beim lokalen Einzelhandel bestellt, zwar nur zwei Instrumentenkabel, aber immerhin.